USA: Wem hilft der Rechtsruck der Republikaner*innen?

Jörg Rieger, 26. Oktober 2024
Neue Wege 6.24

Auf den ersten Blick ist die politische Lage in den USA verblüffend einfach: Im Kongress gibt es nur zwei politische Parteien, die Republikanische und die Demokratische. Aber diese ungewöhnliche Situation trägt dazu bei, dass innerhalb dieser Parteien die Positionen weit auseinanderklaffen.

Im republikanischen Lager finden sich konservative Werte wie die Unterstützung der heterosexuellen Kleinfamilie als einzige richtige Lebensform, das Verbot der Abtreibung, religiöse Themen wie die Befolgung der Zehn Gebote, Nationalismus und Patriotismus, aber auch extremer Wirtschaftsliberalismus sowie die Befürwortung von nahezu totaler Freiheit globaler Eliten. Bei den Demokrat*innen sammeln sich liberale Anliegen wie die Betonung von individueller Freiheit und von religiöser, ethnische Gruppen übergreifender und sexueller Toleranz auf der einen Seite sowie progressive Anliegen wie die aktive Unterstützung von Arbeiter*innen, Immigrant*innen und Minderheiten auf der anderen.

Vor allem in Wahljahren kristallisieren sich gewisse Schwerpunkte heraus. In der Republikanischen Partei kommt das gegenwärtig in einem enormen Rechtsruck zum Ausdruck, verbunden mit Präsidentschaftskandidat Donald Trump. Seit Trumps erstem Wahlsieg im Jahr 2016 wurde dieser Rechtsruck zum Markenzeichen der Republikaner*innen, im Kontrast zu einer demokratischen Betonung von liberalen Identitätsfragen, die mit zur Wahlniederlage von Hillary Clinton beigetragen hat.

Nach einem knappen Wahlsieg des Demokraten Joe Biden als Präsident 2020 werden nun für 2024 die Karten neu gemischt, vor allem seit Kamala ­Harris im Juli 2024 das Ruder von Biden als Präsidentschaftskandidatin übernommen hat.

Zwei Themen sind in diesem Zusammenhang besonders bemerkenswert: Trump und sein Gefolge setzen auf einen weiteren Rechtsruck im Land. Er kommt im «Project 2025» zum Ausdruck, das die Macht in der Hand des Präsidenten konzentrieren will. Trump hat sich in der Öffentlichkeit von diesem Projekt distanziert, obwohl seine Verbindungen zu den Autor*innen und Themen unbestreitbar sind. Vizepräsidentschaftskandidat J. D. Vance verkörpert den ex­tremen Charakter dieses Projekts, wenn er alleinstehende Frauen, nichtheterosexuelle Menschen, Minoritäten und Immigrant*innen als Hauptprobleme der Gegenwart anprangert. Die in Wahljahren sonst typischen Versuche, die unentschiedenen Wähler*innen in den für die Wahl entscheidenden Swing States durch moderatere Themen für sich zu gewinnen, werden von Trump und Vance weitgehend ignoriert.

Auf der anderen Seite haben Kamala Harris und ­Vizepräsidentschaftskandidat Tim Walz verstanden, dass ein Sieg nicht mit den traditionellen liberalen Themen gewonnen werden kann. Ohne liberale Identitätspolitik aufzugeben, konzentrieren sich die beiden nun mehr auf die arbeitende Bevölkerung. Die weissen Arbeiter*innen, die sich von liberalen Identitätsinteressen ohne Klassenbewusstsein verraten fühlten, haben 2016 in den Swing States zur verstärkten Unterstützung von Trump beigetragen, was reichte für einen knappen Sieg.

Die zentrale Frage ist, ob sich der Rechts­­ruck durchsetzen kann. Er hat seit der erfolgreichen Präsidentschaftswahl 2016 der Republikanischen Partei mehr geschadet als genützt. Vorhergesagte «rote Tsunamis» (Republikaner sind rot, Demokraten blau) sind seither ausgeblieben, und Trump hat die Präsidentschaftswahl 2020 verloren. Sogar aus den eigenen Reihen gibt es Gegendruck. So hat zum Beispiel der frühere republikanische Vizepräsident Dick Cheney Anfang September erklärt, dass er für Harris und Walz stimmen wird.

Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang zwei Entwicklungen, die eine gewisse Kritik des Kapitalismus mit sich bringen, welche auch in der Demokratischen Partei oft fehlt.

Erstens finden US-amerikanische Gewerkschaften zunehmend ihre progressive Stimme wieder und haben neuen Zulauf, unterstützt von wachsender Diversität. Das ändert die politische Dynamik sogar im Süden des Landes. Hier entwickelt sich eine neue Solidarität, die die Klassenfrage auf neue und spannende Art wieder ins Spiel bringt und das Potenzial hat, die Massen zu bewegen und selbst altgediente Gewerkschafter*innen zu radikalisieren.

Zweitens spielt die Religion eine komplexere Rolle, als oft angenommen wird. Seit Trump 2016 mit wesentlicher Hilfe des konservativen Evangelikalismus an die Macht kam, haben sich vor allem viele jüngere Menschen vom evangelikalen Christentum distanziert. Man spricht inzwischen von «Exvangelicals». Auch gibt es in den USA progressive religiöse Kreise, die einen gewissen Einfluss haben und durch neue Projekte, die sich mit Arbeiter*innenbewegungen verbinden, verstärkt werden (siehe zum Beispiel religionandjustice.org). Dass diese fortschrittlichen religiösen Gruppen existieren, ist einer der Gründe, warum ich seit über dreissig Jahren in den USA an bedeutenden Universitäten Befreiungstheologie betreiben kann, die auch Resonanz in Kirchen findet.

  • Jörg Rieger,

    *1963, ist methodistischer Theologe und Professor an der Vanderbilt University in den USA. Sein Buch Theology in the Capitalocene, Minneapolis 2022, erscheint demnächst auf Deutsch.