Alle Menschen sind vom ersten bis zum letzten Tag ihres Lebens bedürftig. Dies ist der wesentliche Grund dafür, dass wir fast alle etwas tun, das sich «Arbeiten» oder «Wirtschaften» nennt. Alle Menschen kommen als abhängige Säuglinge zur Welt. Nur wenn sich ihnen jemand zuwendet – mit Nahrung, Schutz, Sorge und Sinn, und zwar sofort und über Jahre – können sie erwachsen werden. Wirtschaften bedeutet nichts anderes, als dass Menschen tätig dazu beitragen, dass alle bekommen, was sie zum Leben brauchen. Oder mit anderen Worten: dass das Zusammenleben der Milliarden Erdenbürgerinnen und Erdenbürger, die mit unzähligen anderen Lebewesen den grosszügigen und verletzlichen Lebensraum Erde bewohnen, gelingt.
Auf den ersten Seiten der meisten Lehrbücher der Ökonomie ist von dieser Zweckbestimmung allen Wirtschaftens die Rede. Auch bei Wikipedia steht: «Wirtschaft oder Ökonomie ist die Gesamtheit aller Einrichtungen und Handlungen, die der planvollen Befriedigung der Bedürfnisse dienen.»1
Der Begriff Ökonomie leitet sich von zwei griechischen Wörtern ab: oikos und nomos. Oikos bedeutet Haus oder Haushalt. Nomos bedeutet Gesetz oder Lehre. Die Oiko-Nomia ist also die Praxis und Theorie des zweckmässigen Haushaltens. Wie jeder Haushalt hat auch der Grosshaushalt Welt2 die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alle, die im gemeinsamen Haus leben, bekommen, was sie zum Leben brauchen, ohne dass dabei der Kosmos, in den der Haushalt eingebettet und auf den er angewiesen ist, Schaden nimmt.
Ungefähr ab Seite zwei lesen sich die heute gängigen Lehrbücher der Ökonomie allerdings so, als wäre die Welt kein Haushalt, sondern ein Markt. Auf ihm treten gesunde, allseits informierte Menschen in Erscheinung, die immer schon erwachsen und mit allem Notwendigen versorgt sind, die niemals schwanger werden und stets frei darüber entscheiden, welche Waren sie wann wo produzieren und mit wem gegen wie viel Geld tauschen wollen. Nur noch am Rande ist von Privathaushalten und vom umgebenden Kosmos die Rede, und die Mitte der Ökonomie ist nicht mehr die Befriedigung der Bedürfnisse aller, sondern «das freie Spiel von Angebot und Nachfrage».
Wie kommt es zu diesem spektakulären, aber interessanterweise kaum je begründeten Themenwechsel, der sich zwischen Seite eins und Seite zwei der Lehrbücher vollzieht? Was bedeutet es, dass wir offensichtlich mit einem doppelten Begriff von Wirtschaft leben? Mit einer verschwiegenen bedürfniszentrierten und einer grell beleuchteten tauschzentrierten Ökonomie?
Der Grund ist, dass erst kürzlich das Patriarchat zu Ende gegangen und die Sklaverei offiziell abgeschafft worden ist.3 Als nämlich im alten Griechenland Philosophen den Begriff «Ökonomie» in die Welt setzten, war noch allseits akzeptiert, dass menschliche Gesellschaften aus Freien und Abhängigen bestanden. Aufgabe der Abhängigen war es, im Oikos für alles Lebensnotwendige und für den Nachwuchs zu sorgen. So erzeugten sie nicht nur das Leben, sondern darüber hinaus die Freiheit der Sklavenhalter, die je einen Haushalt kontrollierten und sich dadurch ihrerseits «höheren» Tätigkeiten zuwenden konnten: der Politik, der Theoriebildung, dem Krieg.
In der Logik dieser hierarchisch gegliederten Gesellschaftsformation entstand das Weltbild, auf das zünftige Wirtschaftswissenschaftler*innen sich noch heute gerne verlassen: Der freie einheimische Bürger besitzt einen Privathaushalt, in dem seine Ehefrau, unterstützt allenfalls durch Dienstboten, Care-Migrantinnen, Kitas, Au-pair-Mädchen, Gross- oder Tagesmütter, möglichst unsichtbar dafür sorgt, dass das Abendessen bereit, das Baby gestillt, die Wohnung aufgeräumt und die Stimmung harmonisch ist, wenn der sogenannte Ernährer des Abends von dem heimkehrt, was «Arbeit» heisst und was mit einiger Wahrscheinlichkeit ist, was der Anthropologe David Graeber einen «Bullshit-Job»4 nennt.
Im Jahr 1793 wurde Olympe de Gouges, die Verfasserin der Erklärung der Rechte der Frau und Bürgerin, in Paris enthauptet. Bald darauf begannen Frauenrechtlerinnen, gegen ihren Status als «Hausvieh»5 zu revoltieren. Im 20. Jahrhundert erkämpften sie Bürgerinnenrechte und Diskriminierungsverbote und führten die feministische Hausarbeitsdebatte. Sie sagten laut und immer lauter, dass weibliche Gratisarbeit vorsätzlich verschwiegen wird, um den Profit derer zu mehren, die nur zählen, was Geld einbringt.6 Einige forderten die gleichberechtigte Aufteilung der Sorgearbeit zwischen den Geschlechtern, andere die Verkürzung der Erwerbs- oder einen Lohn für Hausarbeit. Gemeinsam erreichten sie, dass in den 1990er Jahren in vielen Ländern die Datenerhebung zur unbezahlten Arbeit begann.
