Ein halbes Jahr lebe ich nun mit meiner Familie bereits wieder in der Schweiz. Seit fünf Monaten gehe ich einer Erwerbsarbeit nach. Ich versuche mich dabei kulturell, administrativ, politisch, sozial und spirituell ins System Schweiz einzufügen. Dabei erlebe ich, wie sich mein Selbstbild verändert. Während Jahren war unser Alltag in El Salvador geprägt durch kreatives, kollektives Suchen von Lösungen für konkrete Veränderungen. Dass Gruppen und Gemeinschaften ständig neue Wege ausprobieren und auch ausprobieren müssen, hat bei mir persönlich viel Energie freigesetzt.
Nun erfahre ich, dass es in der Schweiz für die meisten Fragen bereits Antworten, für die meisten Probleme bereits Lösungen gibt. Unser rechtlicher und sozialer Rahmen strukturiert viele Lebensbereiche, was über die Jahre zu Wohlstand und sozialer Sicherheit geführt hat. Es gibt sie nur selten, die Schlangen von Obdachlosen, die Wellblechhäuser, die offene Waffengewalt auf der Strasse. Dafür bin ich dankbar. Dies macht es «einfach» und «attraktiv», wieder in der Schweiz zu leben. Doch tief in meinem emotionalen Selbst drängt sich die Frage auf: Wo bleibt eigentlich die Person mit ihren Ressourcen, ihrer Spontaneität? Die Kraft von Gemeinschaften? Die kollektive Intelligenz und Kreativität bei der Suche nach Lösungsansätzen – über vorhandene Modelle hinaus?
Auf der Sinnebene habe ich Jahre grösster Genugtuung in El Salvador hinter mir: Ich zählte auf geniale Dorfgemeinschaften mit starken Traditionen und einem Willen zu Veränderung, ein Team, welches viel Energie in die Begleitung benachteiligter Bevölkerungsgruppen setzte. Ich erlebte einen grossen Hunger nach sozial und politisch wirksamer Spiritualität und die Überzeugung, dass Entwicklung auch von ganz unten beginnen kann. Und nun? Wo bleibt sie, diese «Kraft der Veränderung»?
Beinahe erdrückt fühle ich mich aufgrund der Klimakrise, die für Millionen von Menschen im Globalen Süden bereits zum Klimanotstand geworden ist. Seit Jahren lautet das Fazit der jährlichen UN-Klimakonferenzen, es sei nun die «letzte Chance». «Vorbei?», frage ich mich. Es ist nicht einfach, wieder auf der Gewinnerseite zu leben und gleichzeitig unsere politische Handlungsunfähigkeit anerkennen zu müssen. Noch schwerer fällt mir, Kreativität walten zu lassen auf der Suche nach Handlungsansätzen, um aus der resignativen Starre zu treten. Sie hat auch mich erwischt … Ist denn grüner Kapitalismus wirklich alles, was bei uns mehrheitsfähig ist? Muss jeder klimapolitische Schritt nun wirklich auch lukrativ sein? Was braucht es, dass wir im behüteten Norden endlich unsere systemische Schuld eingestehen und mit Papst Franziskus beginnen, unsere «Wirtschaft, die tötet, in eine Wirtschaft des Lebens zu verwandeln»?
Ja, auch wir müssen bei uns anfangen! Deshalb habe ich mich über die Lektüre von Hoffnung durch Handeln gefreut. In Verbindung von Ökologie, Wissenschaft und Spiritualität eröffnen Joanna Macy und Chris Johnstone Perspektiven für transformatorisches Handeln. Das Buch reiht sich in die Tradition jener systemkritischen Leitfäden ein, die weniger bei Analysen ansetzen, als zu konkreten, vielfältigen Handlungsformen inspirieren. Im Zentrum steht der Mut zur Initiierung alternativer Lebensformen, aus der Überzeugung, dass diese irgendwann den notwendigen kulturellen Wandel auslösen, resiliente Lebensweisen begründen und so auch politische Veränderungen herbeiführen werden.
Die Methode ist spiralförmig: Alles beginnt mit der Dankbarkeit für das grosse Geheimnis des Lebens und unserer Integriertheit als menschliche Spezies in seine vielfältigen Zusammenhänge. Darauf folgt die Würdigung des Schmerzes, des eigenen wie auch des fremden, angesichts der Zerstörung der Lebensgrundlagen. Schliesslich geht es darum, die Welt mit neuen Augen sehen zu lernen, um daraus ins Handeln zu kommen, genährt von der Vision einer ökosensiblen und solidarischen Gesellschaft.
Was heisst «den Schmerz würdigen», wenn zu den «anderen», die Schmerz erleiden, auch alle nichtmenschlichen Formen des Lebens gehören? Wir sind zu einer biozentrischen Sichtweise eingeladen, uns als Wesen in Beziehung mit allem Leben zu verstehen und die Zusammenhänge der Ökosysteme nicht mehr nur in ihrem Nutzen für unsere Spezies, sondern in ihrer Ganzheit zu würdigen.
Conchita, die Agrarökologin, mit der wir in El Salvador zusammenarbeiteten, brach in Tränen aus, als sie erzählte, wie sie bei jedem Einsatz von Gift in der Landwirtschaft fühle, wie wir unserer Mutter Erde Schaden zufügen. Oft berührten mich die Bitten von Campesinas, die Gott als Mutter Erde um Vergebung baten für die Zerstörung, die andere anrichteten. Könnten wir die Folgen unseres CO2-Ausstosses als Schmerz an unserem eigenen Körper spüren, würde sich unser Verbrauch womöglich ändern.
