Karl Barths Theologie war von Anfang an stark als Ideologiekritik, und das ist sie bis heute. Gott, so hält sie fest, ist der ganz Andere, der quer zu jeder religiösen Möglichkeit steht. Gott steht im Widerspruch zu jeder Form der menschlichen Selbstermächtigung und zu allen weltlichen Mächten und Gewalten. Gottes Offenbarung ereignet sich als Gericht, als fundamentales «Nein» über alle religiöse Erfahrung und theologische Spekulation, über alle kirchliche und politische Vereinnahmung Gottes. Der Römerbrief-Kommentar, mit dem Barth 1919 über Nacht berühmt wurde, war denn auch eine grossangelegte Abrechnung mit der menschlichen Anmassung, über Gott zu verfügen, mit Gott zu rechnen, ja auch nur über Gott etwas aussagen zu können, eine theologische Religionskritik, vor der keine menschliche Bemühung Bestand haben konnte.
Dass der Gottesglaube immer den Glauben an den Menschen impliziert und letztlich sogar auf diesen reduzierbar ist, war die grosse Einsicht von Ludwig Feuerbachs Religionskritik in den 1840er Jahren. Sein Anliegen war nobel. Er strebte nach der Verwirklichung der wahren Menschlichkeit des Menschen, ganz im Sinne von Kants Imperativ, den Menschen nur als Zweck und niemals als Mittel zum Zweck zu sehen. Der Glaube an Gott, der das Heil der Menschen will und wirkt, ist nur ein Umweg auf dem Weg zur universellen Menschlichkeit. Feuerbach war der Überzeugung, dass diese Liebe zum Menschen auf direktem Weg bessere Erfüllung finden könnte. Gott als Anderer des Menschen führt zur Abwertung des Menschen: «Gott ist nicht, was der Mensch ist – der Mensch ist nicht, was Gott ist. Gott ist das unendliche, der Mensch das endliche Wesen; Gott vollkommen, der Mensch unvollkommen; Gott ewig, der Mensch zeitlich; Gott allmächtig, der Mensch ohnmächtig, Gott heilig, der Mensch sündhaft.» Letztlich bedeutet das: «Der Glaube opfert Gott den Menschen auf. Das Menschenopfer gehört selbst zum Begriffe der Religion. Die blutigen Menschenopfer dramatisieren nur diesen Begriff.» Und wir wissen es, im Namen der Religion können die schlimmsten Brutalitäten gegen Menschen gerechtfertigt werden, von rigiden Moralvorstellungen bis zum Selbstmordattentat, von Sexismus und der Verfolgung homosexueller und transsexueller Menschen bis zu globalen Absolutheitsansprüchen und «zivilisierenden» Missionen in alle Teile der Welt. Im Namen der Religion wurden und werden bis heute unzählige Menschenopfer gebracht und zugleich gegenüber rationaler Kritik immunisiert.
Gegen diese bösartigen Tendenzen der Religion wird Religionskritik nicht nur eine Angelegenheit intellektueller Redlichkeit, sondern zum Gebot der Menschenliebe. Feuerbach erklärte es darum zu seiner Aufgabe, die «Illusion» zu zerstören: «Ist das Wesen des Menschen das höchste Wesen des Menschen, so muss auch praktisch das höchste und erste Gesetz die Liebe des Menschen zum Menschen sein. Homo homini Deus est – dies ist der oberste praktische Grundsatz – dies der Wendepunkt der Weltgeschichte.»
Barth hielt Feuerbach in hohen Ehren. Nur leider lag Feuerbach eben letzten Endes grundsätzlich falsch, und zwar gar nicht erst in Bezug auf Gott, sondern schon in Bezug auf den Menschen. «Homo homini deus est» postulierte er mit dem Anliegen, die Menschheit zur wahren Menschlichkeit zu befreien, in scheinbarer Vergessenheit des komplementären Satzes: «Homo homini lupus est.» Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf. Die alte Einsicht bei Thomas Hobbes war, dass der Mensch durchaus in der Lage ist, seiner «in-group» gegenüber grosszügig und liebevoll zu sein, gegenüber seiner «out-group» aber im Grossen und Ganzen aggressiv und gewalttätig eingestellt ist.
