Die Verfolgung der Jenischen durch das «Hilfswerk» Kinder der Landstrasse zwischen 1926 und 1973 war ein Verbrechen gegen die Menschlichkeit. So deutlich wie nie zuvor sagt dies das vom Eidgenössischen Departement des Innern in Auftrag gegebene und vom Bundesrat anerkannte Gutachten von Oliver Diggelmann im Februar 2025. Der Völkerrechtsprofessor hat auch den Tatbestand Genozid untersucht. Um Völkermord, dessen Anerkennung Organisationen von Betroffenen verlangten, handelte es sich aber seiner Einschätzung nach nicht. Damit sind nicht alle Fachpersonen einverstanden. Die Strafrechtsprofessorin Nadja Capus fragt: «Was für ein anderes Ziel könnten die Kindeswegnahmen gehabt haben als die Auslöschung der ethnischen Gruppe?» Was klar ist: Auch in der jüngeren Schweizer Geschichte gibt es Diskussion über Genozid. Genozid ist nicht nur seine schlimmstmögliche Variante, die Shoah.
Die Völkergemeinschaft versuchte aus der Shoah eine Lehre zu ziehen. Verbrechen dieser Art sollten auch in Ansätzen nie mehr irgendwo geschehen. Die Staaten einigten sich 1948 auf die UNO-Völkermordkonvention. Sie bezeichnet Handlungen als Völkermord, die in der Absicht begangen werden, «eine nationale, ethnische, rassische» – letzterer Begriff müsste aus heutiger Sicht «rassifiziert» heissen – «oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören». Bekanntes Beispiel: Das UNO-Kriegsverbrechertribunal für das ehemalige Jugoslawien stufte das Massaker von Srebrenica an muslimischen Bosniak*innen von 1995 als Genozid ein.
Dass die von Anfang an horrende Reaktion Israels auf das Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 auf einen Genozid an der palästinensischen Bevölkerung hinauslaufen könnte, war zunächst an den meisten Orten absolut unsagbar. Der Schock über den menschenverachtenden Angriff war, insbesondere in Israel und in der jüdischen Welt, logischerweise tief und dominierte die weltweite Öffentlichkeit. In den westlichen Medien, in der westlichen Politik wurden jene, die es wagten, vor einem Genozid zu warnen, sofort an den Pranger gestellt, mit heftigstem Antisemitismusverdacht stigmatisiert und mit Ausgrenzung aus dem Diskurs bestraft. Ich erinnere mich an irritierende Gespräche mit Freund*innen – kirchlichen Leuten, jüdischen Menschen, Wissenschaftler*innen, Medienschaffenden, auch aus linken Leitmedien, Parteipolitiker*innen –, in denen die Diskussion über Genozid fast um jeden Preis umschifft oder als unreflektiert propalästinensisch abgetan wurde.
Vielleicht spürten viele, welche massiven Konsequenzen es für die eigene moralische und politische Verortung hätte, mit einer Strategie des Völkermords des jüdischen Staats Israel beziehungsweise seiner rechtsextremen Regierung zu rechnen. Das daraus folgende, politisch hergestellte lähmende Schweigen bot jenen die notwendige Rückendeckung, die eine skrupellos genozidale Politik vorwärtstrieben. Die – stark von jüdischen Studierenden mitgetragenen – Proteste an den Universitäten gegen den laufenden Genozid wurden nicht nur in den USA mit massiven Schmierenkampagnen und Repression unterdrückt; sie bildeten ein rares Momentum in diesem Krieg, das weltweit die öffentliche Meinung zum Kippen hätte bringen können. Ohne Zweifel wurde «Genozid» von den einen oder anderen aus Verzweiflung über den sinnlosen Krieg in provokatorischer und demagogischer Absicht verwendet, in seltenen Fällen auch mit antisemitischen Untertönen. Aber das Sprechen über Genozid hat immer auch eine warnende und präventive Funktion. Es zu verbannen hat verheerende Folgen, wie die Lage in Gaza im Sommer 2025 zeigt.
