Dem Rad in die Speichen fallen: Klima­katastrophe und ziviler Ungehorsam

Julia Lis, Benedikt Kern, 17. Juni 2020
Neue Wege 6.20

Der Klimaschutz erfordert engagiertes Handeln, auch von Christ*innen. Die Klimabewe­gung macht vor, wie das gehen kann – trotz staatlicher Re­pression. Eine theologische Intervention.

«Es reicht nicht, die Opfer unter dem Rad zu verbinden. Man muss dem Rad selbst in die Speichen fallen.» So hat Dietrich Bonhoeffer angesichts des aufkommenden Faschismus und des Versagens der bürgerlichen Mehrheit 1933 die Dringlichkeit für Theologie und Praxis bildhaft formuliert. Eine radikal diesseitige, das heisst auf das Reich Gottes in der Welt hin orientierte Theologie und die mit ihr verantwortete Praxis drängen auf eine Unterbrechung des Bestehenden. Denn dieses ist gewaltförmig und produziert ständig neue Opfer unter dem Rad. Eine derartige Theologie kann nicht herhalten zur ideologischen Begründung oder Flankierung bestehender Gewaltverhältnisse. Sie ist immer eine prophetische Intervention, die aufdeckt, anklagt und eine Perspektive auf das zu Ermöglichende eröffnet.

Als eine Herausforderung für eine so verstandene Theologie erscheint uns die ökologische Krise, da sie unser Leben grundsätzlich bedroht und zunehmend bedrohen wird. Die Vernichtung der natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen und der Ausschluss immer grös­serer Teile der Menschheit von den sozialen und ökonomischen Lebensvoraussetzungen bedingen sich dabei gegenseitig.1 Der entscheidende Motor dieser doppelten Zerstörung ist der kapitalistische Zwang zu Wachstum und zur Kapitalverwertung. Er wird sichtbar im Imperativ der Expansion um jeden Preis, der Kostensenkung der Produktionsfaktoren (menschliche Arbeitskraft, natürliche Rohstoffe) und der Erzeugung künstlicher Bedürfnisse.2

Radikale Unterbrechung

Dieser ökologischen Krise kann weder eine «Zähmung» der entfesselten Wirtschaftsweise noch der sogenannte Green New Deal Einhalt gebieten. Auch das Potenzial erneuerbarer Energien ist nicht unerschöpflich; der derzeitige Energieverbrauch muss drastisch beschränkt werden, was eine andere Produktionsweise verlangt. Der Ökosozialist Bruno Kern unterstreicht, dass die Ideologie eines innovativen grünen Wachstums deshalb so gefährlich sei, weil sie daran hindere, überhaupt erst die eigentliche politische Frage zu stellen: Wie kann auf einer wesentlich reduzierteren materiellen Basis eine solidarische Gesellschaft aufgebaut werden?3 Die Staaten und ihre Institutionen werden mit ihrer Klima­politik unter den derzeitigen Herrschaftsverhältnissen diese politische Frage so nicht stellen können. Kompromisse innerhalb des Green New Deals – wie der (viel zu späte) Braunkohleausstieg in Deutschland bis 2038 – werden sich sicherlich aushandeln lassen. Sie sind aber weit entfernt von der notwendigen Überwindung der kapitalistischen Produktions- und Reproduktionsverhältnisse und damit der herrschenden «imperialen Lebensweise»4.

Für Christ*innen ist die Frage nach einem guten Leben für alle Menschen im Sinne einer solidarischen Gesellschaft verbunden mit der Frage nach dem Heilshandeln Gottes, das sich in der Geschichte und in der Welt verwirklicht. Der biblische Gott, der Gott eines befreienden Exodus und der Gott Jesu, der den Tod überwindet, ist einer, der das Leben erschafft, es erhalten und zu seiner Fülle führen möchte. Eine so existenzielle Bedrohung wie die Klimakatastrophe wirft somit aus (befreiungs-)theologischer Perspektive nicht nur die Frage nach dem richtigen Handeln der Christ*innen auf. Sie zielt ins Zentrum der Gottesfrage: Werden sich die Verheissungen auf ein Leben in Fülle, die die Christ*innen mit ihrem Glauben an den biblischen Gott verknüpfen, für alle erfüllen? Wie ist es möglich, dieser Verheissung eines Gottes, der das Heil seiner Geschöpfe will, näherzukommen? Angesichts der Katastrophengeschichte des technologischen Fortschritts im Dienst der Kapitalverwertung und der Erhöhung der Produktivität geht dies wohl nur durch eine radikale Unterbrechung des Bestehenden.

