Reparative ­Erinnerung: ­Sinti*zze und Rom*nja im europäischen Gedächtnisraum

André Raatzsch, 19. Juni 2025
Neue Wege 4.25

Kultur- und Erinnerungsarbeit von Sinti*zze und Rom*nja ist nicht nur ein Akt der Sichtbarmachung historischer Gewalt und Ausgrenzung. Sie ist eine Interven­tion in die Gegenwart – politisch, ästhetisch und gesellschaftlich. Damit wird eine gerechtere, inklusivere Zukunft möglich.

Inmitten eines europäischen Erinnerungs­kanons, der lange Zeit Roma- und Sinti-­Perspektiven marginalisierte, fordern künstlerische und intellektuelle Stimmen aus den Communitys einen Platz ein, der ihnen historisch verweigert wurde. Ihre Werke leisten nicht nur Zeug*innenschaft, sondern schaffen alternative Narrative kollektiver Zugehörigkeit. «Reparative Erinnerung»1 – also die erinnerungskulturelle Praxis, die darauf abzielt, historische Ungerechtigkeiten wie Verfolgung, Ausgrenzung und Gewalt anzuerkennen, verdrängte Narrative sichtbar zu machen und kollektive Traumata zu heilen – bedeutet in diesem Kontext letztlich das aktive Mitgestalten einer Zukunft, in der kulturelle Gleichwertigkeit nicht behauptet, sondern gelebt wird. Es geht um mehr als die kritische Auseinandersetzung mit alten Zuschreibungen; reparative Erinnerung meint vielmehr die bewusste Entwicklung neuer Bilder und Erzählungen aus der Sicht derer, die lange ausgeschlossen waren.

Antiziganistische Projektionsfläche

Aufbauend auf den Analysen von Klaus-­Michael Bogdal in seinem Buch Europa erfindet die Zigeuner2, das die Konstruktion des «Zigeunerbildes» als eine europäische Selbstvergewisserung beschreibt, entwickelt der vorliegende Essay die Idee einer reparativen Erinnerungskultur. Diese eröffnet für Sinti*zze und Rom*nja neue Narrative im europäischen Gedächtnisraum und fördert ihre Anerkennung als aktive kulturelle Subjekte. Im Zentrum steht dabei nicht eine erneute Zuschreibung von aussen, sondern die Selbstermächtigung von innen. Während Bogdal verdeutlicht, wie Europa «die Zigeuner» als Projektionsfläche imaginierter Differenz erschuf, geht es heute darum, dass sich Sinti*zze und Rom*nja selbst definieren und artikulieren – als kulturelle, politische und erinnerungskulturelle Akteur*innen. Europa ist gefordert, den Prozess der reparativen Erinnerung der Rom*nja und Sinti*zze aktiv zu unterstützen, statt ihn weiterhin zu behindern. Trotz ihrer jahrhundertelangen Präsenz in Europa waren sie systematischer Ausgrenzung und Entrechtung ausgesetzt, die heute als Antiziganismus bezeichnet wird. Antiziganismus ist laut der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) eine spezifische Form des Rassismus. Er äussert sich in individuellen wie institutionellen Formen von Ausgrenzung, Marginalisierung, Gewalt und Hassrede gegenüber Sinti*zze und Rom*nja sowie jenen, die – damals wie heute – als «Zigeuner» stigmatisiert werden. Dabei wirken stereotype, entmenschlichende Bilder fort, die Sinti*zze und Rom*nja als vermeintlich Fremde markieren. Antiziganismus erschwert die gesellschaftliche Inklusion und verweigert ihnen gleichberechtigten Zugang zu Rechten, Chancen und Teilhabe.

