Russlands Zukunft liegt im Nebel, aber es gibt einen Hoffnungsschimmer

Yuri Dzhibladze, 26. September 2024
Neue Wege 5.24

Russland ist zur vollständigen ­Diktatur geworden, regiert von einem höchst repressiven und korrupten Regime. Es regiert mit brutaler Gewalt, unter Berufung auf konservative und archaische Werte und durch massive Propaganda, die auf Bildern von «äusseren Feinden Russlands» und «Verrätern» im Inland beruht. Das politische System hat sich in den letzten zwanzig Jahren immer weiter in diese Richtung entwickelt. Doch trotz seiner scheinbar umfassenden gesellschaftlichen Kontrolle fühlte sich das Regime durch interne Proteste, wirtschaftlichen Niedergang und den Verlust seiner Rolle auf der internationalen Bühne bedroht. Der Kreml sah den Beginn einer gross angelegten Aggression gegen die Ukraine offenbar als Lösung. Der Übergang von interner Unterdrückung zu externer Aggression, angetrieben von messianistischem Furor, ist nichts Neues in der Geschichte, aber kombiniert mit dem Besitz von Atomwaffen extrem gefährlich. Das Putin-Regime ist nicht nur für die eigene Bevölkerung und die benachbarte Ukraine, sondern für die ganze Welt zur Bedrohung geworden.

Seit Februar 2022 werden kritische Stimmen durch massive Repression und drakonische Kriegsgesetze gegen «Diskreditierung der Armee», «Verbreitung von Fake News» und «Extremismus» unterdrückt. Unabhängige Medien wurden ausgelöscht, das Internet wird stark gefiltert, die politische Opposition wurde zerschlagen und aus dem Land gedrängt, führende NGOs wurden liquidiert, und die Reste der Zivilgesellschaft und des politischen Aktivismus werden mit aller Härte verfolgt. Proteste sind nicht erlaubt, Teilnehmer*innen an Mahnwachen werden von der Polizei sofort festgenommen. Tausende wurden mit hohen Geldstrafen belegt, weil sie ihre Meinung geäussert haben. Mehr als hundert Menschen wurden zu langen Haftstrafen verurteilt, weil sie sich gegen den Krieg ausgesprochen und über russische Kriegsverbrechen informiert haben, und nicht wenige wegen «Hochverrats» zu Haftstrafen von bis zu 25 Jahren. Ein Oppositionsführer, Alexei Nawalny, wurde gefoltert und wahrscheinlich im Gefängnis getötet.

Trotz des hohen Risikos sprechen sich viele Menschen auf der Strasse und in den sozialen Medien, durch Kunst und in privaten Begegnungen weiterhin gegen den Krieg aus. Viele andere leisten deportierten Ukrainer*innen über Freiwilligennetzwerke im Untergrund lebenswichtige Unterstützung. NGOs unterstützen weiterhin die Opfer der Repression und bemühen sich, an Informationen über Tausende von inhaftierten Ukrainer*innen zu kommen und ihnen Hilfe zukommen zu lassen. Hunderte von Russen kämpfen an der Front, Seite an Seite mit Ukrainern. Tausende Dissident*innen sind aus dem Land geflohen. Im Exil engagieren sich viele gegen die Desinformation des Kremls und seine aggressive Politik. Viele beteiligen sich an der Diskussion und Planung der Zukunft Russlands nach dem Ende des derzeitigen Regimes, so unwirklich das jetzt auch klingen mag.

Es scheint keine Hoffnung auf ein gutes Szenario zu geben. Nicht wenige halten einen Zerfall Russlands in kleinere Staaten für unausweichlich, um die imperialen Ambitionen des Staates loszuwerden und seine koloniale Vergangenheit zu überwinden. Die meisten Kremlgegner*innen unterstützen die Ukraine nicht nur, weil es um Gerechtigkeit und Menschlichkeit geht, sondern auch, weil sie ihre Hoffnungen auf eine bessere Zukunft Russlands mit dem Sieg der Ukraine und einer Niederlage des Putin-Regimes verknüpfen.

