Sozialismus steht für ­solidarische Gesellschaft

Geneva Moser, Matthias Hui, Kurt Seifert, 26. September 2024
Neue Wege 5.24

Macht es noch Sinn, im 21. Jahrhundert von Sozialismus zu sprechen? Woher kommt Hoffnung auf die Überwindung des Kapitalismus, auf eine solidarische Gesellschaft? Und braucht es für diese menschenfreundliche Utopie auch Härte und Zwang? Ein Gespräch zwischen einer Ärztin, die am 1. Mai 2024 in Zürich die Hauptrede hielt, einem in der DDR gross gewordenen kommunistischen Philosophen und einer jungen Politikwissenschaftlerin, die für Wirtschaft ist Care einsteht.

Maja Hess, kann das Reden von der Utopie einer sozialistischen Gesellschaft noch Energie freisetzen? Macht es Sinn, den bald 200 Jahre alten Begriff «Sozialismus» für die Beschreibung einer gerechteren Gesellschaft jenseits des Kapitalismus auch in Zukunft zu verwenden?

Maja Hess Ja, wir brauchen Utopien mehr denn je. Ich bin sehr beunruhigt über den Vormarsch der Rechten, über den Vormarsch faschistoider Ideologien sowohl im Norden wie im Globalen Süden. Ich bezeichne mich als Feministin und bin häufig schockiert über das äusserst brutale patriarchale System, das mir in Geschichten und Lebensrealitäten von Patientinnen aus dem Globalen Süden und dem Norden entgegentritt. Hier bei uns ist das Patriarchat häufig subtiler, fein mit dem kapitalistischen System verwoben. Mit Sozialismus verbinde ich Gerechtigkeit und die Abschaffung der Ausbeutung des Menschen durch den Menschen. Im herkömmlichen Begriff «Sozialismus», wie ich ihn in den 1980er Jahren kennengelernt habe, war die ökologische Frage nicht genügend vertreten. Ich finde es wichtig, dass wir Sozialismus nicht mehr rein menschenzentriert auffassen, sondern eine Utopie entwickeln, in der die Ökologie, die Natur, die gesamte komplexe Welt eine wichtige Rolle spielen.

Feline Tecklenburg, ist aus Ihrer Sicht der Begriff «Sozialismus» eine Referenz für transformatorische, utopische Politik?

Feline Tecklenburg Vielleicht ist das Verhältnis zu diesem Begriff eine Generationenfrage: Ich stimme Maja Hess zu, wir brauchen Utopien mehr denn je. Aber ich halte die programmatische Verwendung des Begriffs «Sozialismus» als Zugpferd für diese Utopie nicht mehr für sinnvoll. Ich würde nicht so weit gehen wie eine US-amerikanische Kollegin, die ihn kürzlich als toxisch bezeichnete. Aber viele Menschen haben dem Sozialismus gegenüber starke Vorurteile. Gerade jetzt, in diesem gesellschaftlichen Moment der vielfachen Krisen, brauchen wir eine Utopie, hinter der sich mehr Menschen versammeln können. «Sozialismus» hat produktive Anteile, aber in der konkreten Umsetzung lag immer viel im Argen. Ich erwähne nur die marxistische Rede von Haupt- und Nebenwiderspruch mit der Unterdrückung von Frauen als Nebenwiderspruch in der Produktion. Sorge­arbeit, die Wahrung der Menschenrechte, die ökologische Frage, Meinungsfreiheit: Sie sind nicht im gleichen Masse bearbeitet worden wie die Produktionsverhältnisse und die Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Statt die vernachlässigten Fragen nachträglich hinzuzufügen, schlage ich vor: Wir nehmen ein paar Ideen aus dem Sozialismus mit und schaffen neue Konzepte, hinter denen sich mehr Leute versammeln können. Konzepte, die eher dem entsprechen, was ich aus feministischer Sicht als guten Gesellschaftsentwurf sehen könnte. Ich war zum Beispiel in der solidarischen Landwirtschaft aktiv, ich habe eine Zeit lang bei einer Kommune gelebt, während meiner Hochschulzeit habe ich in einem selbstverwalteten Studierendenhaus gelebt.

