Über ein Jahr lang hatten wir uns intensiv mit den Vorbereitungen für das bisher grösste Projekt der Neuen Wege beschäftigt. Anfang Oktober war es endlich so weit: Das Festival hope.fight.love – 150 Jahre Clara Ragaz fand statt! Mehr als 700 Menschen kamen während drei Tagen in den Räumen der Citykirche Offener St. Jakob in Zürich zusammen zu intensiven Gesprächen und anregenden Begegnungen. Es wurde nachgedacht, ausgetauscht, zugehört, geforscht, hinterfragt, gelacht, geweint, gebetet und getanzt.
Die Neuen Wege wollen im Laufe des Jubiläumsjahrs zum 150. Geburtstag von Clara Ragaz möglichst viele Menschen mit Clara Ragaz bekannt machen und ihr Handeln, Denken und Wirken aus dem Schatten ihres Mannes Leonhard Ragaz holen. Das Interesse daran war schon bei Veranstaltungen vor dem Festival gross. Dass sich der Anschluss an Clara Ragaz im Heute lohnt, zeigten die Rückmeldungen zum Festival. Viele Menschen äusserten, dass sie seit längerem nicht mehr an einer grösseren Liveveranstaltung gewesen seien und wie gut es ihnen getan habe, so intensiv in Gespräche und Begegnungen eintauchen zu können. Das Festival wurde als stärkend, motivierend, ermutigend erlebt – das freut uns sehr, war doch genau das das erklärte Ziel.
Eine Tafel, welche an der Eröffnungsveranstaltung des Festivals mit einer Botschaft der Zürcher Stadtpräsidentin Corine Mauch eingeweiht wurde, macht nun an der Gartenhofstrasse 7 auf das Wirken von Leonhard und Clara Ragaz und auf die Geschichte des Hauses aufmerksam.
Dieses wichtige Stück Erinnerungskultur, welches Sichtbarkeit im öffentlichen Raum schafft, konnte dank der Familie Ragaz, den Neuen Wegen und der Genossenschaft Wogeno, der das Haus heute gehört, umgesetzt werden. Mit beschwingten Klängen des Orchesters Alpenglühn und Einblicken in die Liebeskorrespondenz des Paares Ragaz wurde dieser Meilenstein heiter gefeiert.
Ein Teil der Besucher*innen besuchten mit dem Stadtgeografen Hannes Lindenmeyer den Gartenhof schon während des Festivals. Auf einer Quartierführung zum Anfang und zum Ende des Festivals setzten sie sich dabei nicht nur mit Clara Ragaz, sondern mit Spuren von vier weiteren starken linken Frauen aus der Zeit rund um den Ersten Weltkrieg in Zürich auseinander: Mentona Moser, Paulette Brupbacher, Rosa Bloch und Alice Guggenheim.
In vielfältigen Workshops konnten neue Impulse für eine gerechtere Welt im Heute entwickelt werden. Alle Workshops waren sehr gut besucht und von einer lebendigen Atmosphäre geprägt. Die Fragen aus den Workshops werden uns weiter beschäftigen: Wie können sich Alternativen zum Kapitalismus aus der Nische heraus bewegen? Sind humanitäre Korridore in grösserem Stil umsetzbar, damit Menschen sich nicht auf die tödlichen, traumatisierenden Fluchtrouten machen müssen? Wie bleibt Parteipolitik in Verbindung mit Sozialen Bewegungen ein Stachel im Fleisch und nicht blosses Gerangel um Macht? Wie gehe ich mit meiner Erschöpfung im Aktivismus um? Welche konkrete Friedensarbeit leisten Frauennetzwerke, und wie kann ein Sicherheitsbegriff verankert werden, der auch Sorgearbeit, Beziehungen und die Überwindung von Gewaltverhältnissen im Alltag umfasst? Wie kann Soziale Arbeit gerade in Zeiten des verschärften Leistungs- und Ausgrenzungsdenkens und staatlicher Sparübungen auf dem Buckel der Schwachen als gesellschaftskritische Menschenrechtsprofession betrieben werden? Welche akademische Forschung rund um Clara Ragaz sollte erfolgen?
