Als 1973 die niederländische Bewegung Christen für den Sozialismus gegründet wurde, war klar: Wir sollten Karl Barth lesen. Der Christ in der Gesellschaft, 1919 auf einer Tagung von linken ChristInnen im Thüringer Tambach gehalten, wurde der Basistext unserer Bewegung. Wir wussten zwar: Irgendwie hat Sozialismus mit Theologie zu tun. Aber die «Tambacher Rede» machte uns klar, weshalb und inwiefern der Christ in der Gesellschaft Sozialist, die Christin Sozialistin sein konnte, nein: musste.
Barth beginnt seinen Vortrag überraschend: Der Christ in der Gesellschaft ist nicht der Christ, sondern der Christus. Nicht ohne Ironie setzt er voraus, dass auch die Organisatoren es so gemeint haben: «Der Christ –wir sind wohl einig darin, dass damit nicht die Christen gemeint sein können: weder die Masse der Getauften, noch etwa das erwählte Häuflein der Religiös-Sozialen, noch auch die feinste Auslese der edelsten frommsten Christen, an die wir sonst denken mögen. Der Christ ist der Christus. Der Christ ist das in uns, was wir nicht sind, sondern Christus in uns.» Barth rief uns linke ChristInnen mit dieser Verschiebung zur Ordnung – zur Ordnung der Theologie, in der nicht wir vorangehen, sondern Christus. Es geht nicht zuerst um unsere Bewegungen, sondern um die Bewegung von Gott-in-Christus. Gott-in-Christus ist das Subjekt, das uns bewegt. Wir sind bestenfalls die, die uns durch diesen Gott bewegen lassen: «Um Gott handelt es sich, um die Bewegung von Gott her, um unser Bewegtsein durch ihn, nicht um Religion [um unsere Gläubigkeit]. Dein Name werde geheiligt! Dein Reich komme! Dein Wille geschehe!»
Christus in der Gesellschaft, das heisst zuerst: Christus und die Gesellschaft, und die beiden Grössen sind nicht kompatibel. Christus in der Gesellschaft ist das «ganz Andere», das die Gesellschaft an sich nicht ist. Wären wir in der Gesellschaft auf uns selber angewiesen, dann könnten wir nur die Abwesenheit Christi feststellen. Aber wir können dabei nicht stehen bleiben. «Der Christ in der Gesellschaft», das ist kein Ideal über der Gesellschaft, das die Gesellschaft ihrer eigenen deprimierenden Gesetzmässigkeit überlässt. Es geht um Bewegung! Um Gott! Sein Wille geschehe, wie im Himmel, so auf Erden: «Christus ist das unbedingt Neue von oben, der Weg, die Wahrheit und das Leben Gottes unter den Menschen.»
Es bleibt dabei: Wir sind diese Bewegung nicht. Aber wir sind wohl dazu berufen, dieser Bewegung zu folgen. Gerufen zur Opposition gegen alles, was beansprucht, «an sich» wertvoll, unantastbar, von Gott gewollt zu sein: die Autorität, die Familie («der gefrässige Götze des bisherigen Bürgertums»), die Kunst, die Arbeit (die die SpartakistInnen, die späteren KommunistInnen, in den Augen von Karl Barth zurecht als allein seligmachend bekämpfen) und die Religion («diese Todesmacht»). Autorität, Familie, Religion, es sind wohl nicht zufällig die «heiligen Häuschen» der etablierten Kirche, die Barth hier nennt.
Zu folgen! Was uns zu tun geboten ist, ist nicht, das Gottesreich aufzurichten: «Das letzte Wort heisst Reich Gottes, Schöpfung, Erlösung, Vollendung der Welt durch Gott und in Gott.» In dieser Dreieinheit von Schöpfung, Erlösung, Vollendung bewegen wir uns, im Raum, den Gott-in-Christus für uns öffnet.
