Zwei aktuelle Themen kommen mir in den Kopf, während ich diesen Text schreibe: der Krieg in der Ukraine und Lützerath. Ich denke an die Frage, ob Deutschland Panzer des Typs Leopard 2 liefern soll. Und es geht um die Räumung des Weilers Lützerath, der von Umweltaktivist*innen besetzt worden war, um die Zerstörung im Rahmen des Braunkohle abbaus zu verhindern. Wie würde Dorothee Sölle sich zu den Waffenlieferungen äussern? Würde sie in den Chor strikter Gegner*innen solcher Lieferungen einstimmen? Wäre sie mit zur Demonstration nach Lützerath gefahren, um den Energiekonzern RWE vom Abbau der Kohle und der damit einhergehenden Zerstörung des Örtchens abzuhalten?
Wir wissen es nicht und werden es auch nicht erfahren. Dorothee Sölles Todestag jährt sich im April 2023 zum zwanzigsten Mal. Doch sind das überhaupt sinnvolle Fragen?
Zumindest werden sie gestellt. Ich habe im Wintersemester 2022/2023 an der Universität zu Köln ein systematischtheologisches Hauptseminar gegeben, in dem wir auch Sölles Politische Theologie gelesen haben. Und natürlich kamen wir auf Lützerath zu sprechen. Könnte Sölle etwas mit dem Protest anfangen? Und andersherum: Könnten die Protestierenden etwas mit Sölle und ihren Positionen anfangen? Das Seminar war sich schnell einig. Sölle hätte mitdemonstriert. Aber andersherum? Hätten die Demonstrierenden etwas mit ihr und ihren Worten anfangen können? Hier war die Skepsis doch gross. Sicher, die Umweltbewegung wird von manchen religiös qualifiziert. Ohne hier einsteigen zu wollen, lässt sich aber festhalten, dass sich Teile der Klimabewegung auf apokalyptische Rhetorik verstehen mögen, dass aber christliche Symbole oder Geschichten oder gar die Rede von der Bewahrung der Schöpfung nicht an prominenter Stelle zu hören sind. Es ist wahrscheinlich, dass die Klimaaktivist*innen lieber weiterhin Luisa Neubauer oder Greta Thunberg zuhören würden als Dorothee Sölle – selbst wenn der Altersunterschied einmal aussen vor gelassen wird. Und noch einmal: Ist die Frage nach Sölles Beitrag zu heutigen Fragen überhaupt sinnvoll? Und wenn ja, auf welcher Ebene liegt der Sinn solcher Fragen?
Als ich Fulbert Steffensky im Januar traf, fragte ich ihn genau das, und er musste grinsen. Ich war nach Luzern in die Schweiz gefahren, um ihn, Dorothee Sölles zweiten Ehemann und selbst bekannter Theologe und Publizist, zu treffen. Er erklärte mir, warum er grinsen musste. Sölle habe solche Fragen als «Kaufmannsfragen» bezeichnet. Welchen Gewinn kann ich erzielen, wenn ich Sölle heute lese? Welchen Beitrag leistet ihr Denken in unseren heutigen Debatten? Solche Fragen gingen an ihren Texten vorbei, das war der Gedanke Steffenskys. Ich war sofort überzeugt, und wir redeten weiter über andere Aspekte des Werks seiner verstorbenen Frau. Aber gegen Ende des Gesprächs kamen wir noch einmal darauf zurück. Und Fulbert Steffensky sagte, ohne seine vorherige Antwort zu revidieren, ja, das seien natürlich legitime Fragen. Aber die Stärke und gleichzeitig die Schwäche des Denkens seiner Frau lägen wohl auch in dessen extremer Zeitbezogenheit. Sie habe sich die Themen eben auch von der Nachrichtenlage vorgeben lassen. Später im Zug nach Hause denke ich: Vielleicht nützt es nichts, die Frage nach der Verwertbarkeit von Sölles Theologie im Jahr 2023 mit Sölles eigenen Gedanken abzuschlagen. Vielleicht müssen wir uns eingestehen, dass in einer Welt, die voll und ganz von «Kaufmannslogik» beherrscht wird, eben auch wir nicht frei davon sind. Es gibt so unendlich viele Bücher und Artikel zu lesen, so viele Podcasts und Radioprogramme zu hören, so viele Dokumentationen, Filme und Interviews zu sehen, dass wir einfach wissen wollen, ob sich eine Lektüre lohnt, bevor wir uns auf sie einlassen.