Im Foyer des Kirchgemeindehauses war es wuselig-lebendig: An Ständen präsentierten sich befreundete Organisationen der Neuen Wege und warben für ihre Anliegen. In der Living Library «Auf Claras Sofa» kamen insbesondere am Nachmittag viele Menschen ins Gespräch rund um persönliche Erinnerungen an das Wirken der Familie Ragaz oder neuste Forschungsergebnisse.
Mit Şeyda Kurt und Franziska Schutzbach als Podiumsgäste, moderiert von Yves Bossart von SRF, konnten wir zwei Bestsellerautorinnen für das Hauptpodium des Festivals in der vollen Offenen Kirche St. Jakob gewinnen. Und sie waren, wie Şeyda Kurt es formulierte, «gut in Form». Sie diskutierten über Ambivalenzen von Hoffnung: Ist unsere Zeit hoffnungslos? Oder ist Hoffnung, wenn sie nicht naiv formuliert wird, sondern von Analyse und solidarischen Beziehungen genährt wird, nicht von existenzieller Bedeutung? Sie riefen auf zum Pflegen von Freundschaft, zum täglichen Kultivieren von Widerständigkeit gegen rechte, autoritäre Strukturen und kapitalistische Konkurrenz. Und sie verknüpften überraschenderweise linken Widerstandsgeist auch mit religiöser Sprache. Schauen Sie sich das Gespräch auf unserem Youtube-Kanal an.
Dass sich danach eine grosse Anzahl der Gäste in der Alten Kaserne zum intergenerationalen Tanzen traf, war eine besondere Freude. Der feministische Hip-Hop von Big Zis und DJ Scarlett war nichts anderes als eine weitere Umsetzung des Festivalmottos: hoffen, kämpfen, lieben!
Der abschliessende Gottesdienst in der Citykirche – ein Ritual, um Hoffnung zu kultivieren – war ein solcher Raum, der Bestärkung, der aber auch allen Gefühlen von Trauer, Ohnmacht und Hoffnungslosigkeit Platz bot.
Die Citykirche Offener St. Jakob war für das ganze Festival eine wunderbare Kooperationspartnerin. Ihr sozialpolitisches Engagement schliesst an Clara Ragaz an, die genau in dieser Kirche am sozialistischen Frauentag 1919 den Vortrag Die Revolution der Frau hielt, von dem am Festival immer wieder die Rede war. Die Mitarbeiter*innen der Citykirche haben mit so viel Herzblut, anpackenden Händen und gutem Geist dieses Festival möglich gemacht. Ganz besonders zum Gelingen des Festivals beigetragen haben die Frauen, die in der Herberge der Citykirche für geflüchtete Frauen und Kinder leben. Ihre Apéros waren grandios!
Es freut uns sehr, dass die Vision, unsere thematischen Heftschwerpunkte vermehrt in Veranstaltungen und vielfältigen Formaten zu vertiefen, sich mit dem Festival bekräftigt hat: hope.fight.love – 150 Jahre Clara Ragaz hat Begegnung, Vernetzung, Aufbruchstimmung, Ermutigung und auch Bekanntheit für die Neuen Wege und die religiös-sozialistische Tradition ermöglicht. Wir danken allen Beteiligten, Mithelfenden und allen Teilnehmenden wie auch den grosszügigen Geldgeber*innen1 ganz herzlich dafür, dass das Festival zu dieser beeindruckenden Erfahrung und zu einem Meilenstein für die Neuen Wege wurde.
Wie haben Sie das Festival erlebt? Was hätten Sie sich anders gewünscht? Was ist Ihnen geblieben, wo bleiben Sie dran? Wie könnten die Neuen Wege in Zukunft öffentlich auftreten? Wir freuen uns, von Ihnen zu hören!
Dank an: Stadt Zürich Finanzdepartement, Evangelisch-reformierte Kirchgemeinde Zürich, Katholische Kirche im Kanton Zürich, Katholisch Stadt Zürich, Migros Kulturprozent, Schweizerische Reformationsstiftung, Evangelisch-reformierte Landeskirche des Kantons Zürich, Fonds für Frauenarbeit EKS, Stiftung für Erforschung der Frauenarbeit.
ist verantwortlich für die Öffentlichkeitsarbeit.
*1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.