Die «Kritik» springt aus dem Untertitel der Neuen Wege – «Religion, Sozialismus, Kritik» – gleich doppelt raus. Anders als «Religion» und «Sozialismus» bezeichnet der Begriff zunächst keine dritte umfassende weltanschauliche oder ideologische Option. Mit einer geläufigen Unterscheidung liesse sich sagen: «Religion» und «Sozialismus» haben primär materialen Charakter, sie gehen auf bestimmte Inhalte; die «Kritik» hat dagegen formalen Charakter, sie verweist auf eine bestimmte Umgangsweise mit Inhalten welcher Art auch immer. Die zweite Sonderstellung: Die «Kritik» erscheint in der Trias an letzter Stelle.
Lässt man sich auf eine Titelanalyse dieser Art ein, stellen sich unweigerlich Anschlussfragen: Was hat es mit der Abfolge der Begriffe genauer auf sich? Weil unsere Sprache Zeichen braucht und diese Zeichen Raum, müssen sie ja wohl oder übel gereiht werden. Diese Reihung, so oder anders, lässt sich aber immer auch so oder anders interpretieren. Ist aus der Platzierung eine Hierarchie abzuleiten? Zuerst das wichtigste Element, dann die nachgeordneten Elemente? Aber was ist mit der gegenläufigen Ordnung? Hat man es vielleicht mit einem begrifflichen Crescendo zu tun, einer Steigerung hin zum letzten Element? Oder sollte man die Abfolge an sich nicht überbewerten? Liegt das Gewicht vor allem auf der Auswahl respektive dem Zusammenspiel der Begriffe?
Unabhängig vom Aspekt der Abfolge und ihrer denkbaren Gewichtung wird man im gegebenen Fall mindestens an der Sonderstellung der «Kritik» festhalten können: Sie verweist in eine andere Richtung als «Religion» und «Sozialismus». Diese andere Richtung, sehr vorläufig als «formal» charakterisiert, soll im Folgenden genauer ausgeleuchtet werden.
Kritik ist zunächst ganz normal – und damit überall. Sie begegnet uns beim versalzenen Abendessen ebenso wie in der Migrationspolitik, nach dem Kinobesuch ebenso wie in der Theoriebildung. Sie bildet einen «konstitutiven Bestandteil der menschlichen Welt- und Selbstverhältnisse»1. In unserem individuellen wie kollektiven Lebensvollzug treffen wir zwangsläufig auf Umstände, die uns unbefriedigt lassen, die unsere Möglichkeiten oder diejenigen anderer einschränken – Umstände, die wir verändern möchten, aber nicht unbedingt können. Kritik lässt sich damit in allgemeinster Form als eine «transformative Praxis» bestimmen, genauer als «begründete Infragestellung und Distanzierung von bestehenden Praktiken und Institutionen mit dem Ziel ihrer Abschaffung […] oder Transformation»2. Mit dem Element der Begründung geht man aber bereits einen Schritt weiter. Man bewegt sich von einer allgemeinen Bestimmung zu einem normativ angereicherten Ideal der Kritik. Hier wird deutlich: Einerseits beruht die Kritik als transformative Praxis auf Normen; sie verdankt sich Massstäben, deren Geltung im betreffenden Moment in Anspruch genommen wird. Andererseits wird auch die Kritik selbst an Normen gemessen, an Regeln des «richtigen» Kritisierens, exemplarisch greifbar im Imperativ, man möge dies doch bitte «konstruktiv» oder eben «begründet» tun.
Die Normalität und Allgegenwart der Kritik geht allerdings mit einer geistesgeschichtlichen Sonderstellung einher: Sie wird bekanntlich zum Kampfbegriff der Aufklärung. «Unser Zeitalter», so Immanuel Kant, «ist das eigentliche Zeitalter der Kritik, der sich alles unterwerfen muss. Religion, durch ihre Heiligkeit, und Gesetzgebung, durch ihre Majestät, wollen sich gemeiniglich derselben entziehen. Aber alsdann erregen sie gerechten Verdacht wider sich und können auf unverstellte Achtung nicht Anspruch machen, die die Vernunft nur demjenigen bewilligt, was ihre freie und öffentliche Prüfung hat aushalten können.»3 Damit wird die Kritik zu einer Grundhaltung: keine «Achtung» ohne vorgängige vernunftgeleitete «freie und öffentliche Prüfung». Die absolut gesetzte aufklärerische Kritik muss sich aber nicht nur an den ihrerseits absolut gesetzten Ordnungen der Religion oder Politik reiben. Sie richtet sich zwangsläufig auch auf sich selbst, sie muss selbstkritische Kritik werden. Entsprechend geht aus der Kritik der Aufklärung die Kritik an der Aufklärung hervor. Das «Kritische» wird auf dieser Linie, allerdings mehr an Marx als an Kant anschliessend, auch zur Selbstbezeichnung einer materialistischen Gesellschaftstheorie: der «Kritischen Theorie». Und in dieser Denktradition werden, wie gleich auszuführen ist, wiederum eigenständige Theorien der Kritik formuliert.
