Die Erfahrung, zum Opfer zu werden, kann sich niemand ernsthaft wünschen: die ausweglose, radikale Ohnmacht, in der Gewalt nur noch erlitten, aber nicht mehr pariert werden kann. Ich denke zum Beispiel an missbrauchte Kinder, die in ihrer Lage wehrlos und völlig allein sind. Umso verstörender ist es, dass die Selbstbezeichnung als Opfer heute eine merkwürdige Konjunktur erfährt, wenn sich etwa die Spitzen der rechtspopulistischen Parteien als Opfer von Ausgrenzung oder von Ungleichbehandlung durch die Medien inszenieren. Aber auch manche Mitglieder sozialer Bewegungen scheinen sich von der Selbstdarstellung als Opfer mehr Anerkennung zu versprechen.
Dagegen sind die Überlebenden der Verfolgungen und Konzentrationslager der Nazis sehr zurückhaltend mit der Verwendung des Opferbegriffs. Hanna Mandel zum Beispiel, eine Jüdin aus Ungarn, gebrauchte den Begriff nur, wenn sie den gesellschaftlichen Sprachgebrauch zitierte. Wenn sie aber von ihren Erfahrungen in Auschwitz sprach, kam es ihr darauf an, sich nicht als ohnmächtiges Opfer zu verstehen, sondern all die Akte der Solidarität und des Standhaltens im Lager nicht aus den Augen zu verlieren – so prekär sie gewesen sein mochten.1 Die Münchnerin Anna Holzmann war stolz darauf, dass sie sich bis zuletzt geweigert hatte, ihre Wohnung preiszugeben, welche die Nazis als «jüdischen Besitz» konfiszieren wollten: «Das Einzige, was mich freut», schrieb sie, «ist, dass keiner der Nazis mich erniedrigen konnte, dass keiner von ihnen gemerkt hat, wie ich innerlich gezittert habe. Das ist für mich die grösste Genugtuung.»2 Auch Imre Kertész, der ungarische Literaturnobelpreisträger, bestand darauf, dass Auschwitz nicht sein «Schicksal» war, dass er kein wehrloses Opfer war, sondern wie alle Menschen ein Recht haben musste, gekämpft zu haben und Sieger oder Verlierer zu sein.3
Das sahen die Überlebenden der NS-Verfolgung schärfer als viele andere: Zum Opfer gemacht zu werden bedeutet nicht zuletzt, der eigenen Würde beraubt zu werden. Deshalb verteidigten sie so hartnäckig ihre letzten Handlungsmöglichkeiten, mit denen sie den Nazis den Triumph streitig machten. Sie hatten doch gekämpft! Sie hatten einander Mut gemacht und Hilfe organisiert, wo es nur möglich war. Sie hatten Widerstand geleistet. Sooft sie hingegen als Opfer bezeichnet wurden, erlebten sie es so, als würden ihnen ihre persönlichen Geschichten und ihre Kämpfe um Würde geraubt.
Hier gibt es – ohne irgendetwas gleichzusetzen – eine interessante Parallele zur Geschichte des Jesus von Nazareth. Diese hat ja unsere europäische Kultur und unseren Opferbegriff tiefgreifend geprägt.
Jesus gehörte zu einer Bewegung, die nach Wegen suchte, wie man unter den Bedingungen der römischen Herrschaft menschenwürdig und gemäss der Tora – den göttlichen Geboten der Bibel – leben konnte. Breite Schichten der Bevölkerung litten unter drückenden Steuern, Verarmung, militärischer Gewalt und Hunger. Jesus und seine Leute versuchten, Solidarität und Verantwortung füreinander aufzubauen und das Reich Gottes nicht aus den Augen zu verlieren. In dieser Situation war alles politisch und religiös zugleich. Schon öffentlich Tora zu lehren roch nach Aufruhr. Als Jesus im Tempel von Jerusalem gegen das Geschäft mit Opfertieren protestierte (Mt 21,12.13), riskierte er viel. Das Imperium Romanum verfolgte mit unnachgiebiger Härte alle, die Unruhe stifteten. Und für solche, die des politischen Aufruhrs verdächtig waren, gab es eine besonders abschreckende Form der Hinrichtung: die Kreuzigung. Jesus war nicht der Erste und nicht der Letzte, dem dies widerfuhr. Er wurde verhaftet, abgeurteilt und hingerichtet.