Michael Brie, angesichts Ihrer jahrzehntelangen politischen Arbeit und Ihrer Publi­kationen scheint sich die Frage zu erübrigen, ob es für Sie sinnhaft ist, weiterhin von Sozialismus zu sprechen. Aber es gibt ja derzeit offensichtlich mancherorts einen Niedergang der sozialistischen Idee wie auch sozialistischer Parteien. Was lässt Sie an der Hoffnung auf einen Sozialismus des 21. Jahrhunderts festhalten?

Michael Brie Ich bin im Unterschied zu Ihnen beiden 1954 in der DDR in ein Weltsystem des Sozialismus hineingeboren worden. Und dies auch unmittelbar biografisch: Mein Vater kam aus einer jüdisch-kommunistischen Familie, meine Mutter aus einer faschistisch-bürgerlichen Familie; sie wandte sich deshalb dem Kommunismus zu, weil sie die ungeheuren Verbrechen sah, die der Faschismus in Deutschland angerichtet hatte. Ich wusste aber auch, gerade mit dem Prager Frühling 1968, dass der Sozialismus, den ich vorfand, nicht deckungsgleich war mit den Idealen, die meine Eltern hatten und die ich selbst entwickelt hatte – in der Demokratie- und Ökologiefrage, in Fragen der internationalen Solidarität, bei der Überwindung patriarchaler Verhältnisse in der DDR.

Die Idee «Sozialismus» ist gar nicht so alt, fast genau 200 Jahre. Sie entstand aus einer breiten Bewegung, die mit dem Namen des Unternehmers und Begründers des Genossen­schaftswesens Robert Owen verbunden ist. Man suchte nach einem Alternativbegriff zur unsozialen kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft: Man wollte ein «soziales» System begründen, das nicht auf Konkurrenz, Gegeneinander und auf Ausbeutung gebaut ist. Die ökologische Frage, die Auseinandersetzung mit der Sklaverei, mit Kolonialismus und mit dem Patriarchat spielten von Anfang an eine Rolle. Der Begriff hinter der Bewegung ist Solidarität, freie Entwicklung des Einzelnen, verbunden mit der freien Entwicklung aller, inklusive aller Lebewesen auf diesem Planeten. Aber wir werden für diese Idee vermutlich kein besseres Wort finden. Es geht immer um reale Bewegungen mit ihren realen Widersprüchen, die auch mit schwierigen und schlimmen Erfahrungen verbunden sind. Beim «Sozialismus» gilt das in besonderem Masse für den sowjetischen Sozialismus.

Ich würde auch nicht um jeden Preis am Wort «Sozialismus» festhalten wollen. Solidarische Gesellschaft ist da vielleicht treffender.

Sie, Maja Hess, waren in den 1980er Jahren immer wieder in Zentralamerika. Sie arbeiteten als Ärztin in Nicaragua und erlebten den dortigen sozialistischen Aufbruch mit. Die Entwicklung Nicaraguas nach der Revolution von 1979 interessierte sehr viele Linke in Westeuropa. Teilten Sie die Begeisterung für ein neues sozialistisches Modell, das die Umsetzung einer Utopie ohne grosse Widersprüche zu sein schien?

MH Ich ging tatsächlich nach Nicaragua in der Vorstellung, ich würde dort ein sozialistisches Paradies vorfinden mit Gerechtigkeit, Frauenbefreiung, Umverteilung aller Güter, Abschaffung der Armut, Gesundheit für alle, keine Gewalt. Ich merkte aber bald, dass es weiterhin eine massive Unterdrückung von Frauen gab und sehr viel Ungerechtigkeit. Mit diesen Realitäten musste ich mich auseinandersetzen. Gleichzeitig fand ich toll, was die Sandinist*innen geschafft hatten. Es ist unglaublich schwierig, in kurzer Zeit eine radikale Veränderung der Gesellschaft umzusetzen, im sozialen und ökonomischen Kontext und mit Menschen, die über Jahrhunderte hinweg durch den Kolonialismus und in 43 Jahren Diktatur ausgebeutet, unterdrückt, entmachtet, entwertet worden waren. Wie schwierig war es, die Menschen, die als Leibeigene für die Somoza-Diktatur Kaffee gepflückt hatten, kein Geld hatten und Analphabet*innen waren, in den Sozialismus zu katapultieren. In Nicaragua erschien damals das Buch Vor uns die Mühen der Ebenen. Der Titel ist ein Zitat Bertolt Brechts und verweist auf die zwar geschaffte Revolution, den siegreichen Kampf in den Bergen, aber vor allem auf die nun bevorstehenden «Mühen der Ebenen»: die Mühen der Sandinist*innen, unter widersprüchlichen Umständen und schwierigen ökonomischen Bedingungen eine sozialistische Gesellschaft aufzubauen. Es wurde eine Gesundheitsversorgung für alle umgesetzt – ein dezentrales System, das bis in die hintersten Winkel des Landes Gesundheitsposten garantierte, Schulen für alle, Alphabetisierungskurse, Investitionen in Infrastruktur, Versuche, Kooperativen aufzubauen und die ganze Kaffeeproduktion und viele andere Wirtschaftszweige zu entprivatisieren. Ich fühlte mich als Teil dieses Ideals. Gleichzeitig war die Bevölkerung konfrontiert mit einem brutalen imperialistischen Angriff der USA durch den Aufbau der Contra-Bewegung. Für Nicaragua waren deshalb Kuba, die DDR und die Sowjetunion wichtige Partner.