Wir sehen heute sehr klar, dass die Moderne letzten Endes blind gegenüber den Mechanismen von Ausschliessung und Auslöschung war, die ihr humanistisches Ideal begleiten, und dass auch die Abschaffung der Religion keine Besserung herbeiführt. Bei kritischer Betrachtung offenbart die Moderne geradezu, wie sehr der Mensch dem Menschen ein Wolf ist und wie sehr auch und gerade aufgeklärte Ideale des Menschen der Unterwerfung von Mensch und Natur dienen. Sie sind von Brutalität zumindest begleitet, vielleicht sogar inhärent geprägt – von der Eroberung Amerikas bis zu den grossen totalitären Systemen des 20. Jahrhunderts. In all diesen Bewegungen, das wäre meine These, wird die identitätsgebende Differenz, die theologisch zwischen Gott und Mensch steht, auf die Menschheit selbst zurückprojiziert. Das führt dazu, dass wir andere Menschen zu ganz Anderen erklären und dem eigentlichen Menschsein opfern. Die Entzweiung und Ambivalenz des Menschen ist eben nicht nur eine religiöse Illusion, sondern eine menschliche Tatsache, mit der die Theologie schon immer rechnet.
Barth brachte die Kritik der Kritik auf die Formel Hans Ehrenbergs: «Feuerbach war als getreues Kind seines Jahrhunderts ein Nichtkenner des Todes und ein Verkenner des Bösen.» Wie Feuerbach verstand auch Barth Religion als kaum verschleierten Versuch menschlicher Selbstbehauptung. Aber im Unterschied zu Feuerbach ist Barth nicht der Meinung, dass der Mensch dieses Dilemma selbst überwinden könnte. Und was Feuerbach als Lösung sieht, ist für Barth nur die Verschärfung des Problems. Die direkte Bejahung des Menschen, die Feuerbach als Aufhebung der Illusion sieht, ist für Barth gerade die eigentliche Illusion, die in der Zerstörung der wahren Menschlichkeit endet.
Weil Gott der ganz Andere ist, lässt auch Theologie als Rede von Gott sich nicht mit einem bestimmten politischen, religiösen oder kirchlichen Programm, mit keiner Kultur und mit keiner Bewegung identifizieren. Wenn die Voraussetzung der Theologie schlicht das erste Gebot ist – «Du sollst keine anderen Götter haben neben mir» – verfallen alle solchen «Bindestrich»-Konstruktionen der Kritik. Die Ideologiekritik schliesst aber auch die «kritische Selbstprüfung» ein, die den Dogmatiker Barth dazu zwingt, «immer wieder neu mit dem Anfang» anzufangen und über tausende von Seiten weiterzuschreiben, um nicht durch eine einseitig positive oder negative Fixierung Gottes rechts oder links vom theologischen Drahtseil herunter zu fallen.
Die Stärke der Barthschen Theologie ist die auf Gottes Andersheit begründete Kompromisslosigkeit und Unvereinnahmbarkeit. Aufgrund der Entdeckung Gottes als ganz Anderem, so scheint es, war Barth auch als Zeitgenosse «einzigartig politisch wach» (Christian Link) und in der Lage, theologisch der Falle des «Kulturprotestantismus» ebenso zu entgehen wie kirchenpolitisch der Gleichschaltungspolitik im Dritten Reich entgegenzutreten. Mit der gegenüber dem Nationalsozialismus erworbenen Aura prophetischer Widerständigkeit und moralischer Überlegenheit konnte die Barthsche Theologie sich im Nachkriegsdeutschland nahezu unangefochten durchsetzen. Diese Stärke wurde ihr zum Verhängnis, weil sie schliesslich ganzen Generationen von PfarrerInnen und TheologInnen die Barthsche Theologie vergällte.
