«Es braucht Nebenräume, in denen Diskussion möglich ist»

Geneva Moser, Matthias Hui, 19. November 2020
Neue Wege 11.20

Soziale Bewegungen brauchen Öffentlichkeit. Wie finden die feministische, die antirassistische und die Klimastreikbewegung Gehör in der Schweizer Medienlandschaft? Neue Wege-Gespräch mit Céline Schwarz (netto.null), Ugur Gültekin (WOZ) und Helena Rust (RosaRot).

Neue Wege: Im Frühling hat die Klimastreikbewegung ihren Aktionsplan lanciert. Aber, Céline Schwarz, kommen Ihre Anliegen für Klima­gerechtigkeit in der Gesellschaft an, werden Sie gehört?

Céline Schwarz: Das ist gerade bei diesem Thema ein Bubble-­Phänomen. Die Menschen, die bereits im Kontakt sind mit diesen Themen und auch kritische Zeitungen lesen, werden noch viel mehr damit konfrontiert und interessieren sich für den Klimastreik. Menschen, die sich dafür nicht interessieren, sind viel, viel schwieriger zu erreichen.

NW: Durch die Black-Lives-Matter-Bewegung hat in der Schweiz die öffentliche Auseinandersetzung mit Rassismus an Dynamik gewonnen. Ugur Gültekin, Sie sind Aktivist und mischen sich als Journalist aktiv in diese Debatten ein. Haben Sie eine
Plattform, wo Sie sich äussern können
und gehört werden?

Ugur Gültekin: Ich persönlich bin in einer privilegierten Situation. Bei der WOZ erhalte ich eine Plattform, wo ich mich äussern kann. Themen wie Rassismus und antirassistischer Aktivismus, Teilhabe und Partizipation sind Themen, die in der WOZ schon immer diskutiert wurden. In Bezug auf Repräsentation von Schwarzen und migrantischen Stimmen hat aber auch die WOZ ein Manko. Das ist ein grundsätzliches und schwerwiegendes Problem der Schweizer Medienlandschaft: Diese Stimmen sind massiv untervertreten.

NW: Seit dem feministischen Streik im Juni 2019 haben feministische Themen in der Öffentlichkeit einen anderen Stand. Helena Rust, hat diese Entwicklung die Rolle Ihrer Zeitschrift RosaRot als feministisches Medium verändert? Kommen Ihre Anliegen in der Öffentlichkeit zum Ausdruck?

Helena Rust: Wir müssen unterscheiden: Wir machen mit der RosaRot ja ein extremes Nischenprodukt. Ich bin aber nicht nur in der Redaktion aktiv, sondern auch im Streikkollektiv und im Streikhaus, das es jetzt in Zürich gibt. Dort merken wir, dass das Medieninteresse an der feministischen Bewegung sehr von Grossmobilisierungen abhängig ist. Im Vorfeld zum 14. Juni 2020 haben sich plötzlich alle wieder erinnert: Vor einem Jahr war ja dieser Streik – fragen wir doch die Kollektive, was sie jetzt tun. Wir konnten die vielen Medienanfragen fast nicht beantworten. Aber gerade jetzt während der Corona-Pandemie, wo es viele Themen gibt, die zu beleuchten aus feministischer und auch aus antirassistischer Perspektive sehr relevant wäre, passiert das dann nicht. Man interessiert sich für diesen Streik, nicht aber für eine feministische Perspektive auf die Gesellschaft.

Für die RosaRot bedeutet der Streik, dass wir plötzlich ein neues Publikum haben und innerhalb der feministischen Bewegung besser vernetzt sind. Wir sind offiziell an die Universität Zürich angebunden, bewegen uns aber mit dem Streik noch mehr aus der Uni heraus als vorher.

NW: Hat das Magazin netto.null das Ziel, an eine grössere Öffentlichkeit zu gelangen, oder hat Ihr Medium eine andere Funktion?

CS: Mit netto.null wollen wir eher Menschen ansprechen, die sich bereits für unsere Anliegen interessieren. Es kostet ja fünf Franken, das ist schon mal eine Hürde. Wir haben aber auch andere Projekte, zum Beispiel das Klima­blatt zu den nationalen Wahlen. Das war gratis, wir haben es auch in Briefkästen verteilt. Es informierte über die Relevanz der Klima­krise. Bei netto.null sprechen wir Themen an, die innerhalb der Bewegung kursieren. Es geht darum, die Bewegung lebendig zu erhalten und auch Diskussionen über Themen zu führen, bei denen wir uns nicht einig sind.

NW: Sind denn Medien für die Debatte untereinander und Medienarbeit für die ganze Gesellschaft zwei verschiedene Paar Schuhe?

