Ich bin in Bayern geboren, in eine Familie mit sogenannter Migrationsgeschichte. Je nach Zeitgeist hatte ich wechselnde Etiketten: Mal war ich das Ausländerkind, dann die Migrantin, später Muslimin oder postmigrantisch. Eines aber blieb: Ich musste mich immer wieder erklären. Wer ich bin. Woher ich komme. Warum ich hier bin. Heimat war nie einfach da – ich musste sie mir Stück für Stück erarbeiten. Meine Zugehörigkeit war nie sicher, sondern immer verhandelbar – geduldet, angezweifelt oder instrumentalisiert.
Heute lebe ich in der Schweiz. Auch hier zeigt sich: Zugehörigkeit hängt nicht allein vom Willen zur Gemeinschaft ab. Entscheidend ist die Nähe zu oft unausgesprochenen Mehrheitsnormen: Sprache, Verhalten, Weltbild. Zugehörigkeit bleibt brüchig. Etwa wenn eine junge Frau mit Kopftuch sichtbar wird, sich politisch engagiert, öffentlich spricht und genau in diesem Moment auf eine einzige Rolle reduziert wird: als Projektionsfläche für Angst, Misstrauen oder Spott. Wenn öffentlich diskutiert wird, wessen Tote wo und wie begraben werden dürfen – als ginge es um Ordnung, nicht um Würde. Solche Debatten entmenschlichen Betroffene wie sich wiedererkennende Zuschauer*innen.
Wer auf Ausgrenzung hinweist, gilt schnell als empfindlich. Wer Unrecht benennt, als spaltend. Es wird mit zweierlei Mass gemessen: Wessen Kritik ist legitim? Wessen Schmerz zählt? Wer darf trauern und wer soll lieber schweigen? Diese Doppelstandards hinterlassen Spuren. Sie entheimaten. Nicht nur durch offene Ablehnung, sondern durch leise Signale: Du bist vielleicht hier, aber nicht wirklich gemeint. Entheimatung geschieht dort, wo Menschen gleichzeitig gebraucht werden und ihnen misstraut wird. Wo ihre Perspektiven als extrem, ihre Emotionen als übertrieben, ihre Kritik als gefährlich gelten. Wo gleiche Rechte versprochen, aber nur selektiv gewährt werden.
Kollektive Beheimatung denkt Heimat als gesellschaftliche Aufgabe neu. Nicht als Belohnung für Anpassung, sondern als gemeinschaftlich geteilte Verantwortung. Es geht nicht darum, ob Einzelne sich einfügen, sondern darum, welche Strukturen notwendig sind, damit Zugehörigkeit für alle möglich wird. Sie fragt nicht: Wer passt ins Bild? Sondern: Welche Voraussetzungen braucht eine Gesellschaft, damit alle Menschen sich sicher, sichtbar und wirksam einbringen können?
Sie zeigt sich dort, wo Menschen Verantwortung füreinander übernehmen: in Klassenzimmern, Redaktionen, Museen, Stadträten – dort, wo auch jene mitreden, die sonst übersehen oder stigmatisiert werden. Nicht nur für «ihre Gruppe», sondern für uns alle.
Kollektive Beheimatung beginnt, wo Machtverhältnisse benannt werden. Das funktioniert jenseits starrer Identitätskategorien. Denn es ist kein Zufall, wer gehört wird – und wer nur kommentiert. Wer als vernünftig gilt – und wer als Problem. Wer als «gute*r Migrant*in» durchgeht – und wer als Störung. Wer verletzlich erscheint – und wer als Gefahr. Diese Muster sind keine Ausnahmen. Sie zeigen, wie Zugehörigkeit verhandelt wird – und wer draussen bleiben soll. Macht wirkt – mal leise, mal laut. Wer bestimmt, was als «gemeinsame Erfahrung» zählt?
Kollektive Beheimatung bedeutet auch, Grenzen zu hinterfragen, nationale, kulturelle, disziplinäre. Es geht nicht um Herkunft oder Status, sondern um Haltung. Um die Bereitschaft, auch in den eigenen Kreisen Macht und Hierarchien zu erkennen und zu verändern.
Beheimatung beginnt im Kleinen. In Fürsorge. In Aufmerksamkeit. In Gesprächen ohne Bühne. In Momenten, in denen wir uns nicht nur fragen, wer wir sind, sondern wer wir füreinander sein wollen. Dort, wo Konflikt nicht das Ende von Gemeinschaft ist, sondern ihr Anfang.
Pluralität ist kein Risiko. Sie ist unsere Stärke. Kollektive Beheimatung erkennt genau das: Unsere Unterschiede sind kein Hindernis, sie können der Anfang von Gemeinschaft sein. Wenn wir Räume schaffen, in denen Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven respektvoll streiten, voneinander lernen und gemeinsam entscheiden, entsteht Vertrauen. Und Sicherheit.
Heimat, so verstanden, ist nicht das, was uns alle gleich macht. Sondern das, was uns erlaubt, verschieden zu sein – und trotzdem füreinander Verantwortung zu übernehmen.
Wir tragen uns – oder niemanden.●