Autoritäre Tendenzen

Manche sehen in den Shutdowns, die durch die Corona-Pandemie ausgelöst wurden, erste Anzeichen einer solchen Unterbrechung. Aber täuschen wir uns nicht: Auch diese Krise geht nur bei wenigen mit einer grundsätzlichen Infragestellung des herrschenden Kapitalismus einher. Er hat das Kaputtsparen der Gesundheitssysteme und die Fokussierung auf Profitmöglichkeiten statt auf Versorgung der Menschen zufolge und fördert die Standortkonkurrenz der Nationen statt solidarischer Kooperation. Deshalb ist eine dauerhafte Unterbrechung leider nur schwach in Sicht. Vielmehr treten die autoritären Züge des Systems, in dem wir leben, immer deutlicher zutage, wenn unterbunden wird, was nicht auf Produktion und Konsum ausgerichtet ist. So führen Grundrechtseinschränkungen unter der Massgabe von Corona-Schutz zum Beispiel im Bereich Versammlungsrecht dazu, dass Protest nicht mehr sichtbar im öffentlichen Raum stattfinden kann. Auch das ist keine neue Dynamik, wir haben sie bereits vor der Corona-Zeit Anfang Februar diesen Jahres am eigenen Leibe erlebt. In der Nähe des Kohlekraftwerkes Datteln IV, dessen Inbetriebnahme zahlreiche Proteste begleiten, wurden wir festgenommen und präventiv in Haft genommen. Die Begründung lautete, man vermute, wir wollten uns an Aktionen beteiligen – ohne dass es irgendwelche anderen Indizien gegeben hätte als Schlafsäcke und Essen in unserem Auto.

Solche autoritären Tendenzen, die Unterdrückung von Protest und Einschüchterung von Aktivist*innen, offenbaren etwas über die Zustände unserer Gesellschaft. Sie zeigen, dass Grundrechte immer wieder neu eingefordert und erkämpft werden müssen.

Bewusste Grenzüberschreitung

Die Angst der Herrschenden vor noch so harmlos wirkenden Protesten macht deutlich, wie notwendig es ist, die gegebenen Rahmenbedingungen infrage zu stellen, auch durch bewusste Grenzüberschreitung. Eine solche grenzüberschreitende Praxis lässt uns als Christ*innen Parallelen zum Handeln Jesu erkennen, etwa am Beispiel seines Umgangs mit dem Sabbatgebot (vgl. Mk 2,27). Papst Franziskus schlägt das folgende Verständnis dieses Textes vor: «An einem Sabbat hat Jesus, wie das Evangelium erzählt, zwei Dinge getan, durch die der Komplott, ihn umzubringen, beschleunigt wurde. Er ging mit seinen Jüngern durch ein Kornfeld. Die Jünger waren hungrig und assen von den Ähren. [...] Angesichts des Hungers hat für Jesus die Würde der Kinder Gottes Priorität gegenüber einer formalistischen, angepassten und interessebedingten Interpretation der Normen. Als die Gesetzeslehrer sich in heuchlerischer Empörung beklagten, erinnerte Jesus sie daran, dass Gott Liebe will und nicht Opfer, und klärte sie darüber auf, dass der Sabbat für den Menschen und nicht der Mensch für den Sabbat da ist. Er konfrontierte das heuchlerische, selbstgenügsame Denken mit der demütigen Intelligenz des Herzens, die dem Menschen immer den Vorrang einräumt und jene Logiken ablehnt, welche die Freiheit des Menschen zu leben, zu lieben und anderen zu dienen untergräbt.»5

Die Grenzüberschreitung Jesu stellt das Sabbatgebot nicht grundsätzlich infrage. Sie macht aber deutlich, wie dieses Gebot zu verstehen ist: Wo nicht der Mensch selbst zur höchsten Norm des Gesetzes wird, der Sabbat somit nicht mehr für den Menschen da ist, sondern allein die formale Erfüllung des Gesetzes im Vordergrund steht, wird der Mensch «einer despotischen Macht unterworfen»6. Die Politische Theologie nach Johann Baptist Metz stellt dieser Unterwerfung des Menschen unter despotische himmlische wie irdische Götter einen biblischen Gott entgegen. Er will die Subjektwerdung der Menschen vor seinem Angesicht. Dazu gehört aber auch die Bereitschaft, durch verantwortliches Handeln Welt und Geschichte so zu gestalten und zu verändern, dass Leben für alle Geschöpfe möglich wird und bleibt. Sich heute dafür einzusetzen verlangt, die zerstörerischen Prozesse der Kapitalverwertung zu unterbrechen.