In diesem Sinne ist die Frage nach der Verwertbarkeit Sölles jedenfalls eine sinnvolle Frage. Lohnt es sich, sie zu lesen? Meine Antwort ist: Ja. Das ist an dieser Stelle wohl wenig überraschend, und sie zu begründen fällt auch nicht schwer. Alleine in welcher Weise es sich lohnt, darauf müssen wir noch genauer schauen.
Zunächst ein Hinweis auf die Sprache Sölles, die nicht von ungefähr eben auch als Schriftstellerin und Dichterin bekannt ist. Viele ihrer Texte sind mitreissend geschrieben, nahe an ihrer Gegenwart, durchzogen von Beispielen aus ihrem Leben und dem politischen Geschehen. Immer wieder baut sie ihre eigenen Gedichte ein. Wer sich fragt, ob die vielen unterschiedlichen Textformen, die sie bedienen konnte (wissenschaftliche Abhandlungen, zeitdiagnostische Essays, theologische Traktate, informierte Sachbücher und andere), eigentlich ein Gemeinsames haben, der oder die könnte es mit Poesie versuchen. Vieles an ihren Texten ist poetisch und zieht einen in die Worte hinein, ohne dass sich sofort erschliesst, warum eigentlich und wohin die gedankliche Reise führt.
Wem der Hinweis auf die Qualität der Sprache alleine nicht genügt, dem oder der sei gesagt, dass diese Sprache eben dazu geführt hat, dass sie wahrgenommen worden ist. Und das allein ist ein solch grosses Pfund, dass es fast nicht grösser gewertet werden könnte. Denn wo gibt es so was heute schon – eine Theologin, die über den christlichen Glauben und seine Bedeutung für sie selbst und die Welt schreibt und damit ein wirklich grosses Publikum erreicht?
Seit ihrem Tod schreibt niemand mehr mit solcher Leidenschaft und solchem sprachlichem Feuer über und aus der christlichen Religion heraus. Es schien gar eine Weile so, als wäre darüber hinaus auch das Interesse an ihr und ihren Texten sozusagen mit ihr selbst zu Grabe getragen worden. Zwar wurde sie verehrt, und es erschienen auch vereinzelt hagiografische Bücher zu ihr, aber eine breitere inhaltliche Auseinandersetzung mit ihrem Denken blieb aus. Das ändert sich gerade. Das Interesse an Dorothee Sölle steigt wieder. Das liegt zum einen sicher daran, dass sich ihr Tod dieses Jahr zum zwanzigsten Mal jährt. Aber das liegt auch daran, dass eine junge Generation von Theolog*innen sich ihr zuwendet. Auch das könnte also für alle, die es noch nicht getan haben, ein Grund sein, sie wieder zu lesen. Diese jungen Theolog*innen werden sicher gute Gründe haben.
Meiner Beobachtung nach kommt dieses neue Interesse vor allem aus zwei Richtungen: Zunächst ist Sölle einfach deswegen interessant, weil sie die einzige weibliche evangelische Grosstheologin des 20. Jahrhunderts ist. Aber auch die männlichen Theologen ihrer Generation können sich nicht mit ihr messen. Jürgen Moltmann (*1926), Wolfhart Pannenberg (1928– 2014), Trutz Rendtorff (1931– 2016) sind wohl die wichtigsten Namen dieser Jahre. Nach welchen Kriterien auch immer sich so eine Rangordnung erstellen liesse, ich wüsste nur eine Weise, in der Sölle nicht ganz oben stünde: eine Anordnung nach der Rezeption in der akademischen Theologie. Das zu ändern und sie zum Standardstoff von theologischen Proseminaren und Einführungsvorlesungen zu machen, ist sicherlich eines der Anliegen der neuen SölleRezeption.