FT Mich würde interessieren, wie Sie die Ent­wicklung in Bezug auf Meinungsfreiheit wahrgenommen haben. Das eine ist, eine Daseinsvorsorge für die Menschen sicherzustellen, sodass ihre körperlichen, existenziellen Bedürfnisse befriedigt sind. Aber wie stand es um die Möglichkeit, an dem neu Entstehenden oder an den offenkundigen Widersprüchen Kritik zu üben?

MH Das war eine Riesendiskussion, die wir immer wieder führten. Was hiess Meinungsfreiheit überhaupt? Das einzige Medium auf dem Land war das Radio. Zeitungen konnten sich die armen Leute schlicht nicht leisten, beziehungsweise waren die meisten ja An­­alphabet*innen. Hinzustehen und die eigene Meinung auszudrücken, Widersprüche aufzudecken, das war auf dem Land sehr schwierig, weil die Menschen dies nie gelernt hatten. Die Bauern und Landarbeiterinnen wollten mitdiskutieren, wenn es um Ungerechtigkeiten in ihrem persönlichen Leben und Überleben ging. Pressefreiheit in unserem Sinn war hingegen bedeutend für die zahlenmässig kleine gebildete Mittel- und Oberschicht. Viele dieser Menschen hatten relativ bald das Gefühl, sie könnten ihre Kritik am System nicht frei äussern. Jene, die mit der revolutionären Bewegung nicht einverstanden waren, wanderten in die USA oder in Nachbarländer aus. Die politische und sozioökonomische Situation war voller Widersprüche, die für die revolutionäre Führung nicht einfach zu lösen waren.

MB Das war in der Geschichte der Revolutionen immer ein zentraler Widerspruch. Rosa Luxem­burg hat die Sache auf den Punkt gebracht: In kritischer Auseinandersetzung mit der Machteroberung durch die Bolschewiki und dem Weg, den die frühe Sowjetunion nahm, sagte sie, dass die sozialistische Bewegung auf der einen Seite die eiserne Hand brauche, um den Feind zu besiegen und um die richtigen Dinge zu tun, wie gegen Nationalismus anzukämpfen. Andererseits beschwor sie die ungehemmte Freiheit der Meinungsäusserung, die Freiheit der Andersdenkenden. Dieser fundamentale Widerspruch erfasste in der russischen Revolution die Bauern und teilweise auch die Arbeiter, weil sie sahen, dass das, was versprochen wurde – Frieden, Land und ein hohes Mass an Selbstbestimmung – nie eingelöst wurde. An diesem Widerspruch scheiterten bisher fast alle sozialistischen Bewegungen.

Es gibt eine Langzeitbefragung von Menschen, die seit 35 Jahren, seit der späten DDR, durchgeführt wird. Über 90 Prozent der Befragten sagen, die soziale Sicherheit sei in der DDR garantiert gewesen. Über 80 Prozent sagen, das Verhältnis der Menschen untereinander sei in der DDR besser gewesen als heute, ebenso die Betreuung der Kinder und soziale Gerechtigkeit insgesamt. Dieselben Leute kritisieren an der DDR zugleich unzureichende Möglichkeiten der Selbstentfaltung, unzureichende Achtung der Menschenwürde und vor allen Dingen mangelnde persönliche Freiheit. Dahinter steht eine doppelte Systemerfahrung: Die Menschen entwickeln daraus eine kritische Vorstellung einer guten Gesellschaft, die beides miteinander verbindet – soziale Gerechtigkeit, soziale Sicherheit, gemeinschaftliche Bedingungen, die ein solidarisches Leben ermöglichen, und zugleich Menschenwürde, persönliche Freiheit, Demokratie.