UG: Innerhalb einer Bewegung braucht es verschiedene Zugänge zu Themen. Menschen mit sehr unterschiedlichen Wissens- und «Gefühlsständen» werden in eine Bewegung gespült. Es geht darum, eine gemeinsame Sprache zu finden. Auch in der Öffentlichkeit gibt es unterschiedliche Debattenniveaus. Wenn wir beispielsweise in der Arena eine Diskussion zu Rassismus führen, müssen wir erst darum kämpfen, dass die Problematik überhaupt anerkannt wird. Wir streiten zuerst eine halbe Stunde darum, ob es Rassismus gibt. In der WOZ können wir die Diskussion von einem anderen Punkt aus starten. So lässt es sich dann auch besser in die Tiefe gehen.

HR: Das gilt für uns genauso. Die RosaRot ist eher eine Plattform für die Diskussion innerhalb der Bewegung. Wir sind mit einer Auflage von tausend Exemplaren ein Format, das nicht viele Menschen erreicht. Wir wollen unterschiedliche Positionen innerhalb der feministischen Bewegung abbilden und miteinander ins Gespräch bringen. Was innerhalb der feministischen Bewegung quasi als mehrheitsfähige Position herauskommt, ist ein relativ kleiner gemeinsamer Nenner. Bei einer so riesigen Mobilisierung wie letztes Jahr gibt es fast keine Kontroverse mehr. Ich finde es wichtig, dass wir beides zusammendenken: Wir müssen Positionen finden, die viele Menschen erreichen, und dürfen gleichzeitig nicht vergessen, dass die feministische Bewegung mehr muss und mehr kann, als einen Minimalkonsens mit relativ anerkannten Themen wie dem Vaterschaftsurlaub oder der Lohngleichheit zu finden.

UG: Ich finde es sehr wichtig, dass es Orte gibt, wo eine bewegungsinterne Öffentlichkeit geschaffen wird. Es gibt viele Gespräche in Kollektiven oder unter Einzelpersonen. In der antirassistischen Bewegung in der Schweiz gibt es aber kaum Orte, wo Kollektive mit unterschiedlichen Ansichten sich treffen und debattieren oder auch streiten können.

NW: Besteht nicht die Gefahr, dass die grossen Medien oder auch politische Kräfte solchen Streit ausnutzen und instrumentalisieren – und damit eine Bewegung schwächen?

CS: Ich sehe es als Schwachpunkt, wenn man sich innerhalb einer Bewegung nicht einig ist. Wir wären viel stärker, wenn wir überall einen Konsens hätten und diesen an die Öffentlichkeit tragen könnten. Meiner Meinung nach ist es aber die Aufgabe der Medien, dass sie zwischen Einzelmeinungen und den Kernanliegen einer Bewegung unterscheiden.

NW: Ist Uneinigkeit wirklich ein Schwachpunkt von Bewegungen? Wie sehen die anderen das?

HR: Ich fände es unheimlich, wenn es diese Differenzen nicht geben würde. In der feministischen Bewegung gibt es unglaublich viele unterschiedliche Positionen, die zum Teil völlig unvereinbar sind. Und Menschen können auf ganz unterschiedliche Arten aktiv werden. Diese Vielfalt sehe ich als Stärke und Bereicherung einer Bewegung.

UG: Ich begrüsse auch, dass es in sozialen Bewegungen unterschiedliche Haltungen gibt. Manchmal gibt es einen Minimalkonsens, manchmal kommt es zu Brüchen. Oft startet man auf einem gemeinsamen Weg, stellt dann aber fest, dass man nicht wirklich das Gleiche will.

CS: Natürlich ist Vielfalt nicht nur eine Schwäche. Ich möchte aber unterscheiden zwischen unterschiedlichen Herangehensweisen und zentralen Punkten, bei denen man sich einig sein will. In der Klimastreikbewegung ist die Frage, ob wir uns mit anderen Bewegungen, zum Beispiel dem Frauenstreik, zusammenschliessen, ein grosses Thema. Die Meinungen sind gespalten. Die einen wollen nicht Teil einer Bewegung sein, die nicht feministisch ist. Andere wollen nicht einer Bewegung angehören, die sich offiziell zum Feminismus bekennt. Diese Uneinigkeit schwächt die ganze Bewegung.

NW: Solidarität untereinander ist tatsächlich dann nicht einfach, wenn es um Medien geht, die nur bei Grossanlässen Themen aufgreifen. Gibt es auch ein Ringen, einen Konkurrenzkampf um die Aufmerksamkeit der Medien?

CS: Konkurrenzkampf ist das falsche Wort. Die Medien greifen Klimastreiks dann auf, wenn Tausende von Menschen auf die Strasse gehen. Das macht Schlagzeilen, und die Leute wollen wissen, was los ist, weil sie vielleicht wegen der Demo zu spät zur Arbeit kommen.