Gemeinsam handlungsfähig werden

Hierbei machen wir immer wieder die Erfahrung, dass es nicht in erster Linie Christ*innen sind, die dies tun. Es sind Menschen, die mutige und kreative Formen entdecken, sich dem Bestehenden in den Weg zu stellen und Regeln so zu übertreten, dass etwas von dem deutlich wird, was in unseren Gesellschaften grund­legend falsch läuft. So waren es zum Beispiel die Menschen im Hambacher Forst, die dort seit Jahren Bäume besetzt haben, um den zerstörerischen Braunkohletagebau des Energiekonzerns RWE zu unterbrechen und damit eine weitere Verwüstung der Natur- und Kulturlandschaft des Rheinlands zu verhindern. Dabei haben diese Menschen neue, andere Formen des Zusammenlebens erprobt als die gesellschaftlich gängigen. Ihr Beispiel hat im Herbst 2018 viele andere ermutigt, sich durch massenhaften zivilen Ungehorsam für den Erhalt des Hambacher Forstes einzusetzen. Dem Protest schlossen sich die unterschiedlichsten Menschen aller Altersgruppen an. Sie errichteten im Wald Barrikaden, durchflossen Polizeiketten und blockierten Räumpanzer. So wurde trotz massiver Polizeigewalt eine Perspektive sichtbar, die die vermeintlich alternativlose herrschende Logik entlarvt und infrage gestellt hat. Subjektwerdung wurde hier ganz konkret: Menschen traten aus ihrer Zuschauer*innenhaltung heraus, befreiten sich von Angst, Ohnmacht und Resignation und konnten so die Erfahrung machen, gemeinsam handlungsfähig zu werden, der Repression Solidarität entgegensetzen zu können und am Ende erfolgreich den Wald verteidigt zu haben.7

Ein Jenseits zum kapitalistischen Normalzustand

Den Hambacher Forst zu verteidigen bedeutet aber natürlich weit mehr, als ein Stück Natur im Rheinland vor der Zerstörung zu retten – so bedeutsam dies auch sein mag. Das Rheinische Braunkohlerevier ist nur einer von vielen Kristallisationspunkten einer ökologischen Krise, die weltweit Verwüstung, Hunger, Klimaflucht und andere Katastrophen hervorbringt. Die Klimakatastrophe ist also nicht etwas, was uns noch droht, viele Menschen erleben sie schon heute sehr konkret am eigenen Leibe. Die Subjektwerdung in den Kämpfen vor Ort mit der Anwaltschaft für diese Menschen zu verbinden, lässt sich christlich vielleicht als Einheit von Nächsten- und Fernstenliebe beschreiben.

Um ein Jenseits zum kapitalistischen Normalzustand denk- und erhoffbar zu machen, halten wir es für wichtig, dass Christ*innen sich in sozialen Bewegungen wie der Klimabewegung engagieren und ihnen nicht nur aus einer beobachtenden Position entgegentreten. Das wäre eine Reich-Gottes-Praxis. Denn es ist zutreffend, was Papst Franziskus den sozialen Bewegungen zugesprochen hat: «Manchmal denke ich, dass ihr tut, was Jesus tat, wenn ihr, die organisierten Armen, eure eigenen Arbeitsplätze erfindet dadurch, dass ihr Kooperativen bildet, eine bankrotte Fabrik übernehmt und zum Leben erweckt, den Abfall der Konsumgesellschaft recycelt, trotz rauen Wetters auf einem Platz etwas verkauft, ein Stück Land reklamiert, um es zu bebauen und die Hungrigen zu speisen. Dann tut ihr, was Jesus tat, weil ihr die verdorrten Hände des herrschenden sozioökonomischen Systems, nämlich die Arbeitslosigkeit, zu heilen versucht, wenn auch nur ein wenig, wenn auch nur vorübergehend. Kein Wunder, dass auch ihr manchmal unter Beobachtung steht und verfolgt werdet. Und es wundert mich auch nicht, dass die Arroganten keinerlei Interesse an dem haben, was ihr zu sagen habt.»8

Lassen wir uns davon ermutigen – um dem Rad in die Speichen zu fallen.

  1. Vgl. Bruno Kern: Das Märchen vom grünen Wachstum. Plädoyer für eine solidarische und nachhaltige Gesellschaft. Zürich 2019, S. 23.

  2. Vgl. ebd., S. 28.

  3. Vgl. ebd., S. 31.

  4. Ulrich Brand, Markus Wissen: Imperiale Lebensweise. Zur Ausbeutung von Mensch und Natur im globalen Kapitalismus. München 2017.

  5. Ansprache von Papst Franziskus an die zum Dritten Welttreffen der sozialen Bewegungen Versammelten in Rom am 5. November 2016.

  6. Franz Hinkelammert: Reflexionen zum Schuldenproblem: Die Entleerung der Menschenrechte. Arbeitspapier III. Münster 2016, S. 7.

  7. Vgl. Benedikt Kern: Das Klima weiter im Hambacher Forst verhandeln! Online abrufbar unter www.feinschwarz.net/das-klima-weiter-im-hambacher-forst-verhandeln

  8. Vgl. Papst Franziskus (FN 5).

  • Julia Lis,

    *1982, und

  • Benedikt Kern,

    *1988, arbeiten am Institut für Theologie und Politik (ITP) in Münster. Beide sind aktiv in der Klimabewegung und arbeiten unter anderem theologisch zum Zusammenhang von Klima­protesten und Befreiungstheologie.

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