Feline Tecklenburg, wie kommen wir zu einer solchen Gesellschaftsform, in der die individuelle und die kollektive gesellschaftliche Ebene so verbunden sind, dass sich die Menschen nicht mehr zwischen der einen und der anderen entscheiden müssen?

FT Eine spannende Frage. Ich habe Ihren Schilderungen von Erfahrungen in sozialistischen Gesellschaften gerade aufmerksam zugehört. Wenn sich Menschen hinter ein Ziel stellen, müssen sie meiner Meinung nach wissen: Ich tue es in Freiheit, ich habe eine Wahl. Deshalb frage ich mich, ob die Suche nach einer anschlussfähigen politischen Perspektive leichter fällt, wenn man den Fokus verschiebt, weg von einem Begriff wie «Sozialismus» zu einer funktionalen Fragestellung. Wirtschaft ist eine Verteilungsaufgabe, es geht um die Versorgung von Menschen und die Erhaltung des Planeten. Also ist die Wirtschaft erst mal Sorgearbeit. So können wir sehr pragmatisch fragen, was Menschen je nach ihren Bedürfnissen brauchen, um ein gutes Leben führen zu können. Im Frühjahr fand in der Umgebung von Berlin die Vergesellschaftungskonferenz statt. Die Organisator*innen benannten die Konferenz sehr clever: «Let’s socialize – Vergesellschaftung als Strategie für Klimagerechtigkeit». Damit haben sie das Gemeinwirtschaftliche, das Sozialisierende benannt, ohne sich direkt auf Sozia­lismus zu beziehen. An der Konferenz stellten sie vier konkrete Wirtschaftsbereiche für eine Vergesellschaftung zur Debatte: Mobilität, Care, Landwirtschaft und Energie.

MB Ich teile das. Man könnte das auch Sozialismus der Freiheitsgüter nennen. Unter dem Gesichtspunkt von globaler Ökologie und Gerechtigkeit müssen dabei Wahlmöglichkeiten drastisch verändert werden, es müssen neue geschaffen und andere abgeschafft werden. Wovor man sich nicht drücken darf, angesichts des zeitlichen und existenziellen Drucks aktueller Krisen: Es muss auch Zwang organisiert werden. Dieses Moment können wir gerade in langwierigen Transformationsprozessen nicht einfach verdrängen. Mit solchen Fragen hatten es auch die Sandinisten, die russischen ­Bolschewiki oder die Kommunisten in China zu tun. Wir können nicht nur von der individuellen Wahlfreiheit her denken, das ist es ja auch, was Sie zum Thema «Sorge» beschreiben. Wir müssen von einem Gesamten ausgehen, das noch gar nicht da ist. Können wir diesen Widerspruch auflösen?

FT Sorge ist etwas, was alle angeht. Jede*r ist zur Welt gekommen, alle sind grossgezogen worden, alle müssen sich ums Überleben kümmern. Natürlich hat, plakativ gesagt, der Millionär damit weniger zu kämpfen als Personen, die kein Geld zur Verfügung haben. Aber frei sind wir nur in Abhängigkeit von anderen, wir werden in Bezogenheit aufeinander geboren und können nur frei agieren, wenn wir uns der Abhängigkeit bewusst sind. Das Verständnis von Freiheit als absoluter Unabhängigkeit ist eine Illusion. Zum Zwang: Wenn das eine ­reiche Prozent seine Bedürfnisse gegen die 99 Prozent durchsetzt, wird auch Zwang ausgeübt. Bei gerechter Verteilung geht es darum zu verstehen, was wir gewinnen, und nicht, was wir verlieren.