Der Christ in der Gesellschaft hat die Struktur einer Befreiungsbewegung. Wir gehen von der Schöpfung über die Erlösung auf die Vollendung zu. Barth verdeutlicht diese Struktur sowohl theologisch als auch philosophisch. Theologisch, indem er die altprotestantische Lehre der drei regna (Reiche) Christi benützt: regnum naturae (Schöpfung), regnum gratiae (Erlösung) und regnum gloriae (Vollendung). Philosophisch mit Hilfe des Dreischlages von Hegel: Synthese – These – Antithese – Synthese. Die Synthese kommt von Gott, der das erste («Am Anfang schuf Gott») und das letzte Wort (das Reich Gottes) hat, die These ist die Schöpfung, die Antithese der Protest gegen die von der Schöpfung entfremdete Welt. Das klingt reichlich abstrakt, aber Barth konkretisiert. So im Bezug auf die Schöpfung: «Denn, indem wir uns in Gott [den Schöpfer] finden, finden wir uns auch in die Aufgabe, ihn in der Welt, wie sie ist, und nicht in einer falsch transzendenten Traumwelt zu bejahen. […] Wir bejahen das Leben. Auch das regnum naturae, in deren Rahmen sich alles Denken, Reden und Handeln jetzt abspielt, kann ja immer regnum Dei sein oder werden […]. Das ist gründliche und grundlegende biblische Lebenserkenntnis.» So weit die These.
Aber, so fährt Bart fort, «von dieser Seite der Lebenserkenntnis werden wir lieber mit der Bibel leise als mit dem klassischen Altertum und dem deutschen Idealismus laut oder gar überlaut reden». «Die Tränen sind uns näher als das Lächeln. Wir stehen tiefer im Nein als im Ja, tiefer in der Kritik und im Protest, […] tiefer in der Sehnsucht nach dem Zukünftigen als in der Beteiligung an der Gegenwart. Wir können den Schöpfer der ursprünglichen Welt nicht anders ehren, als indem wir schreien nach dem Erlöser der jetzigen Welt. […] So wendet sich das Reich Gottes zum Angriff auf die Gesellschaft.» Jetzt ist Protest angesagt, vor allem: «Protest, […] den der Sozialismus mit zusammenfassender Wut gegen den ganzen geistigen und materiellen Bestand der Gesellschaft richtet». Diesem Protest müssen wir uns anschliessen. Dann erst zeigt sich, ob wir verstanden haben, was das Folgen der Bewegung des Gottesreiches praktisch bedeutet: «Haben wir verstanden, was wir verstanden haben? Dass eine Neuorientierung an Gott dem Ganzen unseres Lebens gegenüber, nicht nur ein in die Opposition Treten in einigen oder vielen Einzelheiten heute die Forderung des Tages ist?» Und dann wird Barth sehr konkret: «Dass wir diese Wendung im ganzen dann aber auch erwahren und bewähren müssen in einer kritischen Offenheit […] heute wohl ganz besonders in einer weitherzigen, umsichtigen und charaktervollen Haltung gegenüber, nein, nicht als unverantwortliche Kritiker und Zuschauer gegenüber, sondern als mithoffende und mitschuldige Genossen innerhalb der Sozialdemokratie, in der unserer Zeit nun einmal das Problem der Opposition gegen das Bestehende gestellt, das Gleichnis des Gottesreiches gegeben ist und an der es sich erweisen muss, ob wir dieses Problem in seiner absoluten und relativen Bedeutung verstanden haben.» Der Christ in der Gesellschaft ist ein Christ für den Sozialismus.
Aber das letzte Wort hat Gott. Der Sozialismus ist ein Gleichnis des Gottesreiches. Er weist hin auf das «ganz Andere», was wir erwarten: «Das andere, da wir mit unserm Denken, Reden und Tun in Gleichnissen meinen, das andere, nach dessen Erscheinung wir uns, der Gleichnisse müde, sehnen, es ist nicht etwas anderes, sondern es ist das ganz andere des Reiches, das das Reich Gottes ist.» Was uns ChristInnen dazu bewegt, es in dieser verkehrten Welt auszuhalten, SozialistInnen zu werden und zu bleiben, ist, was wir uns nicht ausgedacht haben, sondern was uns zugedacht ist. Dass Gott Anfang und Ende aller Weisheit ist, können wir nur glauben und bekennen: «Wir glauben also darum an einen Sinn, der den einmal gewordenen Verhältnissen innewohnt, aber auch an Evolution und Revolution, an Reform und Erneuerung der Verhältnisse, an die Möglichkeit von Genossenschaft und Bruderschaft auf der Erde und unter dem Himmel, weil wir noch ganz anderer Dinge warten, nämlich eines neuen Himmels und einer neuen Erde.»
