Aus dem Neue Wege-Gespräch 9.21 zum Thema «Opfer» bleiben Aussagen im Gedächtnis hängen. Beispielsweise die Erfahrungen von Uschi Waser, die als jenisches Kind Opfer von Zwangsmassnahmen wurde und heute sagt: «Diese Geschichte lasse ich nicht auf mir sitzen.» Sie hat sich entschieden, über das erfahrene Unrecht zu sprechen. Oder Doro Winkler, die bei der Fachstelle FIZ in der Bekämpfung von Frauenhandel arbeitet. Menschenhandel ist für sie «nicht das Problem einer einzelnen nigerianischen Frau, die in die Schweiz gebracht wurde», sondern nur im Zusammenhang mit struktureller Gewalt verstehbar. Auch Dominique Joris, Jurist und international engagiert im Kampf gegen schwerste Verbrechen wie Folter, stützt diese Aussage. Sie alle wehren sich gegen das klischierte Bild des Opfers, das passiv und ohnmächtig erträgt. Die Expert*innen erleben den Begriff «Opfer» daher als ambivalent: Einerseits nötig und hilfreich, andererseits einengend und festschreibend.
Das Christentum hat den Opferbegriff nicht unwesentlich geprägt und ihn theologisch aufgeladen. Dass in der Deutung von Jesu Tod als Opfertod «für unsere Sünden» so einige folgenreiche Missverständnisse liegen, zeigen die Theolog*innen Silke Petersen und Norbert Reck. Es gibt gute Gründe, diesen Tod vielmehr im Kontext des damaligen Herrschaftssystems des Römischen Reiches und vor dem Hintergrund des jüdischen Pessachfestes als dem Fest der Freiheit zu verstehen.
Die Philosophin Deborah Mühlebach lädt ein, über Sprachgebrauch nachzudenken. Wie kann Sprache gewaltvoll sein? Gibt es Opfer sprachlicher Gewalt? Auch sie betont die Mechanismen, die hinter den einzelnen Äusserungen stehen und richtet den Blick auf Machtverhältnisse, die das Sprechen rahmen – und beeinflussen.
Es ist eine der wenigen Heftausgaben, wo unser Farbkonzept – Graustufen und jeweils eine Gestaltungsfarbe – sich als ein kleiner Mangel erweist. Aber auch ohne die vielen Farbtöne wirken die textilen Kunstwerke, die Quilts oder Arpilleras. Sie sind Teil einer internationalen Sammlung unter dem Titel Conflict Textiles und zeigen Motive der Erinnerung und des Widerstands rund um Menschenrechtsverletzungen und Krieg.
Diese Ausgabe der Neuen Wege erscheint mit den Erwägungen, dem Journal der Theologischen Bewegung für Solidarität und Befreiung. Die Erwägungen stellen das Institut für Theologie und Politik in Münster (ITP) vor. Zwei Mitarbeitende des ITP, Julia Lis und Michael Ramminger, werden mit einem Vortrag und anschliessender Diskussion die Jahresversammlungen von Neue Wege, Theologischer Bewegung und Religiös-Sozialistischer Vereinigung am 11. September bereichern.
Inhalt
Opfer. Ohnmacht. Widerstand
Norbert Reck
Opfer wollen in ihrer Vielfalt und Stärke anerkannt werden
Neue Wege-Gespräch von Matthias Hui und Geneva Moser mit Dominique Joris, Uschi Waser und Doro Winkler
Opfertheologie im Neuen Testament?
Silke Petersen
Opfer sprachlicher Gewalt?
Deborah Mühlebach
Anstoss: 700 / 20 / 10 + 30
Monika Stocker
In eigener Sache: Ein Journalist mit einer Mission
Kurt Seifert und Geneva Moser
Lesen: Gott in der Klimakrise
Anja Kruysse
Lesen: Wie die globale Armut zu bekämpfen ist
Werner Kallenberger
Gefühlsduselei: Tibhirine erinnern
Geneva Moser
Nadelöhr: Was kommt nach der FDP-Schweiz?
Matthias Hui
Beilage:
Erwägungen
Befreiungstheologie: das Feuer weitertragen
Journal 2/2021 der Theologischen Bewegung für Solidarität und Befreiung