Auf der Suche nach dem Sinn dieses entsetzlichen Geschehens begannen später einige Jesus-Gläubige, Jesus nicht mehr als Opfer der römischen Herrschaft (lateinisch: victima) zu sehen, sondern als sakrales Opfer (lateinisch: sacrificium), als Sühnopfer für die Sünden der Menschen. Wie die feministische Bibelwissenschaftlerin Elisabeth Schüssler Fiorenza festhält, haben die ältesten Jesusüberlieferungen das nicht vertreten: «Im Begriff Sühnopfer kommen nicht Gottesverständnis und Gotteserfahrung der Jesusbewegung zum Ausdruck, sondern er ist eine spätere kultische Interpretation des gewaltsamen Todes Jesu. ‹Der› Gott Jesu ist kein Gott, ‹der› Sühne verlangt oder ‹dessen› Zorn durch Menschenopfer oder Ritual besänftigt werden muss.»4 Aber mit der Zeit hat der Sühnopfer-Gedanke in der frühchristlichen Bewegung doch Wurzeln geschlagen. Aus dem Skandal der politischen Hinrichtung wurde ein Heilsereignis.
Das aber raubte Jesus alles, was er getan hatte und worum es ihm gegangen war. Er war ja gerade kein passiv-wehrloses Opfer, das keine Handlungsmöglichkeiten mehr sah – er hatte überall im Land gesprochen und gezeigt, wie ein Leben der gegenseitigen Unterstützung und des Widerstands gemäss der Tora aussehen könnte. Er wollte den Menschen nahebringen, dass man sich auch in der Besatzungszeit nicht in eine Opferrolle drängen lassen müsse, dass man im Bunde mit dem Gott Israels alles tun konnte, dass man Berge versetzen und übers Wasser gehen konnte, wenn man nur an sich und die Gerechtigkeit Gottes glaubte. Er hatte keine Konfrontation gescheut und sagte noch am Kreuz: «Es ist vollbracht» (Joh 19,30). Er war nicht gescheitert und hatte nicht vor der Macht kapituliert. Dagegen war die Interpretation seines Todes als Opfer, das die Welt erlöste, doch eine gewaltige Änderung der Vorzeichen, unter denen sein Leben betrachtet werden sollte.
Je mehr das Christentum zur Erlösungsreligion wurde, desto weniger dachten seine Anhänger*innen daran, einer Bewegung für Gerechtigkeit anzugehören. Sie verstanden sich eher als Teil einer Gemeinschaft, der es um das persönliche Seelenheil ging. In der Welt gab es nichts mehr zu tun; durch den Opfertod Jesu war schon alles vollbracht – und zwar «ein für allemal» (Hebr 7,27). Es ging nur noch um die kultische Erinnerung an das «Kreuzesopfer» und um das gehorsame «Kreuztragen» in der Nachfolge Christi. Letzteres bestand im Wesentlichen darin, sich in den Alltag zu fügen, die eigenen Leiden und Beschwernisse «wie Jesus» geduldig zu tragen und sie Gott «darzubringen», sich «aufzuopfern». Vor allem von Frauen wurde dieser Beweis der Frömmigkeit verlangt. Das von ihnen geforderte sacrificium machte viele wieder zur victima, zum Opfer jeglicher Art von Herrschaft. Das Leben der «Erlösten» konnte zur Hölle auf Erden werden – ohne noch eine Sprache des Protests dafür zu haben.