Was Kritik als Grundhaltung ausmacht, lässt sich aber auch jenseits der angedeuteten geistes- und philosophiegeschichtlichen Kontexte ausbuchstabieren: durch eine Verdoppelung des Kritik-Begriffs. An die Seite der deutlich normativ geleiteten Negativkritik – der Benennung von Mängeln und Versäumnissen –, die also immer einen appellativen Zug hat («Mach es anders!», «Hättest du es doch anders gemacht!»), tritt dann ein neutralerer zweiter Begriff. Er kann die Wortgeschichte für sich in Anspruch nehmen. Die primäre Bedeutung des griechischen Verbs krinein lautet schlicht «unterscheiden». Eine kritische Haltung ist damit zunächst eine unterscheidende Haltung, ein Zugriff, der sich unterscheidend und Unterschiede wahrnehmend einer Sache zuwendet. Weil diese Sache aus gewissen Gründen interessiert, ist diese Wahrnehmung aber immer selektiv, also nie umfassend und auch nie «rein beschreibend». Sie ist ihrerseits normativ angereichert, da sie von vornherein auf bestimmte im gegebenen Fall für relevant erachtete Unterschiede aus ist. Aber gerade dieses Wissen um normativ angereicherte Vorentscheidungen erlaubt es, die negativ- oder auch positivkritischen Urteile zugunsten einer möglichst «freien Prüfung» aufzuschieben, um die immer fällige unterscheidende Kritik nicht durch eine allzu schnelle bewertende Kritik zu beeinträchtigen. Hält man sich an diesen doppelten Kritik-Begriff, der vom Beschreiben zum Bewerten geht (und idealerweise wieder zurück zum genaueren Beschreiben und zur nuancierteren Bewertung), stehen nie nur die fremden Unterscheidungen (an der jeweiligen Sache, an anderen Bezugnahmen auf diese) zur Debatte, sondern immer auch die eigenen, die man mitbringt. Sie hören damit auf, selbstverständlich und alternativlos zu sein.
Über diese Grundhaltung lässt sich in der Kritiktheorie, wie sie unter anderem in der Tradition der Kritischen Theorie betrieben wird, viel lernen, etwa bei der Sozialphilosophin Rahel Jaeggi (*1966). Sie hat breit wahrgenommene Beiträge zur Sache vorgelegt, unter anderem den dichten Aufsatz Das Ende der Besserwisser (2015). Jaeggis Verteidigung der Kritik in elf Punkten dient im Folgenden als Leitfaden, wird jedoch auf fünf Punkte konzentriert. Diese bieten eine einfache theoretische Entfaltung der Infrastruktur der Kritik.
Akteur*innen – Die erwähnten Beispiele des Abendessens, der Migrationspolitik, des Kinobesuchs und der Theoriebildung machen es deutlich: Kritik wird in denkbar verschiedenen sozialen Kontexten ausgeübt. Es treten verschiedenste Akteur*innen mit verschiedensten Verantwortlichkeiten und Kompetenzen zur Kritik an, und diese Kritik richtet sich wiederum an verschiedenste Adressat*innen. Die Akteur*innen mögen Individuen sein oder Kollektive, mit formellen oder informellen Zuständigkeiten: In Bezug auf die normbezogene Begründung der Kritik ist es fast wichtiger, ob beziehungsweise in welchem Grad und in welcher Mittelbarkeit die Kritiker*innen vom Kritisierten betroffen sind. Agieren sie, schematisch gesagt, aus einer unmittelbaren Teilhabe an den jeweiligen Verhältnissen? Oder tun sie das aus der mittelbareren solidarischen Begleitung? Aber auch auf der Adressat*innen-Seite lassen sich verschiedene Nähe- und Distanzverhältnisse unterscheiden: Wie unmittelbar sind die Adressat*innen für die kritisierten Verhältnisse verantwortlich? Und wie effektiv könn(t)en sie diese damit auch verändern?