Sichtbarmachen der Verfolgungsgeschichte

In der historischen Region der Walachei im heutigen Rumänien lebten Rom*nja bis ins 19. Jahrhundert in erblich legitimierter Sklaverei – ein lange verdrängtes Kapitel europäischer Geschichte, das erst in jüngerer Zeit verstärkt erforscht wird. Neue Studien, etwa von Viorel Achim3, beleuchten die tiefgreifenden Auswirkungen dieser Versklavung auf nachfolgende Generationen und auf das kollektive Gedächtnis der Sinti*zze und Rom*nja Europas. Bis heute bestehen grosse Wissenslücken, verursacht durch mangelnde Aufarbeitung – ein Gedächtnisverlust, der zur fortgesetzten Ausgrenzung beiträgt. Auch die ambivalente Rolle der orthodoxen Kirche bei der Emanzipation der Rom*nja wird thematisiert – ein Beispiel dafür, wie religiöse Institutionen sowohl unterdrückend als auch befreiend gewirkt haben.

Die rassistische Ausgrenzung der Sinti*zze und Rom*nja erreichte im 20. Jahrhundert ihren grausamsten Höhepunkt. Seit etwa 600 Jahren sind Sinti*zze und Rom*nja in Europa ansässig, wobei im Laufe der Jahrhunderte verschiedene Gruppen der Roma-Gemeinschaft hinzukamen. Während des Nationalsozialismus wurden etwa 500’000 Sinti*zze und Rom*nja europaweit Opfer eines systematischen Völkermords – der auch als «Holocaust an den Sinti*zze und Rom*nja» bezeichnet wird. Viele von ihnen waren seit Jahrhunderten als integrale Teile ihrer Heimatländer anerkannt, doch sie wurden entrechtet, deportiert und in Konzen­trationslagern wie Buchenwald, Dachau, Treblinka, Lety und Auschwitz-Birkenau ermordet. Die online zugängliche Enzyklopädie des NS-Völkermordes an den Sinti und Roma in Europa4 liefert erstmals einen umfassenden Überblick über diese Verbrechen im Zeitraum von 1933 bis 1945.

Die jahrhundertelange Ausgrenzung, Versklavung und schliesslich der nationalsozialistische Völkermord führten zur weitgehenden Zerstörung kultureller Ausdrucksformen von Sinti*zze und Rom*nja – ein zivilisatorischer Bruch, der nicht nur Europa betraf, sondern die betroffenen Gemeinschaften selbst tief erschütterte. Viele Überlebende konnten ihr kulturelles Wissen nicht weitergeben – infolge von Traumatisierung und gesellschaftlicher Marginalisierung. Die fehlende Anerkennung des Holocaust erschwerte den Neuanfang zusätzlich: Kultur, Sprache und soziale Strukturen konnten vielerorts nicht rekonstruiert werden. Stattdessen setzte sich die Diskriminierung fort – viele empfanden sie als «Zweite Verfolgung»5. Diese strukturelle Ablehnung wirkt bis heute nach: In vielen Ländern Europas bleibt Rom*nja und Sinti*zze ihre Heimat fremd.

Anerkennung der kulturellen Bedeutung

Im Zeitalter der Dekolonialisierung tragen europäische Länder – als jahrhundertelange Heimat von Sinti*zze und Rom*nja – eine besondere Verantwortung. Insbesondere In­sti­tutionen, Kulturschaffende und politische Akteur*innen sind gefragt, demokratische Werte, kulturelle Teilhabe und Geschichtsbewusstsein aktiv mitzugestalten.

Es ist von entscheidender Bedeutung, die lange ausgeklammerten Perspektiven von Sinti*zze und Rom*nja – etwa in den Werken von Künstler*innen wie Ceija Stojka und Małgorzata Mirga-Tas sowie in den Stimmen von Überlebenden, Nachkommen und Community-­Mitgliedern – in eine «reparative Bild- und Literaturkritik»6 zu integrieren. Dies erfordert eine Anerkennung struktureller Verantwortung, sowohl im Hinblick auf vergangene Ausschlüsse als auch auf die fortdauernde Diskriminierung und kulturelle Marginalisierung, die diese Gemeinschaften noch immer erfahren. Eine pluralistische Erinnerungskultur kann ihrem demokratischen Anspruch nur dann gerecht werden, wenn sie diese Perspektiven nicht nur als Randnotizen, sondern als integralen Bestandteil einer kollektiven Erinnerung versteht. Dieser Prozess verlangt keine Vereinheitlichung der Geschichten, sondern ein solidarisches Miteinander, das die Vielfalt aktiv anerkennt und als Grundlage einer lebendigen, gerechten Gesellschaft begreift.