Natürlich geschah das nicht von heute auf morgen, aber am Ende der Entwicklung war die Theologie des Kreuzesopfers zu einem zentralen Bestandteil des Christentums geworden – in manchen Traditionen bis heute. So lautet beispielsweise im derzeit geltenden katholischen Messbuch eine Hochgebetseröffnung in der Osterzeit:
«In Wahrheit ist es würdig und recht, dir, Vater, in diesen Tagen freudig zu danken, da unser Osterlamm geopfert ist, Jesus Christus. Er bringt sich dir allzeit für uns dar und steht vor dir als unser Anwalt. Denn einmal geopfert, stirbt er nicht wieder, sondern lebt auf ewig als das Lamm, das geschlachtet ist.»
Die Erlösung liegt – in dieser Tradition – im Schlachten: Christus «lebt auf ewig als das Lamm»; er ist für alle Zeit der «Anwalt» der ohnmächtigen christlichen Gläubigen, der den Zorn Gottes besänftigt. Die Gläubigen müssen (und sollen!) nichts weiter tun als freudig-passiv mitfühlen mit dem Kreuzesopfer des «Herrn». Eine Art Mantra, das leidenden Gläubigen von der Seelsorge oft nahegelegt wurde, lautet: «Ich muss leiden, ich kann leiden, ich darf leiden.» So haben viele gelernt, sich ins Opferdasein zu schicken. Wer darüber hinaus selbst etwas in der Welt vollbringen oder gar verändern will, steht sogleich im Verdacht, «Selbsterlösung» zu betreiben, was so ziemlich das Unchristlichste sein muss, das man sich vorstellen kann.
Natürlich mehren sich heute – auch im Katholizismus – die Stimmen, die es unerträglich finden, wenn die grausame Folterung Jesu zu etwas Positivem verkehrt wird, gar zu etwas, das Heilsbedeutung hat. Gerade die Auseinandersetzung mit dem radikal Bösen, für das Auschwitz steht, hat bei manchen (nicht bei allen!) inzwischen zu einem Umdenken geführt. An die Stelle einer Theologie, nach der geduldig ertragenes Leiden etwas Gutes sei, das Gott gefiele, sollte dringend eine neue Erzählung der Geschichte des Jesus von Nazareth treten. Ein Blick in die Opfervorstellungen der Bibel Israels, des «Tanach», den das Christentum in sein Altes Testament aufgenommen hat, bietet hierzu überraschende Perspektiven.
Im Tanach findet sich eine ganze Reihe unterschiedlicher Opfervorstellungen – auch sehr schlichter, archaischer Auffassungen, wonach die Menschen ihre Gottheiten ernähren oder mit Tier- und Pflanzenopfern gnädig stimmen müssten. Mit der Zeit aber wurde die Exodus-Erfahrung – die Befreiung aus der Sklaverei in Ägypten – immer wichtiger in Israel. In ihr zeigte sich alles in einem neuen Licht: Ihr zufolge strafte der Gott Israels seine Leute nicht mit Gefangenschaft und Zwangsarbeit, sondern hörte die Schreie der Versklavten und kam, um sie zu befreien (Ex 3,7). Dieser Gott wollte die Freiheit seiner Menschen und ihr Wohlergehen. Man musste «ihn» nicht fürchten und mit Opfergaben bei Laune halten. Tatsächlich haben wir es hier mit einer Revolution der Gottesvorstellung zu tun: Dieser Gott verlangte nicht Unterwerfung, sondern die Bereitschaft, in die Freiheit aufzubrechen. Dazu gehörte auch eine neue Vorstellung von Opfer: das Dankopfer im Gedenken an die Befreiung aus Ägypten. In einer Notiz im Buch Exodus, die zunächst anmutet wie eine blosse Kultvorschrift, lässt sich die Veränderung gut erkennen:
«Einen Altar von Erde mache mir, auf dem du dein Brandopfer und Dankopfer, deine Schafe, Ziegen und Rinder, opferst. An jedem Ort, wo ich meines Namens gedenken lasse, da will ich zu dir kommen und dich segnen» (Ex 20,24).