Am Schluss seines Vortrages fragt Karl Barth noch einmal: «Was sollen wir denn nun tun?» – eine Frage, die er übrigens im Vorgehenden durchaus beantwortet hat: SozialistIn werden. Aber die Antwort war das nicht. Die kann Barth nur geben in Form einer Frage: «[W]as kann der Christ in der Gesellschaft anderes tun, als dem Tun Gottes aufmerksam folgen?»
Der Christ in der Gesellschaft wurde unser Basistext. Er klärte uns darüber auf, was es für einen Christ, für eine Christin bedeutete und nicht bedeutete, für den Sozialismus zu sein. Es bedeutete, dass der Sozialismus als der Protest «mit zusammenfassender Wucht gegen den ganzen geistigen und materiellen Bestand der Gesellschaft» das Gleichnis schlechthin des Gottesreiches war, und dass wir als mithoffende und mitschuldige GenossInnen innerhalb der (damals noch sozialistischen) Sozialdemokratie beweisen sollten, das auch verstanden zu haben.
Was uns darin ansprach, war,
○ dass die Entscheidung für den Sozialismus eine Implikation der Bewegung Gottes war, nicht diese Bewegung selber (Gleichnis!);
○ dass wir an der sozialistischen Bewegung teilnehmen sollten als «mithoffende und mitschuldige Genossen». Wir teilten nicht nur die Hoffnung auf eine bessere Welt, sondern wollten auch solidarisch sein mit der Schuld, den diese Bewegung im Laufe ihrer Geschichte auf sich geladen hat;
○ dass die Entscheidung für den Sozialismus keine Möglichkeit unter anderen war, als könnte ein Christ ebenso gut liberal oder christdemokratisch sein. Nur, indem er sich in der sozialistischen Bewegung engagiert, zeigt der Christ, dass er verstanden hat, was Christ in der Gesellschaft praktisch bedeutet.
Barth klärte aber darüber auf, was ein Christ für den Sozialismus zu sein nicht bedeuten darf. Es betrifft zwei Positionen, zu denen linke ChristInnen, so lehrt die Erfahrung, neigen.
Die erste Haltung ist, das Gottesreich in den Sozialismus aufzulösen, als ob die sozialistische Bewegung mit der Bewegung von Gott-in-Christus einfach identisch sei. Der Sozialismus begeistert uns so, dass wir vergessen, dass alle menschlichen Bewegungen menschlich, allzu menschlich sind und nie die Bewegung. Barth dazu: «Ja, Christus zum soundsovielten Mal zu säkularisieren, heute z.B. der Sozialdemokratie, dem Pazifismus, dem Wandervogel zu Liebe, wie ehemals den Vaterländern, dem Schweizertum und Deutschtum, dem Liberalismus der Gebildeten zu Liebe, das möchte uns allenfalls gelingen. Aber nicht wahr, da graut uns doch davor, wir möchten doch eben Christus nicht ein neues Mal verraten.»
Die zweite Position besteht darin, den Sozialismus «taufen» zu wollen, als ob der sozialistischen Bewegung ohne uns etwas fehlte, nur christlicher Sozialismus ein echter Sozialismus sein könnte. Das hat der Sozialismus nicht nötig. Barth nennt das «die Gesellschaft […] klerikalisieren». Er versteht darunter «den Versuch, der weltlichen Gesellschaft einen kirchlichen Überbau oder Anbau anzugliedern». Aber gerade dieser Versuch – «Lasst uns eine neue Kirche errichten mit demokratischen Allüren und sozialistischem Einschlag» – wäre der «gefährlichste[...] Verrat an der Gesellschaft. Denn die Gesellschaft wird um die Hilfe Gottes, die wir doch eigentlich meinen, betrogen, wenn wir es nun nicht ganz neu lernen wollen, auf Gott zu warten, sondern uns stattdessen aufs neue eifrig an den Bau unserer Kirchen und Kirchlein machen».
