Das mit dem «Buen Vivir» ist so eine Sache. In Europa wird es als Alternative zum kapitalistischen Wirtschaftsmodell hochstilisiert, während verschiedene lateinamerikanische Länder es in ihrer Verfassung verankert haben, ohne es in der Realpolitik tatsächlich umzusetzen. Als «Buen Vivir» oder «Vivir Bien» wird das Prinzip des «Guten Lebens» bezeichnet, das sich aus der andinen Kosmovision ableitet – dem indigenen Weltbild, das den Menschen nicht in den Mittelpunkt der Welt stellt, sondern als Teil des grossen Ganzen betrachtet. «Mutter Erde» stellt dabei kein Ressourcen-Reservoir dar, aus dem sich der Mensch nach Belieben bedienen kann, sondern einen lebendigen Organismus, dem man mit Respekt begegnen muss.
Die bolivianische Verfassung erklärt das «Vivir Bien» zu einem Grundprinzip. Was das genau bedeutet, wird nicht weiter ausgeführt. Evo Morales, der erste indigene Präsident des Landes, hält bei internationalen Konferenzen den Globalen Norden gern dazu an, mehr für den Umweltschutz zu tun. Gleichzeitig werden in Bolivien Naturschutzgebiete und indigene Territorien Projekten zur Ausbeutung der natürlichen Ressourcen geopfert: Staudämme, Minen, Ölförderung und seit neustem auch Fracking sind auch in Gebieten erlaubt, die eigentlich Schutzstatus geniessen.
Während immer mehr Indigene darauf hinweisen, dass das «Vivir Bien» als Konzept eine Erfindung von ausländischen Wissenschaftler*innen sei und der theoretisch-akademische Zugang seine wirkliche Bedeutung nicht erfassen könne, nehmen dennoch viele Bezug auf ihre Kosmovision, um sich vom sogenannten fortschrittlichen, modernen Lebensstil abzugrenzen. In Wirklichkeit ist dies nicht ganz so einfach. Yeny Paucar von der «Organisation Union de Mujeres Aymaras del Abya Yala» (Vereinigung der Aymara-Frauen Lateinamerikas) im südperuanischen Puno spricht vom Spagat der indigenen Bevölkerung zwischen dem traditionellen Leben in den ländlichen Gemeinden und den Einflüssen der sich ausbreitenden Städte und ihrem «modernen» Lebensstil. Immer mehr Indigene leben in der Stadt, teilweise bereits in der dritten Generation. Und auch wenn sich die meisten immer noch stark mit ihrer Kultur identifizieren, sprechen viele nur noch Spanisch und kennen das Leben im Dorf nur noch von Wochenendbesuchen. Yeny Paucar lebt heute in der Stadt, ist aber in einer Aymara-Gemeinde aufgewachsen. Sie hält deren Werte, gerade was den Umgang mit der Umwelt betrifft, bewusst aufrecht. «Wir können der Realität der heutigen Zeit nicht entfliehen», sagt sie, «und natürlich benutzen wir auch Plastik. Doch ich habe von meiner Mutter gelernt, nichts zu verschwenden. Bei uns landet eine Plastiktüte nicht nach einem einzigen Gebrauch im Müll, wir waschen sie und verwenden sie wieder, mindestens fünf Mal, bis sie auseinanderfällt.» Das Thema Umweltschutz habe dabei anders als in den sogenannten modernen Gesellschaften keinen akademisch-theoretischen Hintergrund, betont Yeny Paucar: «Bei indigenen Frauen ist die Sorge um Mutter Erde geradezu intrinsisch, und das ist auch logisch: Wir haben eine ganz besondere Beziehung zu ihr, weil wir ihr ähneln. Schliesslich bringt die Frau, genauso wie die Erde, Leben hervor und ernährt die Gemeinde.»
Der sorgsame Umgang mit der Natur ist bei den Aymara genauso wie in anderen indigenen Kulturen eng mit dem sorgsamen Umgang untereinander verbunden. Die Gemeinschaft zu pflegen, bedeutet, sich auf respektvolle Art und Weise in Beziehung mit allem und allen zu setzen, was einen umgibt: «Dem Nachbarn zum Beispiel einen Teller Suppe zu bringen, wenn man gekocht hat», sagt Yeny Paucar. «Die Tante zum Essen einzuladen, wenn ein Schaf geschlachtet wird. Sich auch um die Kinder anderer zu kümmern, wenn es nötig ist.»