Auf dieser Grundlage bauten Wissenschaftler*innen und Aktivist*innen aus, was schon vorher als Home Economics oder Theorie der Reproduktion angefangen hatte und neu Vorsorgendes Wirtschaften7 oder Care-Ökonomie hiess. Im März 2015 wurde in Berlin die Care-Revolution ausgerufen, im Dezember desselben Jahres in St. Gallen der Verein «Wirtschaft ist Care» gegründet. Er setzt sich ein «für die Reorganisation der Ökonomie um ihr Kerngeschäft, die Befriedigung tatsächlicher menschlicher Bedürfnisse weltweit»8.
Im Januar 2020, kurz vor dem 50. Davoser Weltwirtschaftsforum, berichtete die britische Entwicklungsorganisation Oxfam: «Frauen verdienen im Schnitt 23 Prozent weniger [als Männer] und sind häufiger von extremer Armut betroffen. Das ist das Ergebnis eines Wirtschaftssystems, in dem Frauen und Mädchen täglich über 12 Milliarden Stunden unbezahlte Hausarbeit, Pflege und Fürsorge leisten, ohne dass der Wert dieser Arbeit [...] anerkannt wird. Wenn man für diese Arbeit den Mindestlohn ansetzt, entspricht das 11 Billionen US-Dollar im Jahr.»9 Im Frühjahr 2020 schliesslich enthüllte eine weltweite Pandemie, welche Arbeit überflüssig und welche lebens- und zukunftsrelevant ist: Nicht Airlines, Banker, Fussball und Professoren halten das menschliche Leben und Zusammenleben im verletzlichen Kosmos Erde aufrecht, sondern Eltern, Grosseltern, Pflegepersonal, Bäuerinnen, öffentliche Infrastruktur, Reinigungs-, Entsorgungs- und Lieferdienste.
Es ist Zeit, die zweigeteilte Ökonomie endgültig aus den Angeln zu heben.
Für die weltweite Bewegung, die sich dieses Ziel setzt, hat sich inzwischen der englische Begriff Care etabliert. Viele Leute sind es zwar noch gewohnt, Care als «weiche», mütterliche Tugend zu verstehen, die in Privathaushalten und in speziellen, weiblich dominierten Sektoren das «harte» männliche Kalkulieren draussen im feindlichen Leben erträglich macht. Care steht aber, wie die Wiener Sozialwissenschaftlerin Michaela Moser im ABC des guten Lebens10 schreibt, je länger je mehr für ein neues (oder auch uraltes) Paradigma, für ein Kriterium, an dem sich das Ganze der Ökonomie zu messen hat: «für das Bewusstsein von Abhängigkeit, Bedürftigkeit und Bezogenheit als menschliche Grundkonstitution, und [...] für konkrete Aktivitäten von Fürsorge in einem weiten Sinne. Es geht um ein Sorgen für die Welt, [...] nicht nur durch pflegerische und sozialarbeiterische Tätigkeiten oder Hausarbeit im engen Sinn, sondern [...] durch den Einsatz für einen kulturellen Wandel.»11
Dieses Sorgen füreinander und für die Welt war schon immer die Mitte eines grossen Teils der Oiko-Nomia und muss es (wieder) für alles Wirtschaften werden: Ökonomie ist die sorgsame, umsichtige Befriedigung der Bedürfnisse von Milliarden menschlichen Würdeträger*innen, die, samt ihren Nachkommen, im grosszügigen, verletzlichen und bedrohten Lebensraum Erde gut leben wollen: Wirtschaft ist Care.
Ina Praetorius: Die Welt ein Haushalt. Texte zur theologisch-politischen Neuorientierung. Mainz 2002.
Vgl. zum postpatriarchalen Denken: Ina Praetorius: Zum Ende des Patriarchats: Theologisch-politische Texte im Übergang. Main 2000, sowie Ina Praetorius: Handeln aus der Fülle. Postpatriarchale Ethik in biblischer Tradition. Gütersloh 2005.
David Graeber: Bullshit Jobs. Vom wahren Sinn der Arbeit. Stuttgart 2020.
Immanuel Kant: Beantwortung der Frage; Was ist Aufklärung (1784). In: Immanuel Kant: Sämtliche Werke Bd. 4, o. O. 2000, S. 221.
Vgl. z. B. Silvia Kontos, Karin Walser: …weil nur zählt, was Geld einbringt. Probleme der Hausfrauenarbeit. Gelnhausen, Berlin, Stein 1979.
Christiane Busch-Lüty, Maren Jochimsen, Ulrike Knobloch, Irmi Seidl (Hrsg.): Vorsorgendes Wirtschaften. Frauen auf dem Weg zu einer Ökonomie der Nachhaltigkeit (Politische Ökologie, Sonderheft 6). München 1994.
*1956, ist Theologin, Ethikerin und Autorin. Sie ist Gründungsmitglied des Vereins «Wirtschaft ist Care». Sie lebt in Wattwil im Kanton St. Gallen.