Natürlich können wir es schaffen: Dazu brauchen wir nach Macy und Johnstone statt der alten Erzählungen von wirtschaftlichem Wachstum und glückbringendem Konsum eine neue. Sie heisst «Hoffnung durch Handeln», das Durchbrechen der passiven Starre auf der Basis einer ganzheitlichen Ökologie, welche die kapitalistische Selbstzerstörung überwindet. Als wir 2018 in El Salvador mit der Gründung einer neuen regionalen Basisgemeindeorganisation beauftragt wurden, stellten wir uns dieselbe Frage: Bei welcher Erzählung setzen wir an, um einen Sensibilisierungsprozess zu verstärken, der nicht von aussen gesteuert und keinen Assistenzialismus befördern, sondern von innen her wachsen soll?
Wir gaben der Vision den Titel «Auf die Schreie hören». Die Schreie aus unserem Alltag verwiesen uns auf den «Ur-Schrei» im Buch Exodus: «Ich habe die Schreie meines Volkes in Ägypten gehört … und entschlossen, es heraufzuführen, in ein Land, wo Milch und Honig fliessen.» Wenn es Schreie waren, die vor über 3000 Jahren das Befreiungshandeln Gottes erwirkt hatten, warum sollten sie es nicht auch heute tun?
Wir begannen in einem ersten Schritt, Schreie in unseren Dörfern und Gemeinschaften wahrzunehmen, sie zu zeichnen, nachzuspielen, zu kommentieren, Geschichten dazu zu erzählen, Lieder dazu zu singen. Es gab laute und lautlose Schreie, verzweifelte und hoffnungsvolle. Und immer wieder fragten Jugendliche, wie wir die stummen Schreie unserer Mutter Erde hören könnten – hervorgerufen durch Abholzung, Bergbau, Agrarindustrie, den Bau neuer Luxusviertel mitten im Urwald. Andere Schreie waren offensichtlich: die vielen Pfingstkirchen mit ihren auf die Strassen gerichteten Lautsprechern. Der Schrei, wenn ein Schuss fällt, und die absolute Stille danach. Die Schreie, wenn die Repression ins Dorf kommt auf der Suche nach Jugendlichen in Banden und immer Tod und Schrecken zurücklässt. Sogar das Dröhnen bei einem Erdbeben wurde als Schrei identifiziert.
Die Schreie waren mitten unter uns. Sie konnten uns helfen, unsere Weltordnung besser zu verstehen. Wir erhielten Zugang zu Ursachen. Diesen zweiten Schritt nannten wir «die Bestie beim Namen nennen». Ich war beeindruckt über die apokalyptisch-mythologischen Erklärungen unserer Freund*innen aus den Basisgemeinden: Sie zeichneten apokalyptische Bestien, grosse Spinnen, wuchtige Monster, und gaben ihnen Namen wie Gewalt, Waffenhandel, Landraub, Machtgier, Kolonialismus, Konsumismus, Neoliberalismus, aber auch Gleichgültigkeit und spirituelle Weltflucht.
Nun war es Zeit, sich auf die Suche nach Rissen und Spalten inmitten dieses bestialischen Systems zu machen. «Risse für neues Leben» nannten wir diesen dritten Schritt. Wir suchten nach Wegen gemeinschaftlicher Entwicklung von innen und unten. Und nach Vernetzung nach aussen und oben, um sich politisch und kulturell Gehör zu verschaffen. Nach einiger Zeit erlebten wir Jugendliche, die für Kinder Spielnachmittage organisierten als Gegengewicht zur Kultur der Gewalt. Frauen, die sich gegenseitig zu Treffen einluden, um Trennungen zu überwinden, sich Zeit zur Entspannung zu gönnen, und später, um Nahrungs- und Körperprodukte herzustellen und Gemeinschaftsläden zu eröffnen. Freiwillige, die Senior*innen zu Treffen begleiteten, welche mit viel Liebe organisiert wurden, und ihnen zeigten, wie viel sie für ihre Gemeinschaft noch immer wert waren. Diese und viele weitere Initiativen haben zu einer neuen Sicht auf die Realität geführt und gemeinschaftliches Handeln ausgelöst.
Wie aus der eigenen Starre kommen? Angetrieben von der Vision einer anderen Gesellschaftsordnung und biozentrischen Weltgemeinschaft ist es vielleicht doch nicht so falsch, weiterhin an die Kraft der kleinen Aufbrüche zu glauben, besonders an die Strategie des Widerstands und der Vernetzung im Alltag: Spalten und Ritzen inmitten des kapitalistischen Systems aufreissen und sie mit neuem Leben und neuer Lebenslust füllen. Je mehr wir sind, desto schneller wird sich etwas ändern und eine neue Welt wird konkret – auch in der Schweiz …
*1982, studierte Theologie in Fribourg und San Salvador, arbeitete als Jugendseelsorger und Pastoralassistent in Biel, bevor er von 2014 bis 2022 kirchliche Basisgemeinden in El Salvador begleitete. Aktuell ist er bei Fastenaktion (ehemals Fastenopfer) für Theologie und die Sensibilisierungsarbeit in der Schweiz zuständig.