MB Das ist mir zu harmlos. Die christliche, die jüdische Tradition spricht vom Gott der Gerechtigkeit, und das war ein ziemlich harter, auch strafender Gott. Ich sage das deshalb, weil ich oft das Gefühl habe, dass, wenn wir über Utopien nachdenken, wir uns vor diesen Widersprüchen zwischen Individuum und Gemeinschaft und durchaus auch vor der Härte, die mit der Realisierung der Utopie verbunden sein kann, drücken. Wie zwingen wir uns selbst, wie zwingen wir uns miteinander? Ich habe das Gefühl, wir machen es uns zu einfach. Maja Hess, Sie werden das in Nicaragua erlebt haben. Ich kenne das aus anderen Zusammenhängen, und ich sehe, dass ein Teil der Projekte, denen ich selbst in den letzten drei Jahrzehnten verbunden war, auch wegen der Unfähigkeit zur Entschiedenheit, einen gemeinsamen Willen zu bilden, zugrunde gegangen sind. Oder zugrunde gehen.

MH Ich diskutiere Begriffe wie Freiheit, freie Wahl, Individualität aus dem Kontext meines Aufwachsens in einem kapitalistischen System heraus. Meine subjektive Wahrnehmung, auch meine Psyche, meine Verfassung, meine Emotionalität, meine Beziehungen sind durchtränkt vom kapitalistischen System. Wenn alle um mich herum in einer bestimmten Weise funktionieren, ist es für mich sehr schwierig, anders zu funktionieren. Kürzlich hat mir Lolita, eine Quiché-Frau aus Guatemala, eine eindrückliche Geschichte erzählt. Indigene Feministinnen waren gemeinsam mit ihr, einer ­Leaderin unter den indigenen Frauen, in einem Bus unterwegs. Lolita hatte bereits mehrere Todesdrohungen von Paramilitärs erhalten. Der Bus wurde von Bewaffneten angehalten. Sie schrien in den Bus: «Wer ist Lolita?» Lolita wollte sich erheben. Da flüsterte die Frau neben ihr, indem sie sie zurück in den Sitz drückte: «Du stehst nicht auf, du wirst umgebracht, wenn du aufstehst.» Dann sagte eine andere Frau: «Ich bin Lolita.» Sie wurde aus dem Bus gezerrt und draussen verprügelt, sie verlor drei Zähne. Darauf die nächste Frau: «Ich bin Lolita.» Auch sie wurde verprügelt. Am Schluss waren alle Lolita. Um die eine Frau zu schützen, setzten sich alle Frauen der Gefahr aus, umgebracht zu werden, und erfuhren massive Gewalt. Gleichzeitig konnte eine der Frauen die Gemeinden vor Ort alarmieren. Die Leute eilten aus den Dörfern herbei mit Hacken, Spaten, Steinen – Kinder und Erwachsene. Daraufhin zogen die Bewaffneten ab. Eine solche Geschichte kann ich mir hier nicht vorstellen. Das ist vielleicht diese Härte, die politische Konsequenz, von der Sie, Micha Brie, vorher gesprochen haben. Das kollektive Moment des Widerstands dieser Frauen ist aus einer anderen individuellen und kollektiven Wahrnehmung als unserer hier im Westen heraus entstanden.

FT Eine meiner Professorinnen in der politischen Theorie sagte mal, wir in Europa seien alle so sehr Kinder des Liberalismus, dass wir das gar nicht aus unserer DNA rauskriegen würden. Ich habe kürzlich das Buch von Rebecca Solnit A Paradise Built in Hell gelesen. Es hat mich sehr berührt, auch wenn es auf westliche Erfahrungen ausgerichtet ist. Die Autorin beschreibt, wie in Naturkatastrophen, Krisen und Kriegssituationen Menschen kooperativ handeln, Strassenküchen aufbauen, sich ungeachtet der Klasse, zu der sie gehören, und des sozioökonomischen Hintergrunds, in dem sie leben, gegenseitig helfen. Das Menschenbild, das uns vor allem durch Film und Medien gespiegelt wird, wonach Menschen anfangen zu plündern, wenn sie die Möglichkeit dazu haben, ist schief. Die Transforma­tionsforschung hat festgestellt, dass Menschen viel kooperativer sind. Vielleicht ist die Bussituation eine Extremsituation, aber nicht die absolute Ausnahme. Ich bin nicht überzeugt von Ihrer Aussage, Michael Brie, wir machten es uns zu einfach mit der Behauptung, es brauche keinen Zwang. Da regt sich grosser Widerspruch in mir. Mit einem Menschenbild von Kooperation und gegenseitiger Unterstützung für eine neue Wirtschaftsordnung geht Veränderung ohne Zwang.