Musik, Literatur, bildende Kunst und Sprache von Sinti*zze und Rom*nja waren über Jahrhunderte hinweg eng mit den kulturellen Entwicklungen ihrer jeweiligen Länder verflochten – auch wenn diese Beiträge lange marginalisiert oder ignoriert wurden.7

Darüber hinaus waren Sinti*zze und Rom*nja aktiv an bedeutenden historischen Umbrüchen beteiligt: etwa 1848 im ungarischen Unabhängigkeitskampf gegen die Habsburger, 1956 während der ungarischen Revolution oder als Soldaten im Ersten Weltkrieg. Diese vielfach unsichtbar gebliebene Teilhabe zeigt, wie tief Sinti*zze und Rom*nja auch politisch und gesellschaftlich in die europäische Geschichte eingebunden sind.

Eine Anerkennung ihrer Rolle ist daher nicht nur erinnerungspolitisch notwendig, sondern auch ein Beitrag zur Stärkung demokratischer Werte, zur gesellschaftlichen Inklusion und zur Förderung rechtsstaatlicher Prinzipien. Sie eröffnet neue Räume kultureller Artikulation und politischer Teilhabe – und verankert Roma- und Sinti-Perspektiven im kollektiven Gedächtnis Europas.

Neubewertung von Kunst und Geschichte

Exemplarisch möchte ich Künstler*innen und Werke vorstellen, die eine reparative Kultur- und Erinnerungspraxis prägen. Mein Fokus liegt dabei auch auf den kultur- und erinnerungspolitischen Kontexten sowie den Persönlichkeiten, Netzwerken und Wegbegleiter*innen aus den literarischen und künstlerischen Sphären der Sinti- und Roma-Communitys.

Im Sinne einer reparativen Bild- und Literaturkritik ermöglichen ihre Arbeiten eine grundlegende Neubewertung von Kunst und Geschichte. Sie hinterfragen die dominanten Vorstellungen und erweitern das universelle Wissen um die Perspektiven der Sinti*zze und Rom*nja, die bislang marginalisiert wurden. Ihre Werke würdigen die ästhetische und politische Wirkkraft und stellen diese in Beziehung zu den hegemonialen Kulturlandschaften. Solche Perspektiven tragen aktiv zur demokratischen Öffnung von Museen und Sammlungen bei, indem sie die hegemonialen Erzählungen herausfordern. Reparative Kritik agiert als Brücke – sie stellt sich dem Vergessen entgegen, durchbricht das Schweigen und schafft Räume, in denen marginalisierte Stimmen als aktive Kräfte der kulturellen Erinnerung anerkannt werden.

Ein herausragendes Beispiel bietet das Lebenswerk von Ceija Stojka (1933–2013) – österreichische Romni, Schriftstellerin, Malerin und Überlebende der Lager von Auschwitz, Ravensbrück und Bergen-Belsen. Erst spät begann sie, über ihr Erleben zu sprechen – in autobiografischen Texten wie Wir leben im Verborgenen8 und in Gemälden, die Trauma, Überleben und Hoffnung thematisieren. Ihre Kunst ist mehr als Zeugnis: Sie schafft visuelle Erinnerung, die Roma-Geschichte in den kulturellen Kanon einführt.

Reparative Erinnerungsarbeit zeigt sich nicht nur in individuellen künstlerischen Werken, sondern zunehmend auch in institutionellen Formaten – etwa durch Ausstellungen, Archive, Gedenkstätten oder filmische Dokumentationen. Solche Formen öffentlicher Vermittlung sind entscheidend, um marginalisierte Narrative sichtbar zu machen und nachhaltig in das kollektive Gedächtnis Europas einzuschreiben.

Małgorzata Mirga-Tas (*1978) ist eine prominente Vertreterin der polnischen Roma-Community und zählt zu den bedeutendsten zeitgenössischen Künstlerinnen Polens. Ihre Einladung, den polnischen Pavillon auf der Biennale von Venedig 2022 zu gestalten, stellte einen kulturpolitischen Wendepunkt dar – erstmals wurde die Stimme einer Romni als Repräsentantin eines europäischen Landes auf diese internationale Plattform erhoben.

