Dem Anspruch seines Titels wird der Sammelband gerecht. Inhaltlich steckt er einen weiten Horizont ab. Zur gegenwärtigen Lage der Befreiungstheologie versammelt er 25 Aufsätze höchst kompetenter AutorInnen insbesondere aus Lateinamerika sowie aus Deutschland und Österreich.
Wer bisher mit der Theologie der Befreiung kaum in Berührung kam, findet hier einen ausgezeichneten Einstieg, der sich nicht in einer Retrospektive erschöpft. Auf die Aktualität des methodischen Dreischritts Sehen – Urteilen – Handeln weisen verschiedene AutorInnen hin. Auf den ersten Schritt der analytischen «denuncia» von Herrschaftsverhältnissen folgt der zweite: die «anuncio», der hermeneutische biblische Blick auf die Realität als «noch nicht» und «schon jetzt» realisiertes Reich Gottes. Der Kreis schliesst sich mit dem dritten und grundlegenden Schritt, der alltäglichen und politischen Praxis. Auch der «Option für die Armen» wird die Referenz erwiesen. Verschiedene Aufsätze zeigen auf, wie insbesondere feministische und an indigenen Konzepten orientierte Befreiungstheologinnen diese ursprüngliche, klassenorientierte Option in ein inklusiveres Konzept der «Option für die Anderen» und der «Option für das Leben» überführt haben.
In ihren Anfängen, das dokumentiert dieser Band, trat die Befreiungstheologie mit einem universellen Anspruch an. Es ging um die grosse biblische Erzählung an sich, um die Aufnahme von und Konfrontation mit der kirchlichen (insbesondere katholischen) Lehre und Institution und letztlich auch um die Revolution – wie in Nicaragua 1979. Dass aber nicht die Welt zur Bühne der Befreiungstheologie wurde, sondern höchstens Lateinamerika, wird in diesem Sammelband nicht aufgearbeitet; es kommt ungewollt darin zum Ausdruck, dass nur ein einziger Beitrag – der senegalesischen Theologin Béatrice Faye – eine afrikanische Perspektive einnimmt. Asiatische und ausserchristliche Ansätze fehlen.
Dass die Befreiungstheologie der ersten Stunde von einer männlichen Partikularität geprägt und dem Postulat menschlicher Universalität nicht gewachsen war, zeigen Aufsätze von Yvone Gebara und Doris Huber eindrücklich auf. Neue feministisch-befreiungstheologische Weisen, Themenfelder wie Familie und Gemeinschaft, Gewalt, Körper und Land zu bearbeiten, führen Nancy Cardoso und Sandra Lassak vor. Erkenntnisgewinn und Lesegenuss sind beträchtlich.
Nach der befreiungstheologischen Gründergeneration meldeten sich vielfältige Ansätze zu Wort. Neben öko-feministischer Theologie waren dies queer- und vor allem indigene und postkoloniale Theorien. Die Ausdrucksformen und Sprachspiele vervielfältigten sich, weit über die europäisch geprägte akademische Theologie hinaus. Autorinnen wie Sofia Chipana Quispe betonen die Qualität der «reichen Differenz» von Subjekten und Spiritualitäten. Nur schon die Tatsache einer grossen Perspektivenvielfalt von Befreiung im Prozess der anhaltenden Dekolonisierung ist ihrer Meinung nach Widerstand gegen die globalisierte, universalistische Marktdominanz.