Maja Hess, in Rojava, in diesem de facto autonomen Gebiet im Nordosten von Syrien, versucht die vor allem kurdische Bewegung, mit einem konföderalen, basisdemokratischen System die Bevölkerung in wichtige Entscheidungen ein­zubeziehen und ein multiethnisches und -religiöses Zusammenleben zu ermöglichen. Welche Erfahrungen machen Sie als Ärztin in Rojava? Ist das ein Ort, wo Sozialismus erprobt wird? Wie viel Zwang steckt in diesem Versuch?

MH In der kurdischen Bewegung habe ich viele kollektive Strukturen kennengelernt, die mich beeindruckt haben. Etwa im Frauendorf ­Jinwar. In diesem Dorf werden alle Einkünfte, egal, woher sie kommen, in einen Topf geworfen, und das Geld wird entsprechend den Bedürfnissen der Frauen und ihrer Kinder verteilt. Die Frauen versuchen, eine kleine landwirtschaftliche Produktion aufzubauen. Beziehungen werden aktiv kollektiv gestaltet: Wie gehen wir miteinander um? Wie gestalten wir unser Leben? Die Frauen haben ein Gefäss für Kritik und Selbstkritik entwickelt, wo sie gemeinsam über ihr Verhalten im Kollektiv nachdenken und sich auch gegenseitig kritisieren können. Um ehrlich zu sein, habe ich mich vor solchen Gefässen immer ein wenig gefürchtet. Aber es ist spannend zu sehen, wie dadurch Menschen ein Gefühl der Verantwortung für alle entwickeln.

Das gilt für die gesamte kurdische Bewegung. Verantwortung für andere zu übernehmen, prägt auch unseren Projektpartner, den Kurdischen Roten Halbmond. Die Mitarbeiter*innen setzen, da kann ich an Feline Tecklenburgs Gedanken anschliessen, in dieser Kriegs- und Krisensituation immer wieder ihr Leben aufs Spiel, um die Gesundheitsversorgung sicherzustellen. Ich war selbst in Kriegssituationen dabei und fand diese Ärzt*innen, ja das gesamte medizinische Personal unglaublich mutig. Leben retten bedeutet für sie Widerstand. In Rojava ist der kollektive Kampf lokal gedacht und kleinräumig gestaltet, es geht nicht um ein nationales syrisches Projekt, sondern um ein Projekt in Nordostsyrien, auch im Süden der Türkei, in den kurdischen Gebieten. Den Gedanken kommunaler Selbstverwaltungen und konföderaler demokratischer Strukturen finde ich zukunftsweisend.

Faszinierend ist für mich der Versuch, in der ganzen Gesellschaft in den kurdischen Gebieten die Frauenbefreiung umzusetzen. Politische Partizipation von Frauen wird vorangetrieben, unter anderem durch eine Regelung, dass überall eine Frau und ein Mann an der Spitze einer Organisation, Partei und so weiter stehen. Kollektive Strukturen werden aufgebaut, indem Frauen zum Beispiel beginnen, in Wohngemeinschaften zusammenzuleben, nicht mehr im Clan und im patriarchalen System. Das schafft für viele, gerade junge Frauen einen Raum der Freiheit als Alternative zu den vorgezeichneten Wegen: heiraten, Kinder haben, sich unterwerfen. Menschen versuchen, möglichst viel zu teilen. Natürlich gibt es Widersprüche und Widerstand. Nicht alle in Rojava lebenden Menschen sind mit diesem Weg, diesem sozial-politischen Modell einverstanden.

Welche Aspekte könnten dabei für einen zentraleuropäischen Sozialismus des 21. Jahrhunderts, für uns inspirierend sein?

MH Wir könnten lernen, stärker über unsere Beziehungsformen nachzudenken. Wie gestalten wir unsere Beziehungen? Wie fühlen wir uns verantwortlicher füreinander? Wie können wir, was ja auch Feline Tecklenburg betont hat, kleinräumiger denken? Wie können wir, ohne dass alles Grundsätzliche schon geklärt ist, einfach anfangen, Neues zu entwickeln? Auch das System der Co-Leitung in allen Organisationen mit einem Mann und einer Frau an der Spitze könnten wir bei uns anwenden.

