Das Bündnerland ist ein anziehendes Stück Erde. Das haben auch die Automobilisten bemerkt, die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts mit ihren lauten und stinkenden Maschinen die engen Bergsträsschen hinaufstürmen. Weil von ihnen eine grosse Gefahr für Menschen und Tiere ausgeht, beschliesst die Kantonsregierung im August 1900 ein Automobilverbot auf Graubündens Strassen. Sicherheitsbedenken stehen im Vordergrund, doch auch Angst vor der Konkurrenz spielt eine Rolle: Die Pferdekutschen der Post sind immer noch das wichtigste Verkehrsmittel – und aus der Sicht der Postmächtigen soll sich nichts daran ändern. Graubünden fungiert bereits zu dieser Zeit als ein wichtiges Ziel des internationalen Fremdenverkehrs. Die Hoteliers haben kein Interesse an Autos: Schliesslich suchen ihre Gäste Ruhe in den Bergen. Zum Transport der Tourist*innen hat man für teures Geld die Strecken der Rhätischen Bahn erbaut. Diese Investitionen müssen sich rentieren.
Es gibt also handfeste Interessen, die für ein Autoverbot sprechen, doch die Autofreunde lassen nicht locker. Das kantonale Parlament möchte Ausnahmen zulassen, scheitert aber am Willen des männlichen Stimmvolks. 1911 wird das Autoverbot gar in der Kantonsverfassung verankert. Es kommt der Erste Weltkrieg und Armeelastwagen rattern über Graubündens Berge. Die Kantonsregierung möchte jetzt das generelle Verbot von Automobilen aufheben, auch die Hoteliers haben inzwischen die Seite gewechselt. Innerhalb von sechs Jahren befinden die Bündner Bürger an der Urne siebenmal über die Autofrage. Im Januar 1925 kehrt eine Mehrheit zum Totalverbot der Vorkriegszeit zurück. Der in Graubünden aufgewachsene Theologe Leonhard Ragaz schreibt dazu in den Neuen Wegen, dieser Entscheid habe viele gefreut, die keine Reaktionäre seien, im Gegenteil: «Man kann ja sehr wohl durch Reaktion gegen bestimmte Zeiterscheinungen dem Fortschritt dienen.»1
Dem Fortschritt zu dienen: Dafür war Ragaz angetreten – doch es sollte einer sein, der menschlichem Mass entspricht. Zunächst dem politischen wie theologischen Freisinn verpflichtet, setzte er sich als Stadtpfarrer in Chur mit der Lage der Arbeiter*innen auseinander. Später, als er am Basler Münster wirkte, tauchte Ragaz dann tiefer in Theorie und Praxis der proletarischen Bewegung ein. So ergriff er in einer Predigt Partei für streikende Bauarbeiter, was dem Basler Bürgertum nicht gefiel. Durch seine Tätigkeit als Theologe wurde er mit sozialen Fragen konfrontiert. Ragaz erlebte die Realität einer Klassengesellschaft: elende Lebensbedingungen sogenannt kleiner Leute, an den Rand Gedrängter und Verachteter. Diese Wirklichkeit stand in krassem Kontrast zu Reichtum und Wohlstand der angeblich besseren Kreise.
Wie liessen sich solche Verhältnisse grösster Ungerechtigkeit mit der frohen, befreienden Botschaft des Jesus von Nazareth vereinbaren, die doch die christliche Welt bestimmen sollte? An der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert beschäftigte diese Frage viele Theologen und Lai*innen. Leonhard Ragaz war wohl einer von jenen, die sich am gründlichsten davon herausfordern liessen. Das wäre ihm kaum gelungen ohne das Engagement seiner Frau Clara Ragaz-Nadig: Sie war ihrem «Leu», wie sie Leonhard nannte, nicht nur eine treue Gefährtin, sondern ging ihrem Mann vielfach voraus und half so, die zahlreichen Widerstände auf dem gemeinsamen Weg zu überwinden.