Die Berufung auf das freie Wort Gottes zum Widerspruch gegen die Starken und den Zeitgeist teilt Barth mit der prophetischen Tradition der biblischen Schriften. Doch deren «Nein» geht unverkennbar mit dem «Ja» Gottes zu den Schwachen einher, ja, wird geradezu durch dieses erst provoziert. Während Barths Ansatz den ersten Teil dieses Prinzips zur Meisterschaft gebracht hat, scheint der zweite Aspekt eher ausbaufähig. Zwar ist auch bei ihm das «Nein» ganz klar in Gottes «Ja» zum Menschen begründet, doch Barth verkündigte immer wieder prominent: «Wir stehen tiefer im Nein als im Ja». Er machte sich darum die Dekonstruktion menschlicher Stärke zur Aufgabe, doch dem fiel theologisch jegliche positive Würdigung von menschlicher Erfahrung und Aktivität zum Opfer. Nur passiv, nur im Wissen um seine eigene Unfähigkeit, tritt der Mensch in Erscheinung. Die Barthsche Theologie konnte sich so «negativ», als prophetische Kritik an den herrschenden Mächten und Gewalten Kraft entfalten, war aber nur unzureichend in der Lage, sich «positiv» sensibel und konstruktiv für die von diesen Mächten unterdrückten Schwachen einzusetzen. Wo Barths Theologie nicht mehr subversiv-kritisch auftrat, sondern zum herrschenden System wurde, empfand nicht nur die bürgerliche «Liberale Theologie» in Deutschland sie als dogmatisch schroff, überheblich und autoritär. Auch aus befreiungstheologischen und feministischen Kreisen wurde zunehmend gefragt, ob das von Barth starkgemachte «Nein» das einzige Wort Gottes auch zu dem Menschen ist, der um Befreiung, Emanzipation und Befähigung ringt.
James Cone, ein führender Theologe der schwarzen Bürgerrechtsbewegung in den USA, postulierte darum schliesslich: «Barths Warnung [vor der Identifizierung Gottes mit menschlichen Worten, menschlicher Kultur] war in seinem eigenen Kontext angemessen, aber sie gilt nicht für Schwarze in Amerika. [...] Natürlich ist das Wort Gottes, wie Barth betont, der Menschheit fremd und trifft sie darum wie ein ‹Blitz aus heiterem Himmel› – aber welche Menschheit? Für Unterdrücker und Entmenschlicher stimmt diese Analyse. Aber wenn wir von Gottes Offenbarung für die Unterdrückten sprechen, ist diese Analyse falsch. Gottes Offenbarung kommt zu uns in und durch die kulturelle Situation der Unterdrückten. Gottes Wort ist unser Wort, Gottes Existenz unsere Existenz.» (A Black Theology of Liberation. New York 1970, S. 29f.)
Cones Anfrage ist folgende: Barths Theologie ist ein starkes Wort gegen die Unterdrücker – aber ist sie auch ein starkes Wort für die Unterdrückten? Hat Gott für sie nicht (auch und gerade im einen Wort Gottes Jesus Christus) ein anderes Wort als nur «Nein»? Ist ihnen jede positive Gotteserfahrung abzusprechen, die sie für ihre Emanzipationsbemühungen fruchtbar machen könnten? Das mühsam aufgebaute Selbstbewusstsein historisch unterdrückter Gruppen wurde von Barths Theologie in den gleichen Topf geworfen wie totalitäre und unterdrückerische Formen menschlicher Selbstüberhebung. So wurde etwa die Frauenbewegung von Barth als Versuch der Selbstermächtigung des Menschen direkt abgekanzelt.
Natürlich steht nicht nur der Nationalismus, sondern auch der religiöse Sozialismus, nicht nur die Apartheids-, sondern auch die Befreiungstheologie, nicht nur das Prosperity Gospel, sondern auch die Option für die Armen stets in der Gefahr der eigenen Selbstüberhebung und der Instrumentalisierung Gottes für menschliche, allzu-menschliche Interessen. Doch gilt ihnen darum allen das gleiche «Nein»? Wäre hier nicht auch theologisch ein Unterschied einzuzeichnen? Ich glaube, dass dies auch innerhalb von Barths Theologie durchaus möglich ist.
