In den letzten anderthalb Jahren habe ich so viel Hass erlebt wie nie zuvor. Nicht als Ausnahme, sondern als sich zuspitzende Normalität. Als queere, Schwarze, jüdische Person, sichtbar in der Öffentlichkeit, wach und politisch, habe ich gespürt, wie schnell sich der Wind dreht, wie scharf das Klima geworden ist. Und obwohl ich wusste, dass Nazis und Rassist*innen nie verschwunden waren, trifft mich die Brutalität der Gegenwart bis ins Mark. Vielleicht, weil sie nicht mehr am Rand steht, sondern wieder Platz bekommt – auf Podien, in Parlamenten, an Schreibtischen von Redaktionen. Es ist nicht ihre Existenz, die erschreckt. Es ist die Macht, die ihnen gegeben wird.
In diesen Zeiten frage ich mich: Was bedeutet Zugehörigkeit in Ländern, die so viele von uns nie wirklich aufgenommen haben – nur sortiert, geduldet, vereinnahmt? Was bedeutet es, sich zu beheimaten inmitten eines Systems, das die meisten von uns an die Ränder drängt? Und wie lässt sich ein solidarisches «Wir» denken, ohne dass es zu einem bequemen Konsens verkommt?
Denn das Problem liegt nicht in unseren Unterschieden. Es liegt in der Ordnung, die ihnen Wert zuweist. Wir haben uns viel zu lange abgemüht, Differenzen zu überbrücken, zu harmonisieren, zu versöhnen – als wären sie das Hindernis. Dabei sind es die Hierarchien, die uns spalten: die kolonialen, die ökonomischen, die geschlechtlichen, die kulturellen. Es ist die Macht, die entscheidet, wessen Perspektive zählt, wessen Schmerz benannt wird, wessen Geschichte erinnert wird.
Das Bild eines inklusiven «Wir» bleibt leer, wenn es darauf abzielt, alle unter eine vermeintlich neutrale Mitte zu bringen. Diese Mitte ist nicht neutral. Sie ist geformt durch weisse Normen, durch kapitalistische Wertlogik, durch nationale Erzählungen, die Ausschluss zur Bedingung von Identität gemacht haben. Beheimatung unter diesen Bedingungen ist kein Ankommen, sondern oft ein Aushalten – der Misstrauensblicke, der Zuweisungen, der täglichen kleinen Entwürdigungen.
Und doch – wir brauchen ein «Wir». Aber eines, das nicht auf Ähnlichkeit baut, sondern auf Beziehung. Auf Verbindung inmitten von Unterschieden. Nicht als Kuschelutopie, sondern als politische Praxis, die Differenz nicht glättet, sondern achtet. Die auch Spannungen aushält, Ambivalenzen, Reibung. Weil sie weiss, dass es keine Gleichheit geben kann ohne Gerechtigkeit. Und keine Gerechtigkeit ohne das Teilen von Macht.
Solidarität beginnt dort, wo wir die Komfortzonen unserer Identitäten verlassen. Wo wir aufhören, uns durch «richtige» Sprache abzusichern, und beginnen, Verantwortung zu übernehmen. Nicht performativ, nicht paternalistisch, nicht als Mittel zur Selbstveredelung, sondern als Ausdruck eines tiefen Verstehens: dass niemand frei ist, solange nicht alle frei sind. Dass ein System, das auf der Ausbeutung vieler beruht, auch diejenigen entmenschlicht, die davon profitieren.
Der Kapitalismus, so wie wir ihn kennen, ist nicht reformierbar in Richtung eines gleichwertigen Miteinanders. Er ist gebaut auf Konkurrenz, Trennung, instrumenteller Rationalität. Er braucht das Unsichtbarmachen von Fürsorge, die Abwertung des vermeintlich Schwachen, die Externalisierung von Kosten. Seine Grundlage ist nicht der Missbrauch von Macht – sie ist die Macht selbst. Und diese Macht verschränkt sich mit patriarchalen und kolonialen Logiken: in der Konstruktion des souveränen männlichen Subjekts, im Zugriff auf Körper, auf Land, auf Arbeitskraft. Das toxische Dreieck aus Kapitalismus, Patriarchat und Imperialismus ist nicht ein Problem unter vielen – es ist das strukturelle Fundament unserer Weltordnung.
In dieser Ordnung wird Selbstfürsorge zur Rebellion. Denn sie widersetzt sich der Idee, dass unser Wert durch Produktivität definiert ist. Sie bricht mit der Illusion, dass wir uns erst erschöpfen müssen, um dazugehören zu dürfen. Ein radikales «Wir» kann das «Ich» nicht ausschliessen. Es braucht Individuen, die sich kennen, schützen, regulieren – nicht um sich abzuschotten, sondern um in echte Beziehung treten zu können.
Ich träume nicht von einem Konsens. Ich will kein harmonisches Ganzes. Ich glaube nicht, dass wir je in einer Welt ohne Konflikte leben werden. Aber ich glaube daran, dass es möglich ist, in Konflikten würdig zu bleiben. Dass wir neue Formen des Zusammenlebens finden können – jenseits von Pyramiden, hin zu Kreisen. Formen, in denen wir uns nicht angleichen, sondern aufeinander beziehen. In denen Zugehörigkeit kein Ort ist, sondern eine gelebte Praxis: der Anerkennung, der Fürsorge, des Widerstands.
Beheimatung, in diesem Sinn, ist kein sentimentales «Zurück zur Erde». Es ist ein politischer Akt. Es bedeutet, Räume zu schaffen, in denen auch Zorn Platz hat. In denen auch Schmerz erzählt werden darf, ohne sofort übersetzt oder entkräftet zu werden. In denen wir kollektiv trauern können, ohne das Politische darin zu verlieren. In denen wir uns nicht zuerst fragen, wie wir uns nützlich machen, sondern wie wir uns verbinden.
Vielleicht ist dieses «Wir» noch gar nicht geboren. Vielleicht liegt seine Gestalt jenseits dessen, was wir bisher denken konnten. Aber ich glaube, dass wir es ahnen, wenn wir aufhören zu gehorchen. Wenn wir aufhören, uns kleinzumachen. Wenn wir aufhören, für Anerkennung zu kämpfen in Häusern, die nie für uns gebaut wurden. Und anfangen, eigene Räume zu bauen. Wild, widersprüchlich, verletzlich. Aber bewohnt von uns allen.●