Es gibt jedoch noch einen zweiten Punkt. Die eigenen Themen der heute jungen Theolog*innen verbinden sich gut mit den Themen, für die Sölle wie keine andere steht: Postkoloniale Theologie und das damit einhergehende Interesse am sogenannten Globalen Süden passen sehr gut zu Sölles Befreiungstheologie; das Einbinden von Genderaspekten in die Theologie, das Arbeiten mit diversitätsbezogenen Fragestellungen findet einen Anknüpfungspunkt in Sölles feministisch-theologischen Arbeiten; das Aufnehmen des Klimawandels in der Theologie weiss sich mit Sölles ökotheologischen Seiten verbunden.
Es ist einleuchtend und macht die Zuwendung zu ihrem Denken sicher gerade in der akademischen Logik von Forschungsgeldanträgen noch einmal plausibler, diese «prophetische» Rolle Sölles hervorzuheben. Ein solcher Zugriff hat aber auch eine Schwachstelle: Es scheint hier angenommen zu werden, Sölle würde inhaltlich etwas zu Bewältigung der grossen Fragen der Gegenwart beitragen können. Inhaltlich aber kann es kein «Zurück» zu Sölle geben. Sölle ist eine Autorin, die in der Zeit von 1954 bis 2003 publizierte. Ihre Fragen sind damit eben bei aller Vorreiterinnenrolle, die sie innehatte, doch ganz andere als unsere. Nur weil Sölle Pazifistin war, heisst das nicht, dass wir bei ihr Punkte gegen Waffenlieferungen an die Ukraine finden. Ja, es heisst noch nicht einmal, dass sie sich heute dagegen aussprechen würde. Ein solcher Zugriff wäre tatsächlich sinnlos, weil der Forscher oder die Forscherin dann nur das findet, was er oder sie sowieso schon weiss und deswegen bei Sölle sucht. Es wäre keine Forschung, sondern Selbstbestätigung. Eine Analyse der Struktur ihrer Theologie zeigt zweierlei: Erstens hat sie ihre Theologie selbst gegen eine spätere «Verwertung» immunisiert. Zweitens kann die radikale Gegenwärtigkeit ihrer Theologie – anders als ein inhaltlicher Rückgriff – als Vorbild für heutige Theologie dienen.
Ich versuche beide Punkte auf einmal aufzunehmen. Die Sölle-Forschung steht noch am Anfang. Insofern haben bestimmte Aussagen zu ihrem Werk ganz klar thesenartigen Charakter. Meine These ist: Die grundlegende Theorie ihres Denkens ist die der existenzialen Interpretation nach Rudolf Bultmann. Im Kern bedeutet das, Bibel und eigenes Leben unmittelbar aufeinander zu beziehen. In der Begegnung mit dem Text trifft die Sache (so Bultmanns Wort), man könnte auch sagen das Evangelium, auf meine aktuellen Fragen, und es bildet sich ein neues Verständnis des eigenen Lebens. Nun mag meine These einerseits nicht überraschen. Dass Bultmann einer ihrer wichtigsten Lehrer war, hat sie selbst öfter betont und ist seitdem auch immer wieder geschrieben worden. Andererseits gibt es durchaus würdige Alternativen: Welche Rolle spielte Friedrich Gogarten (1887–1967)? Welche Rolle Bertolt Brecht (1898–1956)? Karl Marx (1818– 1883)? Martin Buber (1878– 1965) und Meister Eckhart (ca. 1260– 1328)? Und das sind nun nur die offensichtlichsten Kandidaten. Dorothee Sölle lernte Bultmanns Denken schon zu ihren Schulzeiten kennen. Es wurde vermittelt durch ihre Religionslehrerin Marie Veit, die bei Bultmann promoviert hatte. In ihren autobiografischen Aufzeichnungen lässt sich lesen, dass in dieser Zeit auch Heidegger und Sartre wichtige Impulsgeber waren. Aber Bultmann ist der Denker, auf den sie immer wieder verweist. Das lässt sich bis 1971 leicht zeigen und bleibt auch danach deutlich.