Gott wird hier nicht durch ein Opferritual um Gnade angegangen, sondern gesellt sich aus freien Stücken zu den Menschen, die sich in einer feierlichen Zeremonie an sein Befreiungshandeln erinnern. Sie schlachten dafür Schafe, Ziegen oder Rinder, also Tiere aus der eigenen Zucht, die man für ein Festmahl hernimmt, wenn ein hoher Gast kommt. Das Fleisch wird Gott nicht im rohen Zustand vorgelegt; das Opfertier wird vielmehr gehäutet, zerlegt und gesalzen: Es wird zubereitet. Mit anderen Worten: Die Opferfeier, die nach diesem Text in Israel massgeblich sein soll, hat die Form eines Gastmahls. Und Gott kommt zu Besuch, um die Menschen zu segnen, nicht als launische Gottheit, die gnädig gestimmt werden müsste.5 Und die Menschen versammeln sich als Freie um ihren Gott und feiern ihre Freiheit. Ihrem Ritual haftet nichts Unterwürfiges an.
Jesus stellte sich allem Anschein nach ebenfalls in diese Tradition. Einen Aussätzigen, den er geheilt hat, erinnert er gleich daran, dafür im Tempel ein Dankopfer darzubringen (Mt 8,4) – zur Feier der wiedergewonnenen Freiheit. Und als Jesus seinen verängstigten Leuten auf dem See Gennesaret entgegenkommt, erwartet er, dass sie sich ebenfalls aufs Wasser wagen: «Komm!», ruft er Petrus zu (Mt 14,22–33). Ein Aufruf zur Überwindung der Angst in der Besatzungszeit – und zugleich eine Anspielung auf den Exodus, als Gott dem Volk Israel in die Freiheit vorausging und wollte, dass es den Schritt ins Rote Meer wage und sein Sklav*innendasein hinter sich lasse.6
Natürlich wurzelt auch die Vorstellung von Christus als Opferlamm im Tanach. Doch der Gedanke, dass ein Opfertier geschlachtet wird, um für die Sünden der Menschen zu büssen, gehört in die Tradition der Sühn- und Schuldopfer, nicht in die Exodustradition. Das Lamm, das in manchen jüdischen Familien zu Pessach verzehrt wird, ist eine Erinnerung an den Vorabend des Exodus und hat nichts mit der Schuldopfertradition zu tun. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Jesus über die christliche Opfervorstellung glücklich gewesen wäre. Wir verstehen ihn besser, wenn wir ihn als Teil der freiheitlichen Tradition des Exodus sehen lernen. Dann können auch die Evangelien gelesen werden als Einübung in den Bund mit der Macht Gottes, um sich von den Mächten der Unterdrückung nicht mehr zum Opfer machen zu lassen – zur Unterstützung all jener, die tatsächlich ohnmächtig sind.
Hanna Mandel: Beim Gehen entsteht der Weg. Gespräche über das Leben vor und nach Auschwitz. Aufgezeichnet von Norbert Reck. Hamburg 2008, S. 65–94.
Anna Holzmann: Erlebnisse als Arierin jüdischen Glaubens. In: Frank Beer / Markus Roth (Hrsg.): Von der letzten Zerstörung. Die Zeitschrift «Fun letstn churbn» der Jüdischen Historischen Kommission in München 1946–1948. Berlin 2020, S. 627–631, hier S. 631.
Imre Kertész: Roman eines Schicksallosen. Reinbek 42001, S. 282–285.
Elisabeth Schüssler Fiorenza: Zu ihrem Gedächtnis … Eine feministisch-theologische Rekonstruktion der christlichen Ursprünge. München/Mainz 1988, S. 176.
Alfred Marx: Opferlogik im alten Israel. In: Bernd Janowski / Michael Welker (Hrsg.): Opfer. Theologische und kulturelle Kontexte. Frankfurt am Main 2000, S. 129–149.
Ausführlicher dazu mein Buch: Der Jude Jesus und die Zukunft des Christentums. Zum Riss zwischen Dogma und Bibel. Ostfildern 32021, bes. Kapitel 6.
*1961, ist katholischer Theologe, freier Autor und Übersetzer. Er hat viele Jahre mit KZ-Überlebenden zusammengearbeitet und ist Mitglied im Gesprächskreis Juden und Christen beim Zentralkomitee der deutschen Katholiken. Er lebt mit seinem Mann in München.