Es sind die 2000er Jahre: Die Türme sind gefallen, der Finanzmarkt crasht, Paris Hilton ist populär, im Irak wird Krieg geführt, alle schauen Big Brother, ich quetsche meinen Hintern in zu enge Miss-Sixty-Jeans und bin damit ein gutes Jahrzehnt zu spät. Die Pubertät kickt. Der Hormoncocktail wirft mich in rosarote Höhen und auf den harten Boden von stickigen Gemeinschaftsduschen, ersten Katererfahrungen und gnadenlosem Ausgelachtwerden. Die Schule fällt mir leicht, trotzdem finde ich alles scheisse. Und die heterosexuelle Matrix greift: Die Welt ist fraglos in zwei eindeutige Geschlechter geordnet, diese beziehen sich romantisch und sexuell aufeinander, und ich bin falsch. Die unbeholfenen Schminkversuche sitzen nicht, der Mädchenhabitus nicht, die romantischen Tagträume – in der Hauptrolle: die Zimmernachbarin im Internat – schon gar nicht. Ich bin falsch. Irgendwo in der Lücke spielen sich Existenz und Identität ab. Und dabei will mein pickliges Teenager-Ich doch nichts anderes als dazugehören.
Zeitgleich und anderswo schreibt Steffen Kitty Hermann, Philosoph*in, in der linken Zeitschrift arranca einen Text, der eine beispiellose Karriere machen wird: Performing the gap (2003)1. Der provokative, spielerische und erotisch-lustvolle Text ist die ungeahnte Geburtsstunde neuer geschlechtergerechter Schreibweisen im deutschsprachigen Raum. Bis dahin ist in kritischen, linken Medien das Binnen-I – der WOZ sei Dank – die etablierte Möglichkeit, Frauen sprachlich sichtbar zu machen. Feministische Sprachwissenschaftlerinnen wie Luise Pusch hatten sich am generischen Maskulinum abgearbeitet, klug und bissig, gegen erbitterte Widerstände. Durch ihre Arbeit wuchs das Bewusstsein für die «männliche Verzerrung»: Obwohl mit grammatikalisch männlichen Formulierungen alle Menschen mitgemeint sein sollen, denken bei «Arzt» oder «Pilot» statistisch mehr Menschen an Männer – so bleiben bei Kindern und Jugendlichen in der Vorstellungskraft eben Ärzte und Piloten Männer und Krankenschwestern Frauen. Mit realen, monetären Folgen.
In den 2000er Jahren wächst im deutschsprachigen Raum auch das Bewusstsein für Existenzweisen jenseits der heterosexuellen Matrix: Das Buch Gender Trouble von Judith Butler, Philosoph*in in den USA, schwappt aus dem akademischen in den öffentlichen Diskurs; in der Schweiz wird das Partnerschaftsgesetz errungen, das gleichgeschlechtlichen Paaren eine rechtliche Absicherung und eine grössere gesellschaftliche Anerkennung garantiert; Netzwerkarbeit bahnt den Weg für die spätere Gründung des Transgender Network Switzerland, welches Menschenrechtsarbeit für trans Menschen betreibt; der Begriff Nonbinarität oder Nonbinary für Menschen, deren Geschlechtsidentität sich nicht in den Kategorien «Mann» oder «Frau» verortet, ist im deutschen Sprachraum noch nicht verbreitet, findet aber in queerer Subkultur spielerische und kreative Entsprechungen: Gendernauts, Cyborgs, Romanescos …
Steffen Kitty Herrmanns Performing the Gap ist eine dieser spielerischen Wortmeldungen jenseits der Geschlechterbinarität. Der Text beginnt programmatisch: «Um die Illusion zweier sauber geschiedener Geschlechter aufrechtzuerhalten, kennt unsere Sprache nur die zwei Artikel ‹sie› und ‹er›, sowie die zwei darauf bezogenen Wortendungen, zumeist das weibliche ‹…in› und das männliche ‹…er›. Alles, was ausserhalb dieser Ordnung liegt, wird fortwährend verleugnet, denn der Vorstellungshorizont unserer Sprache ist auf eine binäre Struktur eingegrenzt. Dagegen möchte ich einen anderen Ort von Geschlechtlichkeit setzen, einen Ort, den es zu erforschen gilt und um den wir kämpfen sollten, er sieht so aus: _.» Die vorgeschlagene Lücke, wird als Gendergap in den Sprachgebrauch eingehen. Sie ist die «Verräumlichung des Unsichtbaren, die permanente Möglichkeit des Unmöglichen». Der Gendergap eignet sich die Lücke an. Nicht im Sinn einer Rückkehr oder einer Souveränität, sondern mit Neugier: eine lustvolle, antipatriarchale, kritische Praxis mit unbestimmtem Ausgang.
Es sind die 2020er Jahre. Schlagworte wie «Genderideologie» und «Genderwahn» finden eine breite Akzeptanz in der Öffentlichkeit und werden gezielt von rechts ausgespielt, um die Grenzen von geschlechtlicher Existenz wieder eng zu zurren. In deutschen Bundesländern wie Bayern, Sachsen und Hessen gibt es sogar ein «Genderverbot» – als liesse sich «gendern» vermeiden, als wäre Sprache nicht per se vergeschlechtlicht … Auch in linken Kreisen, auch in der Leser*innenschaft der Neuen Wege, wird ein inklusiver Sprachgebrauch manchmal als Sprachverhunzung bezeichnet. Mein erwachsenes Ich – inzwischen freilich mit passenden Jeans und einer guten Portion Resilienz gegen den Mief von Gemeinschaftsduschen – beobachtet die Gehässigkeit dieser «Anti-Gender»-Diskurse mit Befremden. Der spielerisch-mutige Aufbruch von damals hatte im Blick, was in Anti-Gender-Äusserungen zwischen die Zeilen fällt: Die Lücke, das Sternchen, der Doppelpunkt – sie alle sind Raum für Identitäten, Existenzen. Für Menschen. Für Gerechtigkeit.