Beeinflusst durch die Lektüre von Karl Marx’ Kapital, hält Ragaz in seiner 1906 in Basel veröffentlichten Schrift Das Evangelium und der soziale Kampf der Gegenwart fest, die «kapitalistische Wirtschaftsordnung» widerspreche «der Lebensordnung des Evangeliums».2 Wohl habe der Kapitalismus manches Wertvolle für die Entwicklung der Menschheit geleistet, doch sein eigentliches Ziel sei die «Selbstvermehrung des Kapitals». So werde der Mensch, der nach dem Evangelium wie nach der Lehre des Philosophen Immanuel Kant «nie bloss als Mittel, sondern immer zugleich als Selbstzweck behandelt werden soll», zu einem «Mittel zur Erzeugung von Profit».3 Die Kirche, die sich auf das Evangelium berufe, müsse «aller Welt und besonders den Arbeitern» vernehmbar sagen, dass sie «mit den bestehenden weltlichen Ordnungen nichts zu tun hat, dass wir nicht eine Schutzmacht des Kapitalismus oder Konservativismus oder des Freisinns sein wollen, sondern eine Streitmacht des Gottesreiches.»4
«Das Reich Gottes» hatte Leonhard Ragaz im Blick – für heutige Leser*innen der Neuen Wege, wenn sie nicht gerade religiös geprägte Linke sind, ein reichlich fremdartiger, vielleicht sogar befremdlicher Begriff. Gemeint ist die Hoffnung auf das, was kommen soll: «ein neuer Himmel und eine neue Erde», wie es in der Offenbarung des Johannes (Kapitel 21, Vers 1) heisst. Dieses Gottesreich ist also nicht als ein jenseitiges gedacht, wie es das orthodoxe Christentum verkündete. Ragaz kritisierte explizit die «herkömmliche Jenseitsorientierung» der Kirche: Sie komme «nicht von Jesus und den Propheten», denn die «Stimmung des Urchristentums ist durchaus konzentriert in der Bitte: ‹Dein Reich komme›.»5
Im Sinne von Ragaz bedeutet das Reich Gottes «die Neuschöpfung aller Dinge von Gott her, aller, worin alle erlöst werden, alles Seufzen der Schöpfung gestillt, […] alles Stückwerk vollendet und aller Tod in Leben verschlungen sein wird».6 Eine gewaltige Vision! Für Ragaz sind die Menschen «Mitkämpfer», Mitkämpferinnen Gottes.7 Sie können das Kommen des Reiches verhindern, sie können es aber auch beschleunigen. Willy Spieler, langjähriger Redaktor der Neuen Wege, hat in einem lesenswerten Buch zur Geschichte unserer Zeitschrift festgehalten: «Für das Reich Gottes eintreten heisst, sich für eine bessere Welt einsetzen.»8 Dies bedeutet keineswegs, dass nur gläubige Menschen an seinem Kommen arbeiten könnten. Oft sind es gerade die vermeintlich «Gottlosen», in denen die Sehnsucht nach dieser besseren Welt viel vernehmlicher pocht als bei den «Frommen». So sah Ragaz gerade im Sozialismus einen Messianismus, die Hoffnung auf Erlösung, am Werk: «Glaube an das Reich der Gerechtigkeit für die Erde».9 In diesem Glauben ist die Verbindung zwischen der biblischen Botschaft und der sozialistischen Bewegung zu finden. Und so wird auch die radikale Gesellschaftstheorie, beispielsweise des Marxismus, zu einem nützlichen Werkzeug in den Händen revolutionärer Christ*innen.
Leonhard Ragaz war ein radikaler Gesellschaftstheoretiker, der die theologischen Wurzeln seines Denkens nicht verleugnete. Das wird an der Kritik des kapitalistischen «Maschinenwahns» deutlich, der sich für ihn im Automobilismus in konzentrierter Form zeigt. In seiner Monatsrundschau vom Mai 1927 schreibt er ausführlich darüber. Etwas mehr als zwei Jahre zuvor ist das Autoverbot in Graubünden endgültig gefallen. Ragaz hat wohl mit einem solchen Ergebnis gerechnet, doch er lässt sich in seinem Kampf nicht beirren. Im Vorfeld einer eidgenössischen Abstimmung zu einem Verkehrsgesetz, das von den Stimmbürgern dann verworfen wird, äussert sich Ragaz über den «modernen Götzendienst». Hier fallen harte Worte. Ein Satz seines Kommentars sticht besonders ins Auge: «Ein Sozialist, der für das Auto schwärmt, ist wie ein Pazifist, der die Kanonen verehrt.»