Dem Sozialismus ist nicht gedient mit MissionarInnen, sondern einzig und allein mit «mithoffenden und mitschuldigen Genossen». Ein Christ für den Sozialismus bekennt seinen Glauben im Raum der real existierenden Kirche – im Hinblick auf die Welt! – und engagiert sich in der real existierenden Arbeiterbewegung. Das war die «Sachlichkeit», die Barth uns lehrte.
Diese Einsichten galten für die Zeit, in der Barth Der Christ in der Gesellschaft schrieb und die die Bewegung Christen für den Sozialismus damals auch als «unsere Zeit» sah. Inzwischen ist diese Zeit vorerst vorbei. Den Sozialismus als Gleichnis des Gottesreiches gibt es nicht mehr. Was bleibt, sind die Reste einer einmal breiten Volksbewegung. Und hier und dort mehr oder weniger radikale Proteste gegen eine noch immer verkehrte Welt, die aber bisher relativ leicht von den Mächten dieser Welt eingeholt werden. Die einzige wirkliche Massenbewegung scheint die des Rechtspopulismus zu sein, mit einer Ideologie, die agiert gegen die Universalität der Menschenrechte, um die es dem Sozialismus zu tun war. Und immer drängender wird die Frage, ob wir noch die Zeit haben, das Klimaproblem zu lösen.
Was kann der Christ in der Gesellschaft anderes tun, als zu resignieren? Umso lebenswichtiger ist es dann, noch einmal gründlich zu uns dringen zu lassen, was Barth am Anfang seines Vortrages zu bedenken gibt: «Der Christ», das sind nicht wir, sondern das ist der Christus. Nicht unsere Bewegungen sind ausschlaggebend, es ist die Bewegung von Gott selber, die sich aus der Welt nicht verdrängen lässt: der Gekreuzigte ist auferstanden! Ja, wir sehen‚ die Gesellschaft, […] ein wenn auch innerlich brüchiges, so doch nach aussen in sich geschlossenes Ganzes für sich – ohne Fenster gegen das Himmelreich.» Und wir fragen: «Wo ist der Sinn in all dem Unsinn, der Ursprung in der Entartung, der Weizen unter all dem Unkraut? Wo ist Gott in all dem Menschlichen, allzu Menschlichen?» Aber das ist nicht das letzte Wort, so gut wie es das erste nicht war. Wo die Gesellschaft als ein geschlossenes Buch erscheint, muss umso kräftiger die «Bewegung von Gott her» bekannt werden. Wie Barth es tat, am Abend vor seinem Tod, in einem Telefongespräch mit seinem Freund Eduard Thurneysen: «Ja, die Welt ist dunkel. Nur ja die Ohren nicht hängen lassen! Nie! Denn es wird regiert, nicht nur in Moskau oder in Washington oder in Peking, aber ganz von oben, vom Himmel her. Gott sitzt im Regimente. Darum fürchte ich mich nicht. Bleiben wir doch zuversichtlich auch in dunkelsten Augenblicken! Lassen wir die Hoffnung nicht sinken, die Hoffnung für alle Menschen, für die ganze Völkerwelt! Gott lässt uns nicht fallen, keinen einzigen von uns und uns alle miteinander nicht! Es wird regiert!»
Das ist der Grund, warum linke ChristInnen immer noch Barth lesen sollten!
○ Publikationen von Dick Boer:
Ein ganz anderer Gott. Das Lebenswerk Karl Barths (1886–1968). Knesebeck 2007, 71 Seiten.
Erlösung aus der Sklaverei. Versuch einer biblischen Theologie im Dienst der Befreiung. Münster 2008.
Theopolitische Existenz – von gestern, für heute. Berlin 2017 (vgl. Neue Wege 11/2017, S. 30).
*1939, ist Theologe und war Dozent an der Universität von Amsterdam. 1984 bis 1990 war er Pfarrer der Niederländischen Ökumenischen Gemeinde in der DDR.