Von Sölles erster bekannter Publikation Dekomposition1 (1954) bis zu ihrem Buch Politische Theologie. Eine Auseinanderset zung mit Rudolf Bultmann2 (1971) kommt sein Name in allen wesentlichen Beiträgen meist explizit als Referenz vor, und wenn nicht, steht er implizit im Hintergrund. Der erste veröffentlichte Text von 1954, gemeinsam mit ihrem ersten Mann Dietrich Sölle verfasst und im Heft Zeitwende. Die neue Furche erschienen, ist ein gutes Beispiel dafür, wie produktiv Sölle mit Bultmanns Theorie umging und wie sehr diese ihr gesamtes Denken prägte – eben nicht nur in theologischen oder gar exegetischen Fragen, sondern eigentlich in allen Fragen, die sie sich in ihren Schriften stellte. Es geht in diesem Text vordergründig um die damals sogenannte moderne Kunst; die beiden Autor*innen gehen auf Werke von Kandinsky, Miró, Picasso, Arp und Paul Klee ein. Sie versuchen der Leser*innenschaft sozusagen den Sinn einer Kunst zu erklären, die keiner klassischen Komposition mehr folgt. Hintergründig allerdings ist der Text eine Anwendung der Bultmann’schen «existenzialen Interpretation» auf Beispiele der bildenden Kunst und Literatur. Die Sölles unternehmen gemeinsam etwas, was sehr an Dorothee Sölles kurz zuvor erfolgte Promotion in Literaturwissenschaft erinnert. Hier hatte sie neben der Anwendung der «werkimmanenten Interpretation» ihres Doktorvaters Wolfgang Kayser vor allem eine Art existenziale Interpretation über die Nachtwachen von Bonaventura (Literatur aus dem frühen 19. Jahrhundert) erarbeitet.3
In beiden Fällen ist die Pointe des Unterfangens klar ausgedrückt: Es geht darum, den Gegenstand der Betrachtung nicht in einem übergeschichtlichen, zeitlosen Sinne zu betrachten, sondern die Autorin und der Autor wollen «in ihm die Möglichkeiten des menschlichen Daseins aufspüren, geleitet von der Frage nach dem eigenen Dasein» (S. 729). Dies ist eine reine Beschreibung. Es gibt hier kein inhaltliches Interesse. Nur an einer Stelle, am Ende des Aufsatzes, gehen sie darauf ein, was das konkret in Bezug auf die «moderne Kunst» heissen soll. Diese konfrontiert mit dem Nichts.
In Heideggers Hauptwerk Sein und Zeit finden sich genau diese Gedanken, die die Sölles hier als existenziale Interpretation der modernen Kunst einführen – und Heidegger war einer der wichtigsten (oder der wichtigste – hier wird gestritten) Einfluss Bultmanns. Auch Heideggers Konzept ist inhaltlich unbestimmt. Es ist eine Art Baukasten, mit dem sich eine konkrete Theorie bauen lässt. Dass diese in komplett gegensätzliche Richtungen konkretisiert werden kann, zeigt sich alleine daran, dass beispielsweise der von Heidegger massiv geprägte JeanPaul Sartre seinen marxistisch-linken Existenzialismus hier ansetzen konnte, während immer wieder diskutiert wird, ob nicht gerade die Nähe Heideggers zu den Nationalsozialisten in seiner Philosophie schon mit angelegt ist. Von ganz links bis ganz rechts – beides geht mit dem Konstrukt des Denkens Heideggers. Denn die einzige inhaltliche, man könnte auch sagen ethische, Konkretion in Sein und Zeit ist der Tod, oder anders ausgedrückt eben: das Nichts.
In Heideggers berühmter Gewissensauslegung in Sein und Zeit wird deutlich, was das inhaltlich heisst. Das Gewissen ruft das Dasein zu sich selbst. Das Dasein jedoch ist als «Sein zum Tode» bestimmt. Das bedeutet, es ist nichts als seine eigene Vergänglichkeit. Das Gewissen sagt, konkret und übersetzt: Du wirst sterben.
Für die Ethik bedeutet das vor allem: Du selbst als vergängliches Dasein bist die Instanz, die dein Handeln beurteilt und nichts sonst. Nun, aber was macht ein Mensch aus die sem Hinweis? Was bedeutet das für die Ethik? Viele Möglichkeiten kommen hier in den Sinn; von den egozentrischsten bis zu den sozialsten Reaktionen ist hier alles möglich. Es liegt am Dasein selbst, also an jedem Einzelnen selbst, hier eine Reaktion zu finden.