Yeny Paucars Mutter, Rosa Palomino, ist seit den achtziger Jahren in Projekten zur Stärkung von indigenen Frauen engagiert. In den letzten vierzig Jahren hat sie vor allem im Kommunikationsbereich gearbeitet, um indigenen Frauen zu ermöglichen, ihre Realität und ihre Anliegen sichtbar zu machen. Es hat sie einiges gekostet, diese Tätigkeit und ihre familiären Aufgaben unter einen Hut zu bringen. Yeny erinnert sich, dass ihre Mutter sie – die jüngste Tochter – oft kurzerhand zu Workshops aufs Land mitgenommen hat. «Einmal war ich krank, ich hatte Zahnschmerzen und habe die ganze Zeit geweint», erzählt sie. «Damals habe ich mich lautstark darüber beklagt, dass meine Mutter die Arbeit priorisiert hat, statt sich um mich zu kümmern, doch heute bewundere ich sie dafür. Schliesslich war ich gut aufgehoben – eine der Teilnehmerinnen des Workshops hat mich im Arm gehalten und sich um mich gekümmert, damit meine Mutter sich einer Aufgabe widmen konnte, die für alle von grosser Wichtigkeit war: die Ausbildung der Frauen. Das ist es, was Gemeinschaft bedeutet: aufgehoben sein, einander begleiten.»
Eine ideale Beziehung ist laut Aymara-Tradition nach dem Prinzip der Komplementarität oder «Chacha-Warmi» aufgebaut: zwei Hälften, die sich perfekt ergänzen. «Chacha-Warmi» bedeutet auf Deutsch Mann-Frau, und ihre Vereinigung zu einem kompletten Ganzen bedeutet eine klare Aufgabenteilung, aber auch grossen gegenseitigen Respekt. Doch Rosa Palomino, die betont, dass sie nicht in den Hörsälen, sondern in der Universität des Lebens gelernt hat, sagt: «Dieser Respekt ist heute verlorengegangen. Dass Frauen als ignorant betrachtet beziehungsweise ihre Kenntnisse abgewertet werden, entspricht nicht unserer Kultur. Das Prinzip der Komplementarität ist heute drauf und dran zu zerbrechen.»
Dies bestätigt auch Yanett Medrano, die zurzeit an ihrer Doktorarbeit zur Genderthematik in den Anden schreibt. Yanett Medranos Mutter kommt aus einer Aymara-, ihr Vater aus einer Quechua-Familie, doch sie ist in der Stadt aufgewachsen, hat in Spanien studiert und spricht zu ihrem eigenen Bedauern keine indigene Sprache. Sie forscht seit Jahren zu Gender und dekolonialem Feminismus, vor allem auch im Umfeld ihrer Heimatstadt Puno. «Was ich in den indigenen Gemeinden sehr oft höre, ist, dass die Vorherrschaft der Männer und die Gewalt gegen Frauen dem Prinzip der Komplementarität vollkommen widersprechen. Dass da etwas zerbrochen ist.» Doch Yanett Medrano hat dafür eine interessante Erklärung: «Das ganze System von Unterdrückung, von der Erhebung einer sozialen Gruppe über eine andere, und auch der patriarchale Mechanismus von Macht und Gewalt kam eindeutig mit der Kolonialisierung nach Lateinamerika.»
Das macht die Feminismus- und Genderdebatte geradezu perfide: Während die heutigen Gesellschaftsstrukturen, unter denen Indigene im Allgemeinen und Frauen im Besonderen leiden, ein Kolonialerbe sind, werden die indigenen Gemeinschaften von europäischer Seite als machistisch kritisiert. Die Entwicklungszusammenarbeit will fast mit Gewalt Projekte zum Thema Gender und Frauenförderung durchdrücken. «Seit den 2000er Jahren ist das Thema in den vom Ausland finanzierten Projekten allgegenwärtig», sagt Yanett Medrano, die selbst als lokale Fachkraft in einem Projekt der Entwicklungszusammenarbeit tätig war. «Aber im Lauf der Jahre habe ich gemerkt, dass die Arbeit mit Konzepten und Begrifflichkeiten wie Gender und Feminismus im hiesigen Kontext nicht funktioniert.» Sie ist zwar selbst überzeugte Feministin, warnt aber vor Werkzeugen, die aus einem derart anderen Kontext stammen. Damit könne nichts Sinnvolles konstruiert werden. «Ich kann einer Aymara-Grossmutter nicht mit Ökofeminismus kommen», sagt sie, «und ich kann ihr auch nicht sagen, dass sie aufhören soll, zu kochen und sich um die Enkel zu kümmern.» Doch viele indigene Frauenorganisationen engagieren sich ohnehin in den Themenbereichen Frauenrechte und Umwelt, auch ohne Bezug zu theoretischen Konzepten, betont Yanett Medrano. «Schon bevor die Entwicklungszusammenarbeit sich auf diese Bereiche fokussiert hat, haben sich Frauen hier die Frage gestellt, warum Männer alle Bereiche des Lebens dominieren. Auch das Thema häusliche Gewalt ist aktuell und wird angegangen – nur eben nicht mit kontextfremden Konzepten und Methoden.»