In ihrem Werk Re-enchanting the World (Die Welt neu verzaubern)9 entfaltet sie eine grossformatige Bilderwelt, die aus Textilien genäht ist und auf Materialien sowie Erinnerungen aus ihrer eigenen Community basiert. Ihre Arbeit ist sowohl poetisch als auch politisch: Sie verbindet die bislang oft unsichtbaren Lebensrealitäten von Romnja mit ikonografischen Traditionen und Momenten der europäischen Geschichte, in denen deren Teilnahme und Mitwirkung häufig ausgeblendet wurden. Unter den porträtierten Frauen finden sich Persönlichkeiten wie Zilli Schmidt (geb. Reichmann), eine deutsche Sintizza und Holocaust-Überlebende, deren Geschichte von Mirga-Tas als Teil der kollektiven Erinnerung und des Widerstandes gegen das Vergessen gefeiert wird.

Mirga-Tas stellt Sinti*zze und Rom*nja nicht als Randfiguren der Geschichte dar, sondern als tragende Akteur*innen europäischer Erfahrung – als freie Bürger*innen, als Mitgestaltende, als Freund*innen, Arbeitskolleg*innen und Zeitgenoss*innen. Die «Verzauberung» in ihrem Werk ist dabei keine Rückkehr zu einer idealisierten Vergangenheit, sondern ein feministischer, dekolonialer Neubeginn – eine Vision Europas, in der kulturelle Zugehörigkeit nicht mehr zur Diskussion steht, sondern gelebt wird.

Dominante Erzählungen herausfordern

Sowohl Mariella Mehr (1947–2022) als auch Károly Bari (*1952) haben in ihren jeweiligen Ländern eine Literatur geschaffen – und dabei das Zentrum mit verändert. Mehr war über Jahrzehnte fester Bestandteil der Schweizer Literaturlandschaft: Mitglied des Schriftsteller*innenverbands, mehrfach ausgezeichnet, in bedeutenden Verlagen publiziert. Und doch blieb sie eine Stimme des Dazwischen – als Jenische, die in einem Land schrieb, das ihre Herkunft lange ignorierte und ihr die kulturelle Anerkennung verweigerte.

An dieser Stelle sei betont: Die Jenischen10 sind eine eigenständige, transnationale Minderheit mit eigener Sprache, Kultur und Geschichte. Ihre Erfahrungen von Diskriminierung und Verfolgung ähneln zwar jenen von Sinti*zze und Rom*nja, sind jedoch eigenständig. Die Erwähnung von Mariella Mehr würdigt die Vielfalt marginalisierter Stimmen, ohne historische Unterschiede zu verwischen.

Mariella Mehr war nicht nur eine herausragende Schriftstellerin, sondern auch eine Aktivistin, die sich für die Renaissance des jenischen Selbstbewusstseins einsetzte. Ihre autobiografischen Werke wie Steinzeit11 und Kinder der Landstrasse12 reflektieren ihre eigenen traumatischen Erfahrungen, darunter die gewaltsame Trennung von ihrer Mutter und der Missbrauch in staatlicher Obhut. Ihre literarische Arbeit ist nicht nur ein Schreien gegen das Unrecht, das ihr und anderen Jenischen zugefügt wurde, sondern auch ein Appell für Gerechtigkeit und Anerkennung der jenischen Kultur. Mehr setzte sich nachdrücklich für die Anerkennung der Jenischen als kulturelle Minderheit ein. Ihre unermüdliche Arbeit als Schriftstellerin und politische Aktivistin hat entscheidend dazu beigetragen, die jenische Geschichte in das öffentliche Bewusstsein zu rücken.