Medien in menschlichen Kontexten – Kritik muss sich artikulieren, um wirksam zu werden: als Argument oder Stinkefinger, als Flugblatt oder Rezension, als Streik oder Sabotage. Die Medien der Kritik sind also ausgesprochen vielfältig. Sie nutzt nicht nur sprachliche Kommunikation, sondern auch symbolische. Ihre Mittel bewegen sich einerseits auf einer Skala zwischen expliziten und impliziteren Formen, andererseits (gerade in politischen Kontexten) auch auf der zwischen Legalität und Illegalität. Die Vielfalt der Medien verweist aber zugleich auf eine Art untere Grenze der Kritik: Sie hat ihren Ort in den «menschlichen Welt- und Selbstverhältnissen»4. Nur dort gibt es über die spezifisch menschlichen Handlungsspielräume die Möglichkeit, falsch, unangemessen und damit kritikwürdig zu agieren. Mögen sie uns auch missfallen: Weder das Wetter noch die Schwerkraft sind geeignete Kandidat*innen für Kritik.
Normen und Gründe – Das Wetter und die Schwerkraft verhalten sich nämlich indifferent zur normativen Dimension, die zur Kritik antreibt. Nur durch diese Normbindung kann sie zeigen, dass etwas nicht so ist, wie es sein sollte. Die Kritik bewegt sich aber nicht nur im «Raum des Normativen». Weil Normen immer im Plural auftreten und miteinander im Widerstreit liegen, ist dieser Raum wenigstens idealerweise immer auch ein «Raum der Gründe»5. Durch das Geben von Gründen werden Normen und Normanwendungen nachvollziehbar und damit ihrerseits kritisch verhandelbar. Eine grundlegende normative Dimension der Kritik liegt aber auch in dem, was Jaeggi auf die Formel einer «Dissoziation aus der Assoziation»6 bringt. Der Gedanke ist der einer unhintergehbaren Bezogenheit von (Akteur*innen der) Kritik und Kritisiertem. Die Kritik zeugt von einem fundierenden Interesse an der Sache, einer «skin in the game». Damit erscheint die Kritik als ein dritter Raum neben Konflikt und Übereinstimmung: «Pure Dissoziation ist Konflikt; pure Assoziation ist Übereinstimmung. Kritik aber stiftet einen Zusammenhang, in dem der Konflikt als Beziehung ausagiert wird.»7
Typen – Vor dem Hintergrund der Normbindung jeder Kritik wird nun auch Jaeggis Typologie der Kritikformen nachvollziehbar. Diese basiert nämlich auf der Frage, woher in einem gegebenen Fall der normative Massstab stammt. So kommt Jaeggi zur Unterscheidung von interner, externer und immanenter Kritik.
Im Fall der internen Kritik liegt der kritische Massstab im Kritisierten selbst. Sie hat insofern Erinnerungscharakter, sie mahnt eine Norm an, welche die betreffenden Akteur*innen «an sich» als gültig affirmieren: «Der christlichen Gemeinde, die gegen ein Flüchtlingsheim protestiert, kann man vorwerfen, ihr eigenes Ideal von Nächstenliebe zu verletzen.»8 Der interne Kritiktypus hat somit einen konservativen Zug: Er zielt nicht auf eine neue Ordnung, sondern auf die Wahrung und Realisierung einer vernachlässigten alten.