Die Fassungslosigkeit, auch meine, wurde durch die Reaktion der westlichen Regierungen auf das Verdikt des Internationalen Gerichtshofs vom Januar 2024 noch grösser: Dass ein Anfangsverdacht auf Genozid bestehe und weiter untersucht werde, wurde von jenen, die doch gegen den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine mit dem Völkerrecht argumentierten, in den Wind geschlagen, als gäbe diese zentrale völkerrechtliche Instanz einfach eine Meinung unter anderen zum Besten. Gleichzeitig wurde die Faktenlage im live mitverfolgbaren Angriff auf Gaza immer erdrückender: die Zerstörung jeglicher Infrastruktur im Gesundheits- oder Bildungswesen, das Aushungern der gesamten Bevölkerung, die Aufrufe von Offiziellen vor laufenden Kameras zur Vertreibung oder gar Vernichtung der Palästinenser*innen.
Auch wenn die Menschen vor Ort nicht gerettet sind: Im Frühsommer 2025 dreht der Wind. Zum Beispiel zog der spanische Ministerpräsident Konsequenzen: «Wir machen keine Geschäfte mit einem genozidalen Staat.» Heute habe ich keine Zweifel mehr, dass die israelischen Kriegsverbrechen in Gaza dereinst als Genozid eingestuft werden. (Was von Gaza für seine Zukunft noch übrig sein wird, steht auf einem anderen Blatt.) Nicht nur die führenden Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International und Human Rights Watch stufen das Vorgehen Israels als Genozid ein. Nicht nur der UN-Nothilfekoordinator Tom Fletcher fragte im Mai 2025 im UNO-Sicherheitsrat: «Welche Beweise brauchen Sie jetzt noch? Werden Sie entschlossen handeln, um Völkermord zu verhindern und die Einhaltung des humanitären Völkerrechts zu gewährleisten?» Praktisch alle renommierten Genozidforscher*innen bezeichnen israelische Handlungen in Gaza in wissenschaftlichen Publikationen und in öffentlichen Stellungnahmen als Völkermord. Manche sind nach einem langen Prozess des Ringens mit den immer erdrückenderen Fakten zu diesem Schluss gekommen. Der Holocaustforscher Amos Goldberg von der Hebräischen Universität Jerusalem nennt dabei die Zerstörung Gazas als politisches, soziales und nationales Kollektiv, das systematische Herbeiführen von Bedingungen für den massenhaften Tod von Menschen, wie die Zerstörung von Krankenhäusern oder das Blockieren von humanitärer Hilfe, und schliesslich den Nachweis einer Absicht in genozidalen Äusserungen von Politiker*innen, Medienleuten, Offizier*innen und einflussreichen Rabbiner*innen.
Noch immer geht es zuerst darum, den Genozid zu stoppen und Menschenleben zu retten. Aber zentral ist die Frage an die internationale Gemeinschaft: Wie kann die palästinensische Gesellschaft – ganz individuell, angefangen bei allen traumatisierten Kindern, und gesellschaftspolitisch – einen Heilungsprozess und schliesslich Befreiung erfahren? Schliesslich wird die bohrende Frage auftauchen, wie die israelische Gesellschaft so weit kommen konnte, einen Genozid in Sichtweite zuzulassen und die offensive genozidale Rede in Politik, Medien und Gesellschaft zu normalisieren. Nicht wenige stellen sich die erschütternde Frage, ob und wie eine Gesellschaft, ein Staat – eingeschlossen natürlich die einzelnen Soldat*innen, Väter, Mütter – aus einem solchen moralischen Abgrund wieder hochkommt. In den westlichen Staaten wird sich im Rückblick die Frage stellen, wieso die Politik mehr Energie darauf verwendet hat, die Rede von Genozid als den tatsächlichen Genozid zu bekämpfen. Wie wird dereinst die Schweiz – einmal mehr – ihr Versagen aufarbeiten, dass sie als Depositarstaat der Genfer Konventionen und als verfassungsmässige Hüterin der Menschenrechte ihrer Pflicht nicht nachgekommen ist, vor einem Genozid zu warnen und ihn aufzuhalten zu suchen, obwohl sie aufgrund der Informationen der eigenen Leute oder der Delegierten des IKRK vor Ort längst Bescheid wusste?