Obwohl Károly Bari aus einer ungarische Roma-Familie stammt, hat er sich nie als «Roma-Autor» verstanden, sondern sich stets als ungarischer Dichter positioniert. Ein prägendes Ereignis in seinem Leben war 1972, als er wegen seiner Teilnahme an einer nicht genehmigten Protestversammlung gegen die Unterdrückung nationaler Erinnerungen am 15. März, dem ungarischen Nationalfeiertag, inhaftiert wurde. Dieser Tag war im sozialistischen Ungarn nicht offiziell anerkannt. Die Polizei löste die Versammlung gewaltsam auf. Als Reaktion auf die brutalen Repressionen, die er erlebte, schrieb er das Gedicht Szabadság («Freiheit»)13, in dem er das Fehlen einer echten Freiheit und die Enttäuschung über politische Versprechungen thematisierte. Dieses Gedicht führte zu einer weiteren Verhaftung und Misshandlung. Bari hat sich nie als Vertreter einer ethnischen Literatur verstanden, sondern als integraler Bestandteil der ungarischen Literatur. Heute wird er zunehmend als bedeutender ungarischer Dichter anerkannt – einer, dessen Werke universelle Themen wie Freiheit, Unterdrückung und Widerstand thematisieren.

Abschliessend lässt sich sagen, dass reparative Erinnerungskultur nicht nur eine Wieder­aneignung der Vergangenheit bedeutet, sondern eine aktive Gestaltung der Zukunft, in der die Perspektiven von Sinti*zze, Rom*nja und Jenischen als Teil des europäischen Gedächtnisses anerkannt werden. Die dargestellten künstlerischen und literarischen Werke, von Ceija Stojka bis zu Károly Bari und Mariella Mehr, zeigen eindrucksvoll, wie diese Perspektiven die dominanten Erzählungen herausfordern und eine breitere, integrative Erinnerung ermöglichen.

Reparative Kunst und Literaturkritik sind dabei nicht nur Reaktionen auf historische Ausgrenzung, sondern vielmehr aktive Kräfte, die die Gesellschaft dazu anregen, sich ihrer Verantwortung zu stellen und neue kollektive Narrative zu schaffen. Diese Praxis ermöglicht es, marginalisierte Stimmen als gestaltende und verändernde Kräfte des kulturellen Gedächtnisses zu integrieren. Sie fordert eine Gesellschaft heraus, die sich ihrer Vielfalt und historischen Verantwortung bewusst wird.

Die reparative Erinnerung ist also mehr als ein Akt der Vergangenheitsbewältigung – sie ist ein politischer und kultureller Prozess, der die Gegenwart verändert und eine gerechtere, inklusivere Zukunft ermöglicht.●

  1. «Reparative Erinnerung» im Fall von Sinti*zze und Rom*nja bedeutet: die kritische Aufarbeitung ihrer jahrhundertelangen Marginalisierung, einschliesslich Versklavung und Völkermord, die stärkere Berücksichtigung ihrer Perspektiven in Gedenkkulturen, Museen und Bildungseinrichtungen, die Wiederaneignung kultureller Identität, die Anerkennung von Überlebenden und die Einbindung ihrer Geschichte in das kollektive europäische Gedächtnis sowie die gleichwertige Würdigung ihrer Kunst, Stimmen und Narrative. Diese Begrifflichkeit orientiert sich an Konzepten der postkolonialen Theorie sowie der Restorative Justice (wiederherstellenden Gerechtigkeit). Erinnerung verstehe ich dabei nicht nur als konservierende Praxis, sondern als eine, die heilen, verbinden und transformieren kann.

  2. Klaus-Michael Bogdal: Europa erfindet die Zigeuner. Eine Geschichte von Faszination und Verachtung. ­Berlin 2011.

  3. Viorel Achim: The Gypsies in the Romanian Lands during the Middle Ages: Slavery. In: Damian Alan ­Pargas / Felicia Roşu (Hrsg.): Critical Readings on Global Slavery. Leiden/Boston 2017, S. 983–1043.