Damit ist andeutungsweise bereits klar, worin die Eigenart der externen Kritik liegt: Sie misst «eine bestehende Praxis oder Institution an Ansprüchen, die über die in ihr angelegten oder geltenden Prinzipien hinausgehen und an die existierende soziale Formation von aussen herangetragen werden»9. Indem diese Kritik nicht von der Existenz positiver Anknüpfungspunkte abhängig ist, hat sie einen progressiven Zug: «Wo […] der interne Kritiker behauptet hatte, dass die frauenfeindliche institutionelle Praxis der katholischen Kirche die tiefere Bedeutung des christlichen Glaubens verfehle, kritisiert der externe Kritiker die katholische Kirche anhand der normativen Ideale von Gleichberechtigung und Emanzipation, egal ob sich eine Auslegung der heiligen Schrift finden lässt, die diese stützt.»10
Beide Typen, der interne wie der externe, haben offensichtliche Vor- und Nachteile. Der interne scheint bei schneller Betrachtung bessere Aussichten auf Erfolg zu haben, muss er doch die angelegte Norm nicht eigens begründen. Diesem Vorzug steht entgegen, dass die Anrufung einer internen Norm vielleicht nicht möglich ist oder – gravierender –, dass die betreffende Norm in ganz anderer Weise interpretiert wird. Man denke an die Schwierigkeit, konsensuell zu bestimmen, wie «Nächstenliebe» genauer zu bestimmen und konkret zu leben sei. Was der internen Kritik fallweise fehlt, ist damit gerade ihr normatives Fundament. Wenn die externe Kritik problemlos über dieses verfügt, so kann sie, im Gegenzug, leicht am fehlenden Rückhalt «vor Ort» scheitern und wirkungslos bleiben. Die herangetragenen Normen werden durch «kontextualistische […] Einwände»11 zurückgewiesen; sie lassen sich leicht als besserwisserisch oder gar autoritär diskreditieren. Selbst die Menschenrechte können als westlicher Partikularismus infrage gestellt werden. Auf diese Gemengelage – «Beschränktheit der normativen Reichweite und Gebundenheit an das Bestehende […] auf der einen Seite, Unwirksamkeit und Besserwisserei auf der anderen» – reagiert Jaeggi mit dem Vorschlag eines dritten Kritiktypus, der diese «spiegelbildlichen Defizite»12 bestenfalls hinter sich lässt: die immanente Kritik.
Im Gegensatz zur internen Kritik, die an explizit geltenden (respektive gelten sollenden) Normen orientiert ist, richtet sich die immanente an der «impliziten Normativität» sozialer Praktiken aus: «Die Normen und Ideale sind in einem solchen Fall nicht etwa nicht verwirklicht, sie sind verwirklicht und sie sind in der sozialen Realität wirksam – aber sie sind gerade als wirksame widersprüchlich, verkehrt oder defizitär.»13 An Beispielen, die Jaeggi zugleich als Ausdruck kapitalistischer Normen gelten: «Wenn Verantwortung gleichzeitig zugeschrieben und untergraben wird, Kreativität eingefordert und Konformität erzeugt wird, so lässt sich das als widersprüchliche Struktur auffassen.»14 Immanente Kritik setzt an dieser Widersprüchlichkeit oder auch «Krise» an, um aus ihr eine Energie zu gewinnen, die beides verändert: die Wirklichkeit und die Norm, der diese folgt.
Jaeggis Typologie ist nun sicher nicht im Sinn harter Alternativen zu verstehen, sie beschreibt kein Entweder-oder-oder. Anspruchsvolle und insofern «gute» Kritiken leben vielmehr davon, dass sie mehrere Strategien koppeln, um damit ein besonders dichtes Begründungsnetz zu knüpfen. Um die jeweilige Kombinatorik und damit auch allfällige Dominanzen (etwa: primär extern, zunächst intern) nachzuvollziehen, müssen die drei Idealtypen jedoch erst unterschieden werden. Die argumentativ anspruchsvollsten Kritiken sind im Handgemenge aber offensichtlich nicht zwingend die erfolgreichsten. Wie die Politik oder auch der Literaturclub zeigen: Kritik wird leicht zum Spektakel. Die Kritikerin bekommt Beifall, weil sie auf kleinteilige oder mehrgleisige Begründungen gerade pfeift, weil sie die eigenen Normen und Urteile als einzig mögliche präsentiert, weil sie andere Positionen ignoriert oder pathologisiert.
Jaeggis kritiktheoretischer Entwurf hält sich nah an der realexistierenden Praxis der Kritik. Sie verfolgt diese aber nicht in Richtung des praktischen Vollzugs im engeren Sinn. In dieser Hinsicht, die andere Perspektiven öffnet, führt der Entwurf des analytischen Philosophen und Ästhetikers Noël Carroll (*1947) weiter. Seine Überlegungen gelten der Praxis der Kunstkritik, doch haben sie einen Abstraktionsgrad, der sie zugleich zu einem substanziellen Beitrag der allgemeinen Kritiktheorie macht. Ein Schlaglicht auf Carrolls On Criticism (2009)15 gibt auch weitere Auskunft über die Frage, was eine Kritik zu einer guten Kritik macht.