Das Stichwort «Kritik und Selbstkritik» dürfte Sie, Micha Brie, an China und an den Maoismus erinnern. Sie haben als Kind eines DDR-Diplomaten ein paar Jahre in China gelebt und setzen sich noch heute intensiv mit China auseinander. Wir haben von kleinräumigen Versuchen gesprochen, China ist das Gegenteil. Was an China ist aus Ihrer Sicht sozialistisch?

MB Ich fange mit meiner Antwort nicht in China an, sondern in Österreich. Die KPÖ in Graz hat gute Wahlergebnisse. Gewählte Vertreterinnen und Vertreter nehmen nur den Durchschnittslohn an und nutzen die frei werdenden Gelder für soziale Projekte. Es gibt auch die belgische Arbeiterpartei, die einen maoistischen Hintergrund hat und eine Quote für Arbeiter*innen auf den Wahllisten kennt. Sorgen heisst ja, auch für eine Partei, für den anderen nach seinen Bedürfnissen solidarisch da zu sein. Damit zu China, ich will dazu nur eine Geschichte erzählen. Ein Professor, mit dessen Sohn ich einst in Schanghai zu tun hatte, wurde von der Partei beauftragt – ob mit Zwang oder nicht, weiss ich nicht –, aufs Dorf zu gehen. Er sollte mit seinen Kompetenzen und Verbindungen dafür sorgen, dass dieses Dorf innerhalb von drei Jahren durch einen Selbstorganisationsprozess in die Lage kommt, die Lebensbedingungen deutlich zu verbessern, die Einkommen der Landbevölkerung zu verdoppeln und eine zukunftsfähige Wirtschaft aufzubauen. Wenn wir über China reden, sollten wir zumindest neugierig sein auf die vielen Experimente, die in dieser Richtung gemacht werden. Mit sehr unterschiedlichem Erfolg. Und in grossen Widersprüchen zwischen einer kommunistischen Staatspartei mit maoistischen Traditionen einerseits und einer sozialistischen Marktwirtschaft mit starken kapitalistischen Zügen andererseits. Wir sollten Entwicklungen und Widersprüche in China studieren. Wir können dabei viel lernen, auch darüber, was wir garantiert nicht machen sollten.

FT Beides sind sehr unterschiedliche Erzählungen aus Rojava und aus China, die unter dem Stichwort «Sozialismus» fungieren. Das verdeutlicht für mich nochmals die Untauglichkeit dieses Worts. Gibt es dabei überhaupt noch etwas Vereinendes auf übergeordneter Ebene?

Maja Hess hat das, was mir wichtig ist, schön verdeutlicht: Kraft entsteht in den kleinen lokalen Projekten, die in Nischen und Lücken wachsen können. Dort sehe ich momentan die grösste Hoffnung, weil es so konkret ist. Das hinterlässt nicht das Ohnmachtsgefühl, das einen überkommt, wenn man sich der grossen Weltlage zuwendet. Im Kleinen etwas zu verändern, funktioniert. Ob das Autonomía ist, die Genossenschaft von Reinigungskräften in Zürich, von migrantisierten Frauen. Oder ob das die Entstehung von solidarischen Stadtteilzentren ist. Mut machend finde ich auch das Ausloten von Handlungsspielräumen auf juristischer Ebene, um zum Beispiel die Energieversorgung zu vergesellschaften. Das deutsche Grundgesetz lässt Raum für Vergesellschaftungen verschiedenster Bereiche und legt sich nicht auf das kapitalistische Wirtschaftssystem fest.

MB Es gibt erstens die Ebene konkreter Projekte: Kurz nach dem Beginn des Ukrainekriegs, als die Energiepreise in die Höhe schossen, gab es plötzlich eine Art kommunistisches Projekt in Deutschland: fast entgeltfreier öffentlicher Regionalverkehr, das 9-Euro-Ticket. Nulltarif für öffentlichen Verkehr ist ein konkretes Einstiegsprojekt in grössere Veränderungen. Als viele Geflüchtete in meine Gemeinde kamen, wurden die Feuerwehr, der Kulturverein und christliche Gemeinschaften aktiv. Es gibt diese Räume und Zwischenräume. Und es gibt Tendenzen, sie kaputtzumachen. Wir müssen dafür kämpfen, sie zu erweitern. Auf einer zweiten Ebene geht es um Vergesellschaftung, was Sie, Feline Tecklenburg, angesprochen haben. Vor Kurzem hat die CDU-geführte Regierung in Berlin die Wärmeversorgung der Stadt Berlin rekommunalisiert! Da werden die Eigentumsverhältnisse verändert. Drittens müssen wir uns auch auf die Möglichkeiten eines grossen Bruchs vorbereiten.