Dem Auto als «Ausdruck des wilden Egoismus des heutigen Menschen» stellt der Autor die Eisenbahn als «Ausdruck eines Gemeinschaftswillens» entgegen. Ragaz macht seine Kritik vor allem am Blutzoll fest, den der Autoverkehr seit seinen Anfängen fordert: « […] das Auto ist ein Mörder», und das «in riesigem Massstab».10 Der Journalist Marcel Hänggi, ein aktueller Kritiker des Automobilismus, hält fest: «Hätte man um 1900 geweissagt, das Auto werde eine Million Menschen töten, es wäre wohl überall verboten worden. Heute aber tötet das Auto weltweit mehr als eine Million Menschen pro Jahr.»11 Ragaz nimmt eine dämonische Kraft wahr: den «Auto-Teufel»12 und den «Verkehrs-Moloch»13. Aus der Sicht des Theologen wird das Auto zum Götzen – einem von Menschen geschaffenen, falschen Gott, dem sie ihre Opfer, ja: auch Menschenopfer darbringen.
Ragaz ist es wichtig zu betonen: Er bekämpfe nicht das Auto, «sondern die Art seiner heutigen Verwendung».14 «Ungerechtigkeit und Torheit» sei es zu glauben, dass alle, die ein solches Fahrzeug lenken oder mit ihm fahren, am Geist der «Brutalität, ja Ruchlosigkeit und Gottlosigkeit des Autos» teilhätten. Ragaz geht es nicht um ein Ankreiden persönlichen Verhaltens, sondern um das Herausarbeiten von «Tendenzen, die in einem derartigen Vehikel verkörpert sind».15 Er stellt zudem einen Forderungskatalog auf, an dem die Verwendung des Autos zu messen wäre: bezüglich des Tempos, der Vermeidung von Lärm und der Einhaltung der Nachtruhe, der Vermeidung von Luftverschmutzung sowie des Schutzes der Natur. Und nicht zuletzt: «Das Luxusauto ist auf das Schärfste zu besteuern.»16 Ragaz fragt unermüdlich: Welchen Fortschritt wollen wir denn eigentlich?
Die Frage danach, was «Fortschritt» bedeuten soll, hat seit den Tagen von Leonhard Ragaz nichts von ihrer Dringlichkeit eingebüsst. Die von ihm formulierte Kritik an einer kritiklosen Anbetung des technischen Fortschritts, am Glauben, es gebe keine Alternativen zur kapitalistischen Ausprägung dieses Fortschritts, sowie an einem «Fatalismus, der sich unter alles beugt, was mit frechen Ansprüchen auftritt»17, fand in unserer Gegenwart ein Echo – allerdings ohne Bezug auf diesen Autor und die Tradition, in der er steht. So hat beispielsweise der deutsche Soziologe Ulrich Beck vom «industriellen Fatalismus» gesprochen.18 Eine theologische Deutung des Geschehens in Begriffen wie «Götzendienst», «Mammon» oder «Moloch» müssen sich die modernen Gesellschaftswissenschaftler*innen allerdings versagen – sie käme ihnen vermutlich auch gar nicht in den Sinn.
Der spezifische Ansatz von Ragaz, der neben den materiellen auch die «spirituellen» Auswirkungen des Kapitalismus unter die Lupe nahm, hat über die Kreise des religiösen Sozialismus hinaus nur wenig Resonanz gefunden. Eine wichtige Mitstreiterin in dieser Sache war die holländische Dichterin und Philosophin Henriette Roland Holst. Im Rahmen einer im Jahr 1931 durchgeführten Vortragsreihe im Zürcher Volkshaus befasste sie sich mit der Frage einer Erneuerung des Sozialismus. Ihre Kritik an der sozialistischen Bewegung gipfelte in der Aussage, diese könne das Wesen des gegenwärtigen Kapitalismus nicht erkennen, weil sie selbst «noch zu sehr in der Vergottung der heutigen Technik und ihrer Errungenschaften befangen» sei.19 Das System der Arbeit werde ausschliesslich nach seinen quantitativen Ergebnissen beurteilt – ohne Rücksicht auf Qualität und Charakter der von ihr erzeugten Güter. Wolle der Sozialismus die Menschheit wirklich erlösen, müsse er «der Vergottung der Quantität» entgegentreten.20 In diesen Worten ist ein Vorklang dessen zu vernehmen, was dann seit den 1970er Jahren als Vorrang des qualitativen gegenüber dem quantitativen Wachstum bezeichnet wurde.21
Die Entwicklung nach dem Zweiten Weltkrieg ging dann aber erst einmal in eine andere Richtung. Die sogenannt autogerechte Stadt entstand auch unter tätiger Mitwirkung linker Politiker. Im Novemberheft des Jahres 1963 veröffentlichten die Neuen Wege einen Beitrag, der zuerst in den Blättern für deutsche und internationale Politik erschienen war. Ideologiekritisch setzt sich der Autor Jan Werk mit dem Auto als einem angeblichen «Vehikel der Freiheit» auseinander und zitiert in diesem Zusammenhang den hessischen Ministerpräsidenten Georg-August Zinn, einen Sozialdemokraten: Dieser habe bei der Eröffnung der Frankfurter Automobilausstellung die «Nation auf Rädern» gefeiert. Der Autor fragt: «Die Räder rollen: doch wohin und wozu?» Längst habe das Auto aufgehört, nur ein Transportmittel zu sein, und sei zum «Fetisch» geworden, «dem tiefe Ehrbezeugung gebührt».22
Die Zeiten, in denen das Auto mit dem Fortschritt gleichgesetzt wurde, scheinen nun doch allmählich – zumindest in unseren Breitengraden – ihrem Ende entgegenzugehen. Die Kritik einer Religion des Kapitalismus, wie sie Leonhard Ragaz und die Neuen Wege am Beispiel des Automobils entfaltet haben, hat ganz gewiss ihren Beitrag dazu geleistet.23 ●
Leonhard Ragaz: Graubünden und das Automobil (Rundschau). In: Neue Wege 2/1925, S. 69.