Vielleicht liegt das Problem, welches die Entwicklungszusammenarbeit hier erkennen und lösen will, nicht darin, dass auch viele junge indigene Frauen – vor allem in ländlichen Gebieten – nach wie vor genau das wollen: kochen, Kinder und Tiere versorgen und Felder bestellen. Vielleicht liegt das Problem vielmehr am Anspruch der sogenannten modernen Gesellschaft, dass «Frauen auch arbeiten dürfen sollen». Denn damit wird eigentlich nichts anderes zum Ausdruck gebracht als die Annahme, dass Haus- und Feldarbeit sowie Kindererziehung keine Arbeit seien – und es wird unhinterfragt die patriarchale Denkweise übernommen, dass nur bezahlte Arbeit wirklich Arbeit sei und Anerkennung verdiene. An diesem Paradigma wird durch die Debatte um Care-Arbeit auch in der Schweiz seit Jahren gesägt. In diesem Zusammenhang kann man von Frauen wie Rosa Palomino viel lernen. Sie spricht nicht von Care-Arbeit, wenn sie sich auf die Aufgaben bezieht, die die Frauen in den indigenen Gemeinden übernehmen. Sie spricht von Arbeit. Und zwar ohne Umschweife, ohne ergänzende Klausel oder Erklärung. Von Arbeit, die fundamental für das Funktionieren und den Erhalt der Gemeinschaft ist, auch wenn das heute kaum mehr anerkannt werde, weder in den indigenen Gemeinden noch vom Staat. «Das Prinzip von ‹Chacha-Warmi› wird immer weniger angewandt», so Rosa Palomino.
«Chacha-Warmi» aus europäischem Blickwinkel zu verstehen, ist allerdings nicht ganz einfach, und oft wird der Machismus-Vorwurf (vor)schnell eingebracht. Da ist zum Beispiel die Geschichte mit den Steinen. Indigene Schamanen identifizieren flache Steine als weiblich und runde als männlich, weil letztere davonrollen können und erstere an Ort und Stelle bleiben. Damit wird unter anderem visualisiert, dass die Frauen in den Gemeinden bleiben, während die Männer zum Arbeiten in die Städte fahren. Zugleich lässt sich am Steinmodell zeigen, dass der Mann immer oberhalb der Frau platziert sein muss, damit die Beziehung stabil ist. Liegt der flache auf dem runden Stein, stürzt er ab. Das bedeutet aber nicht, dass der Mann wichtiger oder wertvoller ist als die Frau, denn die Identifizierung von «oben» mit «wichtiger» oder «besser» entstammt der europäischen Symbolik. Dass der flache Stein unten liegt, zeigt im Kontext der indigenen Gemeinden vielmehr auf, dass die Frau die Basis für die Beziehung und das gemeinsame Leben bildet: Der Mann stützt sich auf ihr ab, ohne sie hat er keinen Halt und rollt davon.
In einer harmonischen Beziehung zu allem und allen zu leben und so das kosmische Gleichgewicht aufrecht zu erhalten – dies ist für die Aymara und andere Indigene das Rezept zum «Vivir Bien», auch wenn es nicht explizit so bezeichnet wird. Doch genauso wie das Konzept eines «weissen Feminismus» in diesem Kontext nicht greift, weil es einer anderen Logik und einer anderen Lebensrealität entstammt, bezweifle ich, dass sich die andine Kosmovision so ohne Weiteres in Europa umsetzen lässt. Bestimmte Lebensformen und Spiritualitäten zu verteufeln und andere zu idealisieren, bringt uns weder bei der Suche nach persönlichem Wohlbefinden noch im Bemühen um die Bewahrung des Planeten weiter. Vielleicht müssten wir aufhören zu urteilen, zu gewichten und zu kategorisieren, und stattdessen anfangen, einander zuzuhören, voneinander zu lernen und uns gegenseitig zu inspirieren. Ja, das Gefühl von Fassungslosigkeit und Ohnmacht angesichts der globalen Zerstörung löst auch bei mir immer wieder den Wunsch aus, alles radikal umzukrempeln. Doch vielleicht reicht es für den Anfang, die eine oder andere indigene Weisheit in meinen Erfahrungsschatz aufzunehmen. Mein verstorbener Mann, ein Aymara-Indigener, hat immer gesagt: «Wenn wir deine und meine Philosophie vereinen, können wir die Welt verändern.» Ich trage ihn und seine Weisheit für immer in meinem Herzen, in der Hoffnung, dass er mich zu einem echten «Vivir Bien» führt.
Im Gedenken an Juan Rául Oscamayta Flores.
*1980, ist Journalistin und Autorin. Sie studierte Germanistik, Philosophie, Politikwissenschaft, Islamwissenschaft und Interreligiösen Studien. Seit 2017 ist sie bei einem Auslandseinsatz mit COMUNDO in Santa Cruz de la Sierra, Bolivien. 2020 geht sie nach Puno, Peru.