Carroll ist sich mit Jaeggi einig: Kritik kommt von Werten her und zielt auf Bewertung ab. Carroll gibt der Evaluation aber zugleich einen spezifischen Ort innerhalb eines ausdifferenzierten idealtypischen Verfahrens. Dieses Verfahren, diese Folge von Teilpraktiken, macht plausibel, weshalb er die gute Kritik als «reasoned evaluation» – begründete Bewertung – bestimmt: «Das Kritisieren umfasst viele Tätigkeiten, darunter die Beschreibung, Klassifizierung, Kontextualisierung, Erläuterung, Interpretation und Analyse […]. Zusätzlich zu diesen Verfahren beinhaltet die Kritik aber auch eine begründete Bewertung. Diese anderen Tätigkeiten […] dienen […] genau dem Zweck, dem Kritiker/der Kritikerin eine Grundlage für seine/ihre Bewertung […] zu liefern.»16 Die Bewertung ist, so gesehen, keine weitere Teilpraktik, sondern das Ziel, auf das alle anderen funktional ausgerichtet sind.
Um Carrolls Zugang richtig zu verstehen, sind jedoch zwei weitere Punkte entscheidend: Die Funktion der Begründung wird nicht nur durch eine umfassende Realisierung aller Teilpraktiken eingelöst. Fallweise mag auch nur eine einzige zur begründeten Bewertung genügen: «Die Kritikerin stützt sich bei ihrer Beurteilung auf die Beschreibung und/oder Kontextualisierung und/oder Klassifizierung und/oder usw.»17 Und zweitens ist auch die Abfolge der Teilpraktiken für die Begründungsfunktion nicht entscheidend, weder im Vollzug (der Erarbeitung der Kritik) noch in der Darstellung. Die Bewertung bildet also nur logisch das letzte Glied. Wie etwa Literaturkritiken zeigen, steht sie in der Darstellung oft (auch) an erster Stelle, nämlich als Teaser im Titel oder Lead. Die Begründung der Bewertung via Kontext, Klassifikation, Beschreibung, Interpretation etc. wird dann mehr oder weniger geordnet im Haupttext nachgereicht.
Mit seiner Hinwendung zu diesen Teilpraktiken, ihrer funktionalen Beziehung, der Unterscheidung von Vollzug und Darstellung gibt Carroll Hinweise, die über die Kunstkritik hinaus produktiv sind – und Jaeggis Entwurf an entscheidender Stelle ergänzen. Beide Beiträge zeigen, was Theorie im besten Fall leistet: Sie bildet einen Widerstand, an dem man sich abarbeiten kann. Sie macht Angebote, um eine Praxis, die man bereits vollzieht, besser zu verstehen und damit noch besser zu vollziehen, sei es in Übernahme oder Abgrenzung.
Was heisst es nun aber, wenn die «Kritik» im Untertitel der Neuen Wege nach «Religion» und «Sozialismus» an dritter Stelle erscheint? Wäre die Interpretationsalternative die zwischen Crescendo und Decresendo, wählte man, motiviert durch die Kritiktheorie, fraglos das Crescendo: Die Kritik steht am Ende genau richtig, sie holt durch Unterscheidung und Bewertung das Beste aus Religion und Sozialismus heraus.●
Weiterführende Literatur
Georg W. Bertram: Die Freiheit des Verstehens. Eine hermeneutisch-kritische Theorie. Berlin 2024.
Robin Celikates: Die Macht der Kritik. Soziale Kämpfe, widerständiges Wissen und Kritische Theorie. Berlin 2024.
Max Horkheimer: Traditionelle und kritische Theorie. In: Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 4, Schriften 1936–1941. Frankfurt a/M 1988, S. 162–216.
Andreas Mauz: ERZÄHLKRITIK als hermeneutisches Programm – auch der Theologie. In: Johannes Grössl, Ulrich Riegel (Hrsg.): Die Bedeutung von Gläubigen für die Theologie. Stuttgart 2023, S. 137–160.
Rahel Jaeggi: Das Ende der Besserwisser. Eine Verteidigung der Kritik in elf Schritten. Kursbuch 51 (2015), 152, S.78–96, S.79.
Ebd.
Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft. Nach der ersten und zweiten Original-Ausgabe neu herausgegeben von Raymund Schmidt. Hamburg 1956, S. 7 (Vorrede zur ersten Auflage).
Rahel Jaeggi (siehe Anm. 1), S.81 (meine Hervorhebung).
Ebd., S. 84.
Ebd., S. 85.
Ebd., S. 85 f.
Ebd., S. 88.
Ebd.,S.89.
Ebd.
Ebd., S. 91.
Ebd.
Ebd., 93.
Ebd.
Noël Carroll: On Criticism. New York 2009.
Ebd., S. 13 f. (meine Übersetzung).
Ebd., S. 84 f.
*1973, ist Literaturwissenschaftler und Theologe und Teil der Neue Wege-Redaktion.