Ich plädiere für die Gleichzeitigkeit aller drei Strategien, denn wir dürfen nicht nur auf die kleinen Projekte und auf einzelne Reformen gucken, wenn die Einschätzung richtig ist, dass wir es mit einem Kriegs- und Katastrophenkapitalismus zu tun haben: Es wird Momente geben, wo es um ganz grosse Veränderungen geht. Der Philosoph Walter ­Benjamin hat darauf aufmerksam gemacht, dass der Messias jederzeit in die Türe treten kann. Oft waren es die rechten oder sogar faschistischen Kräfte oder die neoliberalen Kräfte, die auf grosse Krisensituationen gut vorbereitet waren. Wenn sich die Linke nicht darauf vorbereitet, wird sie den wirklichen Ausbruch aus dem Kapitalismus nicht erreichen. Ein Beispiel für ein solches Transformationsprojekt ist die Forderung der Letzten Generation nach einem Generationenrat, einer Struktur, die dem Parlament zwingende Vorgaben in der Klimafrage machen könnte. Das wäre eine Verfassungs­revolution. Nicht nur die Würde des Menschen ist unantastbar, sondern die Gemeingüter eines guten Lebens müssen in unserem Land und global im Zentrum stehen. Wir sollten einen Verfassungsentwurf in dieser Richtung jetzt schon diskutieren und in der Tasche haben. 1990, bei der Vereinigung der beiden deutschen Staaten, gelang uns dies nicht.

MH Ich möchte noch auf die Frage des Scheiterns eingehen. Gerade die Entwicklung in Nicaragua war und ist für mich persönlich sehr schwierig. Ich habe gelernt: Es gibt historische Momente – die Revolution in Nicaragua war ein solcher –, und ich hatte das Glück, dabei zu sein. Und irgendwann ist es nicht mehr das, was es war. Aber es ist gewesen. Dem, was real möglich war, seinen historischen Wert zu geben, ist unglaublich wichtig. Revolutionäre Erfahrungen haben ihren Wert nicht verloren, weil sich die Geschichte verändert hat. Auch Rojava steht massiv unter Druck. Ich bin mir nicht sicher, wie lange dieses Projekt einer neuen Gesellschaftsordnung den Angriffen der Türkei widerstehen kann. Aber es ist jetzt. Ob es auch in Zukunft Bestand haben kann, weiss ich nicht. Aber die revolutionäre Erfahrung bleibt im Gedächtnis der Menschen, im Herzen der Menschen. Das hilft mir, mit Niederlagen oder mit Scheitern besser umzugehen.

Zum Stichwort der Risse, durch die Licht dringen kann, kommt mir das Lied von Leonhard Cohen There is a crack in every­thing in den Sinn, ein wunderbares Bild. Für mich sind Risse in der verhärteten kapitalistischen Gesellschaftsordnung Hoffnung und Realität zugleich. Der Globale Süden hat eine stärkere Stimme als früher, er kann sich mehr Raum verschaffen. Die Stimmen von indigenen Menschen, People of Color, Feministinnen sind in unserer Gesellschaft stärker geworden. Neue Ideen und Projekte entstehen im Globalen Süden und haben Verbindung zum Norden. Soziale Bewegungen wie die weltweit aktiven Klimabewegungen und feministischen Bewegungen finde ich unglaublich wichtig, das sind Hoffnungsschimmer.●

Maja Hess, *1958, ist Ärztin und Psychiaterin sowie Präsidentin von medico international Schweiz.

Michael Brie, *1954, ist Philosoph und Sozialwissenschaftler mit Schwerpunkt auf Theorie und Geschichte des Sozialismus und Kommunismus.

Feline Tecklenburg, *1992, ist geschäftsführende Co-Vorständin von «Wirtschaft ist Care» und Vorstandsmitglied des Herausgebervereins «Freund*innen der Neuen Wege».

  • Geneva Moser,

    *1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.

  • Kurt Seifert,

    *1949, lebt in Winterthur und ist Mitglied der Redaktion der Neuen Wege.