Im Nachhinein ist es schwer nachzuvollziehen, wie hartnäckig kirchliche Autoritäten und die etablierte Wissenschaft versuchten, die Stimme dieser Frau unhörbar zu machen. Sie scheiterten kläglich. Für das erste der von Dorothee Sölle mitinitiierten Politischen Nachtgebete im Jahr 1968 gab der Kardinal keinen Platz im Kölner Dom her. Sein evangelischer Kollege legte es dann auf 23 Uhr, um die Besucher*innen abzuschrecken. Trotzdem kamen tausend Menschen. Die Politischen Nachtgebete stellten etwas völlig Neues dar. Theologie sollte wieder relevant sein. Die Initiator*innen wollten in einer Sprache radikaler Weltlichkeit und gleichzeitig tiefer Spiritualität über das Wesen des Christentums sprechen, wie es einst Dietrich Bonhoeffer in einer Gefängniszelle der Nazis vorgedacht hatte.
Dorothee Sölle formulierte mutig die Grammatik der Christologie von unten her. Sie sorgte für Empörung bei den Bewahrer*innen der traditionellen Gottesrede, als sie erklärte, dass die Gottheit der Zivilreligion nach Auschwitz tot sei. Politische Information und kritische Analyse verbanden sich mit biblischer Reflexion und sozialer Aktion. Eine Befreiungstheologie im Kontext der sogenannten «Ersten Welt» war im Entstehen. Die Kirche wurde zu einem Ort, wo zur Sprache kam, was wirklich zählte, und die alten Worte auf einmal neu an Sinn gewannen.
Es war diese Begeisterung für das Aufeinandertreffen von Kirche und Welt in einem Kairos wechselseitiger Transformation, die mich im «Prager Frühling» von 1968 zum Theologiestudium führte – in der DDR eine missbilligte, aber immerhin geduldete Option in den Grauzonen des ideologischen Staatskonsenses. Veränderung lag in der Luft, demokratischer Sozialismus schien zum Greifen nahe. Allerdings musste ich bald lernen, dass es in der «richtigen» Theologie deutscher Couleur um ganz und gar andere Dinge zu gehen hatte. Rebell*innen und Radikale wie Dorothee Sölle oder ihre Freundin und Mitstreiterin Luise Schottroff, die die Reinheit und Objektivität theologischer Wissenschaftlichkeit mit Feminismus, Friedenskampf und sozialer Gerechtigkeit kontaminierten, wurden im vorwiegend männlichen Diskurs der akademischen Zunft totgeschwiegen und ausgegrenzt. Die Einbettung von Sünde in gesellschaftlichen Strukturen, der Krieg in Vietnam, Militärdiktaturen in Lateinamerika, Marschflugkörper, die auf europäische Städte zielten, oder die unsichere Lagerung radioaktiver Abfälle in der deutschen Provinz – dies alles waren Fragen, die in einem theologischen Lehrplan keinen Platz hatten.
Was ihr in Deutschland verwehrt blieb, fand Dorothee Sölle schliesslich in New York am traditionsreichen Union Theological Seminary: ein universitärer Raum, in dem «andere» Theologie gefragt war. Von 1975 bis 1987 lehrte sie als Professorin für Systematische Theologie an der Fakultät, der einst Paul Tillich angehört und die Dietrich Bonhoeffer geprägt hatte und wo genau zu dieser Zeit James Cone der schwarzen Befreiungstheologie der USA Namen und Sprache gab. Sie war hier zu Hause. Sie unterrichtete, sie schrieb, sie engagierte sich, niemals halb. Unglaublich produktiv als Autorin und mitreissend in ihren Vorträgen, sprach sie Menschen auf der ganzen Welt an und berührte die Herzen und Köpfe vieler, die die traditionelle Theologie nie erreichte.
Das letzte Mal bin ich ihr begegnet, als sie um das Jahr 2000 das Union Theological Seminary noch einmal besuchte. Ihr Vortrag zu Sklaverei und Freiheit in der James Chapel war gut besucht und löste, wie üblich an dieser Schule, streitbare Diskussionen aus. Später am Abend taten wir das, was sie am liebsten tat: Wir sassen in unserem Wohnzimmer in der altehrwürdigen McGiffert Hall zusammen und tranken Rotwein bis in die Nacht. Sie sprach leidenschaftlich über Politik und Frömmigkeit, Leben und Tod. Sie erklärte uns die Masche mit dem «Shareholder Value», die sie sehr empörte. Und sie fragte sich, ob die Kirche nicht die mächtigste NGO der Welt werden könnte ... Zum Abschied gab sie mir noch ein paar Bücher von «On Earth as in Heaven: A Liberation Spirituality of Sharing» zum Verteilen unter den Studierenden und eine lateinamerikanische Stola, die ich seither trage.
Dorothee war eine Mystikerin, eine Dichterin, eine Prophetin und eine charismatische Kämpferin. Als sie am 27. April 2003 unerwartet starb, war sie 73 Jahre alt, ganz und gar lebendig und hatte gerade einen Vortrag über Gott, Dunkelheit und Glück gehalten.●