Russlands Sieg im Krieg zu verhindern, reicht nicht. Der Putinismus als politisches System könnte überleben und erneut zu einer Bedrohung für die Nachbarn werden. Das verbrecherische Vorgehen des russischen Staates in Bezug auf die Ukraine muss durch internationale Justiz­organe, insbesondere den Internationalen Strafgerichtshof und ein zu schaffendes Sondertribunal für das Verbrechen der Aggression, geahndet werden. Putin und Tausende von Drahtziehern und Kriegsverbrechern müssen vor Gericht gestellt werden. Dies ist nicht nur entscheidend, um den Opfern Gerechtigkeit widerfahren zu lassen und Entschädigungen und Wiedergutmachungen für die Ukraine zu erwirken, sondern auch als Schutz vor einer Fortsetzung des Putinismus. Diese Prozesse werden dazu beitragen, das Schüren von Ressentiments, die Ausarbeitung revanchistischer Pläne, den Wiederaufbau der militärischen Kapazitäten und neue Aggressionen zu verhindern.

Die russische Gesellschaft trägt die Hauptverantwortung dafür, dass sich dieses verbrecherische Regime entwickeln konnte und sie sich ihm nicht energisch genug widersetzt hat, als dies noch möglich war. Gleichzeitig war die internationale Gemeinschaft gegenüber dem Putin-­Regime viel zu nachsichtig, zu kompromissbereit und zu erpicht darauf, vom lukrativen Handel mit Russland zu profitieren. Wirtschaftliche Interessen, sogenannte Realpolitik und Korruption haben die meisten Entscheidungsträger*innen in den demokratischen Staaten wie der Schweiz zu lange die Augen vor der zunehmenden internen Repression in Russland und den immer aggressiveren Aktionen des Kremls im Ausland verschliessen lassen, selbst nach dem Angriff auf Georgien 2008 und der Annexion der Krim 2014. Die Straflosigkeit hat das Putin-Regime ermutigt, seine gross angelegte Invasion in der Ukraine zu beginnen und sie als Rechtfertigung für brutales Vorgehen gegen Anders­denkende im Land zu nutzen.

Etwa 15 Prozent der erwachsenen russischen Bevölkerung lehnen gemäss zuverlässigen Schätzungen die Aggression gegen die Ukraine und die repressive Politik ab. Die Rolle dieser kritisch eingestellten Russ*innen, die es dem Putin-Regime erschweren, seinen Krieg zu führen und seine Bürger*innen einer Gehirnwäsche zu unterziehen, sollte in die Gleichung einbezogen werden. Dieser Teil der russischen Öffentlichkeit teilt die Werte von Demokratie, Freiheit und Frieden. Diese Menschen sind Verbündete im Kampf gegen die Aggression und die Diktatur. Sie, insbesondere die politischen Gefangenen, die Demonstrant*innen, die mutigen Mitglieder der Zivilgesellschaft im Land sowie der Opposition im Exil und der unabhängigen Medien, sollten auf jede erdenkliche Weise unterstützt werden.

Weitere geschätzte 55 bis 60 Prozent der Bevölkerung, die giftiger Propaganda ausgesetzt und in ihrem täglichen Leben von den Behörden abhängig sind, nehmen keine aktive Haltung zur Aggression ein und bilden eine schweigende Mehrheit. Sie sind jedoch keine überzeugten Befürworter*innen von Krieg und Diktatur. Diese Menschen könnten eines Tages zu unseren Verbündeten werden, wenn sich eine Gelegenheit bietet, wenn sie erkennen, dass Putin international geächtet ist und die Fortsetzung seiner Politik ihnen schweren Schaden zufügt. Wir sollten sie nicht aufgeben und nicht als Feinde behandeln; es lohnt sich, ihnen die Hand zu reichen und um ihre Seelen und Herzen zu kämpfen, wie dies, unter grossem persönlichem Risiko, unabhängige russische Journalist*innen und Aktivist*innen weiterhin tun.

Wenn dereinst die aggressive Diktatur in Russland zusammenbricht und ein schwieriger Transformationsprozess ansteht, wird die Solidarität mit den Menschen weiterhin unerlässlich sein. Aber wir müssen bis zu diesem Tag erst einmal durchhalten.

Übersetzung aus dem Englischen: Matthias Hui

  • Yuri Dzhibladze,

    *1962, ist in Moskau geboren und russischer Staatsbürger. Seit Ende der 1980er Jahre ist er in der Menschenrechts- und Demokratiearbeit in Russland und auf internationaler Ebene aktiv. 2022, mit dem Beginn der russischen Aggression gegen die Ukraine, musste er Russland verlassen und lebt jetzt in Polen. Er ist Leiter des Bereichs Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit des International Strategic Action Network for Security und Mitglied des Koordinationsausschusses der Civic Solidarity Platform.