  4. Verfügbar unter: encyclopaedia-gsr.eu

  5. Zitat aus der Rede von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier anlässlich der Gedenkveranstaltung zum zehnjährigen Bestehen des Denkmals für die im ­Nationalsozialismus ermordeten Sinti*zze und Rom*nja Europas, gehalten am 24. Oktober 2022 in Berlin. In seiner Rede betonte Steinmeier die ­fortgesetzte Diskriminierung und das Unrecht, das Sinti*zze und Rom*nja auch nach dem Ende des Nationalsozialismus in Deutschland erfahren haben. Er verwies darauf, dass viele Täter unbehelligt ­blieben und die Anerkennung des Völkermords sowie angemessene Entschädigungen für die Opfer lange Zeit ausblieben.

  6. Der Begriff «reparative Bild- und Literaturkritik» ­bezeichnet eine kritische, erinnerungspolitisch sensible Herangehensweise an visuelle und literarische Werke, die darauf abzielt, historische Ausschlüsse zu korrigieren, verdrängte Perspektiven sichtbar zu ­machen und kollektive Erinnerung gerechter zu gestalten. Der Begriff geht ursprünglich auf das Konzept des «reparativen Lesens» (reparative reading) von Eve Kosofsky Sedgwick zurück, das einen fürsorglichen, heilenden und nichtdefensiven Zugang zur Interpretation kultureller Produktionen vorschlägt. In der ­Bildkritik bedeutet dies, Werke nicht nur ästhetisch zu bewerten, sondern auch danach zu fragen, wen sie darstellen, wen sie auslassen und wessen Geschichte sie erzählen oder verschweigen. In der Literaturkritik heisst es, marginalisierte Stimmen (z. B. von Sinti*zze und Rom*nja) sichtbar zu machen, ihre literarische Produktion nicht zu exotisieren, sondern als Teil  der gemeinsamen kulturellen Geschichte zu würdigen. Ziel ist es, nicht nur historische Ungleichheiten aufzuzeigen, sondern aktiv an einer gerechteren Erinnerungskultur mitzuwirken. «Reparative Bild- und Literaturkritik» versteht sich im Sinne von Heilen, Anerkennen, Integrieren und zielt auf eine gleichberechtigte Einbindung kultureller Ausdrucksformen von Minderheiten in kollektive Gedächtnisräume.

  7. Beispiele für die kulturellen Beiträge der Rom*nja sind die Musiktradition der rumänischen Lăutari, die Werke von Matéo Maximoff und Mariella Mehr, die Kunst von Ceija Stojka, Oláh Mara, Małgorzata Mirga-­Tas sowie die Beiträge von Delaine und ­Damian Le Bas zur transnationalen Kunstszene. Auch europäische Klassikkomponisten wie Franz Liszt, ­Johannes Brahms und Ludwig van Beethoven liessen sich von der Musik der Rom*nja inspirieren. Liszt würdigte 1859 die Musik der Rom*nja, Brahms wurde von dem ungarischen Roma-Violinisten Eduard ­Reményi beeinflusst, und Beethovens siebte Sinfonie enthält spürbare Elemente der Roma-Musik.

  8. Ceija Stojka: Wir leben im Verborgenen. Wien 1988.

  9. Małgorzata Mirga-Tas: Re-enchanting the World. ­Kuratiert von Wojciech Szymański und Joanna Warsza. Polnischer Pavillon, 59. Internationale Kunstaus­stellung – La Biennale di Venezia, 23. April–27. November 2022.

  10. zentralrat-jenische.de

  11. Mariella Mehr: Steinzeit. Bern 1981.

  12. Mariella Mehr: Kinder der Landstrasse: Ein Hilfswerk, ein Theater und die Folgen. Bern 1987.

  13. Bari Károly. A varázsló sétálni indul. Válogatott és új versek. Digitális Irodalmi Akadémia. Petőfi Irodalmi Múzeum Budapest 2020.

  • André Raatzsch,

    *1978, ist wissenschaftlicher Mitar­beiter im Bereich «Bilderzählung und visuelle In­szenierung antiziganistischer Motive» im Rahmen der DFG-Forschungsgruppe «Antiziganismus und Ambivalenz in Europa (1850–1950)». Zuvor war er von 2016 bis 2025 am Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg tätig. Seine Forschungsschwerpunkte umfassen postkoloniale Bildpolitik, visuelle Repräsentation sowie transkulturelle Archiv- und Sammlungskonzepte.