Leonhard Ragaz: Das Evangelium und der soziale Kampf der Gegenwart. Basel 1906, S. 31. Zitiert nach einem unveröffentlichten Manuskript von Hans-Ulrich Jäger. Der Autor hat es mir freundlicherweise zur Verfügung gestellt.
A. a. O., S. 34. Im Original gesperrt gedruckt.
A. a. O., S. 61.
Leonhard Ragaz: Zur gegenwärtigen Umgestaltung des Christentums. In: Neue Wege 10/1909, S. 299.
Leonhard Ragaz: Das Reich Gottes in der Bibel. Zürich 1948, S. 39.
A. a. O. S. 35.
Willy Spieler, Stefan Howald, Ruedi Brassel-Moser: Für die Freiheit des Wortes. Neue Wege durch ein Jahrhundert im Spiegel der Zeitschrift des religiösen Sozialismus. Zürich 2009, S. 89.
Leonhard Ragaz: Über Religion, Christentum, Dogma, Theologie, Kirche, Bibel – mit besonderer Berücksichtigung des sogenannten Gottlosenproblems. In: Neue Wege 9/1932, S. 364.
Leonhard Ragaz: Vom modernen Götzendienst (Rundschau). In: Neue Wege 5/1927, S. 248. Hervorhebung im Original gesperrt gedruckt.
Marcel Hänggi: Die grosse Irrfahrt. In: WOZ Die Wochenzeitung, Nr. 26, 25. Juni 2020, S. 15.
Leonhard Ragaz: Gegen den Maschinenmenschen (Rundschau). In: Neue Wege 4/1928, S. 185.
Leonhard Ragaz: Monatsschau. In: Neue Wege 1/1930, S. 37.
Neue Wege 5/1927 (FN 10), S. 247.
Leonhard Ragaz: Gegen den Maschinenmenschen (Rundschau). In: Neue Wege 6/1927, S. 306.
Neue Wege 5/1927 (FN 10), S. 252.
A. a. O., S. 252 f.
Ulrich Beck: Wir Fatalisten. Im Labyrinth der Risikogesellschaft. In: Ulrich Beck: Politik in der Risikogesellschaft. Essays und Analysen. Mit Beiträgen von Oskar Lafontaine u. a. Frankfurt/M. 1991, S. 82–97.
Henriette Roland Holst: Zur Erneuerung des Sozialismus. I. Ist die Erneuerung des Sozialismus notwendig? (Die Krise des Sozialismus). In: Neue Wege 5/1931, S. 209.
A. a. O., S. 210.
Vgl. dazu beispielsweise Erhard Eppler: Ende oder Wende. Von der Machbarkeit des Notwendigen.
Stuttgart 1975.
Jan Werk: Vehikel der Freiheit?. In: Neue Wege 11/1963, S. 325.
Der Begriff «Kapitalismus als Religion» wurde vom Philosophen Walter Benjamin geprägt. Vgl. dazu auch Kuno Füssel, Michael Ramminger (Hrsg.): Kapitalismus: Kult einer tödlichen Verschuldung. Walter Benjamins prophetisches Erbe. Münster 2021.
*1949, lebt in Winterthur und ist Mitglied der Redaktion der Neuen Wege.