So korrigiert Barth in seiner Kirchlichen Dogmatik selbst das von ihm entworfene schroffe Bild des ganz anderen Gottes durch dessen Konkretion in Christus – ja, er warnt sogar, jede davon losgelöste Postulierung von Gott als ganz Anderem sei «unhaltbar, verkehrt und heidnisch». Der ganz Andere ist eben keine abstrakte geometrische Figur und keine reine Verneinung des Menschen, sondern der Mensch Jesus. In Jesus Christus identifiziert sich Gott mit dem Menschen, der durch und durch Mensch für andere ist. In Jesus Christus zeigt Gott sich konkret als Parteigänger der Armen. Weil in der Menschlichkeit Gottes auch die Menschlichkeit des Menschen als Mitmenschlichkeit begründet ist, müssen nach Barth universale Menschenrechte auch theologisch eingefordert werden.
Abgeleitet von der Christologie entwickelt Barth auch in der Sündenlehre eine hilfreiche Unterscheidung. Nicht nur der «Hochmut», also die menschliche Selbstüberhebung in Ungehorsam und Auflehnung gegenüber Gott, ist für Barth Sünde; nicht nur, dass der Mensch sich gegenüber Gott zu gross macht, sondern auch, dass der Mensch sich zu klein macht, führt zu verkehrten Verhältnissen. Wenn Gott in Jesus den Menschen erhebt und ehrt, darf der Mensch nicht in seiner unerlösten Niedrigkeit verharren und von seiner Freiheit keinen Gebrauch machen. Auch das Sich-Einrichten in und Sich-Abfinden des Menschen mit seiner Niedrigkeit, als wäre er nicht erlöst und zur Freiheit berufen, ist menschliche Selbstverfehlung. Barth nennt diese Gestalt der Sünde «Trägheit».
Die Erkenntnis von Gottes Andersheit in seiner Selbsterniedrigung hilft uns mit Barth, menschlichen Hochmut und Selbstermächtigung als Sünde zu verstehen. Das ist in Barths eigener Ideologiekritik stark zum Tragen gekommen und kann auch heute noch Kraft entfalten in der immer notwendigen Kritik gegenüber den weltlichen Mächten und Gewalten, den politischen und ökonomischen wie den technologischen und religiösen. Diese Pointe ist stark als subversive Stimme; sie kann und soll uns in unserer Position der Stärke herausfordern, hinterfragen und ins Wanken bringen. Doch sie muss nicht unerbittlich werden bis zur Unmenschlichkeit; sie muss nicht schwach bleiben im aktiven Einsatz für Unterdrückte.
Die Erkenntnis von Gottes Andersheit als befreiter und befreiender Mitmenschlichkeit und von Sünde als Zurückbleiben hinter der von Gott eröffneten Freiheit könnte ebenso kritisch und politisch fruchtbar gemacht werden. Sie erlaubt eine fallweise Würdigung menschlichen Einsatzes für Gerechtigkeit und zur Stärkung der Schwachen. Sie gibt Anlass, mit Barth und über Barth hinaus auch theologisch die Stimme zu erheben, nicht nur gegen die UnterdrückerInnen, sondern auch für die Unterdrückten, nicht nur gegen Herrschaft, sondern auch für Befreiung und Gerechtigkeit, nicht nur im «Nein» zur menschlichen Möglichkeit, sondern auch im «Ja» zum Menschen, als Menschen für andere.
*1984, ist Professorin für Reformierte Theologie am Princeton Theological Seminary in den USA. Sie promovierte in systematischer Theologie an der Universität Heidelberg; dort und an der Martin-Luther-Universität in Halle-Wittenberg war sie zuvor tätig. Ihre Interessen umfassen politische Theologie, Christologie, Hermeneutik, poststrukturalistische Theorie, Überwachungswissenschaften und epistemologische Ethik. Ihre Lehrtätigkeit reicht von deutschen TheologInnen des 20. Jahrhunderts bis hin zu postkolonialen, feministischen und Queer-Theologien. Derzeit arbeitet sie zu Politische Theologien der Allwissenheit zwischen der Lehre von Gott und Überwachungstechnologien.