Die Sölles nehmen diese Gedanken auf, wenn sie im erwähnten Aufsatz zum Schluss noch einmal schreiben, was sie unter der Dekomposition als Methode der modernen Kunst verstehen: «Wenn die Dekomposition Konfrontation des Menschen mit dem Nichts ist, dann konfrontiert sie in eins damit den Menschen mit sich selbst. Wohin gerät er dabei? Er hält die Geschichte aus, d. h. er setzt sich ihr aus, nämlich der Verantwortung, in die ihn das Unsichtbare ruft. Er hält sie aus als das Zukünftige, das, was auf ihn zukommt. Wir wagen es, dieses Sichaussetzen ‹Hoffnung› zu nennen.» Konkreter wird es hier noch nicht, auch wenn diese Betonung der Hoffnung und der Zukunft natürlich schon an spätere Gedanken von Dorothee Sölle erinnern. Erst ab den 1968er Jahren beginnt Dorothee Sölle die leeren Begriffe «Hoffnung›» und «Zukunft» mit konkreten Ideen zu füllen. Sie tut das, indem sie aktuelle politische Missstände (oder genauer: das, was sie dafür hält) identifiziert und eine Perspektive der Besserung ausmalt. Die «Quellen», auf die sie sich dabei bezieht, dienen ihr als Anregung, Stichwortgeber, Meditationsgrund lage für die eigene existenziale Interpretation.
Warum betone ich diesen Aufsatz so genau? Es zeigt sich in ihrem ersten öffentlichen Text ein Charakteristikum ihres Denkens und Schreibens, das sich, so meine These, bis zu ihrem letzten grossen Buch Mystik und Widerstand4 von 1997 durchzieht. Ob es nun Gemälde sind (wie in dem genannten Aufsatz), erzählende Literatur (wie in der Dissertation und dann besonders auch in der Habilitation) oder Geschichten aus der Heiligen Schrift oder die Erfahrungen der Mystiker – die Stoffe dienen zum Aufdecken «der Möglichkeiten des menschlichen Daseins [...] geleitet von der Frage des eigenen Daseins», wie es eben schon in ihrer ersten Publikation heisst. Damit lassen sich die genannten «Quellen» je nach dem Moment und dem Rezipienten, der Rezipientin unterschiedlich interpretieren. Sie müssen ihre Qualität immer wieder neu erweisen. Nun, zwanzig Jahre nach ihrem Tod, ist Dorothee Sölle selbst zur Quelle geworden. Sie schreibt nicht mehr in unsere Zeit hinein, kann sich ihre Themen nicht mehr von der Nachrichtenlage vorgeben lassen. Wenn jemand im Jahr 2023 auf die Idee kommen möchte, mit Sölle nicht nur historische Theologie zu betreiben, sondern sie auch für die Gegenwart oder gar für die Zukunft zu verwerten, dann wäre es ganz im Sinne ihrer Schriften, eine existenziale Interpretation von Sölle Schriften zu unternehmen. Wer einen solchen Weg gehen will, sollte redlich genug sein, auf den hermeneutischen Zirkel hinzuweisen, der diese Interpretation beschreibt: Das, was ich am Ende bei Sölle finden werde, steckt zu einem Teil bereits in meiner Fragestellung. Und was würde sie nun den Waffenlieferungen und zu Lützerath sagen? Lesen Sie sie und fragen Sie sich dann selbst.●
Dietrich und Dorothee Sölle: Dekomposition. In: Zeitwende. Die neue Furche. November 1954, S. 728–741.
Dorothee Sölle: Politische Theologie. Auseinandersetzung mit Rudolf Bultmann. Stuttgart 1971; erweiterte Neuausgabe Stuttgart 1982.
Dorothee Sölle: Untersuchungen zur Struktur der Nachtwachen von Bonaventura. Göttingen 1959.
Dorothee Sölle: Mystik und Widerstand – «Du stilles Geschrei». Hamburg 1997.
*1984, ist seit März 2023 theologischer Redakteur beim Evangelischen Magazin Chrismon. Zuvor war er acht Jahre lang wissenschaftlicher Mitarbeiter für Systematische Theologie an den Universitäten Giessen, Leipzig und Köln. Er promovierte über die Todesdeutung im Protestantismus des 20. Jahrhundert. Sein Buch über Dorothee Sölle erscheint im Sommer 2023 in der Evangelischen Verlagsanstalt.