UG: Ich nehme nicht wahr, dass unsere Themen in den Medien nicht oder zu wenig stattfinden. Auf den Titelseiten berichten 20 Minuten oder der Tages-Anzeiger schon erst, wenn es eine ganz grosse Demonstration gibt. Aber Debatten finden sogar in diesen grossen Mainstream­medien statt. Da bin ich gar nicht so pessimistisch.

HR: Wenn nach einer ersten unsäglichen SRF-Arena bei der zweiten tatsächlich Schwarze Frauen in der Mitte stehen, ist das aufgrund des Drucks der antirassistischen Bewegung möglich geworden. Ich freue mich darüber, wenn Schwarze Frauen in den Medien präsent sind und intersektionale Perspektiven in die Öffentlichkeit bringen. Ich wünschte mir, dass wir merken, dass es kein Entweder-oder ist. Als Vertreter*innen der feministischen Bewegung sollten wir auch antirassistische Positionen vertreten und umgekehrt. Es gibt sehr viel Spielraum, diese Kämpfe zu verbinden und das auch in die Öffentlichkeit zu tragen.

UG: Ich warte noch auf den Moment, in dem wir uns verbünden. Das ist meine stille Hoffnung. Wenn wir schon jetzt in unseren eigenen Bewegungen viel auszuhandeln haben, wird es dann eben noch komplexer.

NW: Was sind die medienpolitischen Voraussetzungen, dass solche Debatten journalistisch fundiert geführt werden können?

CS: Der Tages-Anzeiger schrieb kürzlich, dass die Klimastreikbewegung ihren Platz in der Öffentlichkeit verliere. Aber diese Zeitung trägt selber dazu bei. Wichtigen Debatten Raum zu geben, ist eine zentrale Verantwortung der Medien.

UG: Gesellschaftliche Dringlichkeit, Demons­trationen und Bewegungen können den notwendigen Druck auf die Politik und die Gesellschaft ausüben, sodass die Medien nicht daran vorbeikommen, darüber zu schreiben. In Bezug auf Qualität spielt eine Rolle, was für Menschen in den Redaktionen sitzen. Inwiefern kennen sie sich bei den behandelten Themen aus? Es muss in den Redaktionen Leute geben, die Themen in der Tiefe kennen, nicht zuletzt auch aus ihrer eigenen Biografie heraus. Das erhöht wiederum die Dringlichkeit. Aber: Reichweite ist die Hauptlogik der Medien. Es sind nicht alles nur kapitalistische Blätter, die Geld machen wollen – aber das eben auch.

NW: Geld machen könnt ihr mit der RosaRot nicht. Aber sie hat dennoch eine Geschichte von dreissig Jahren. 2013 gab es einen Relaunch. Welche Faktoren haben ihn gelingen lassen?

HR: Dass die Zeitschrift Rosa einging und RosaRot auferstanden ist, hatte entscheidend mit jenen Menschen zu tun, die bereit waren, viel Gratisarbeit zu leisten. Das Geld, das wir einspielen, reicht jeweils gerade für den Druck der nächsten Ausgabe. Wir sind keine Publikation für Geschlechterforschung, sondern eine feministische Zeitschrift, die auch literarische Beiträge abdruckt, mit Bildern und Comics arbeitet und versucht, verschiedene Zugänge zu feministischen Themen zu eröffnen. Aber auch die RosaRot von 2014 war etwas anderes, als es die RosaRot heute ist. Mit einem Generationenwechsel in der Bewegung gab es inhaltliche Verschiebungen. Eine Zeitschrift muss bereit sein, sich immer wieder neu zu erfinden. Bis jetzt ist es eine Erfolgsgeschichte. Weil das Projekt aber immer von Menschen getragen werden muss, die bereit sind, in ihrer Freizeit unglaublich viel dafür zu tun, wissen wir nie, wie es weitergeht.

NW: Auf der anderen Seite des Spektrums kritischer Medien steht die WOZ. Welche Faktoren tragen dort zu Stabilität und Kontinuität bei?

UG: Ich selber bin erst seit einem Jahr bei der WOZ. Die Journalist*innen haben hier Zeit, um an einer Geschichte zu arbeiten. So können sie in die Tiefe gehen. Wohl in keiner Redaktion der Schweiz werden Texte so oft gegengelesen. Das fördert eine hohe Qualität. Aber das kostet Zeit, und da wir in einem Wirtschaftssystem leben, in dem Zeit Geld bedeutet, eben auch Geld. Fast 18 000 Menschen unterstützen uns zuverlässig mit einem Jahresabo. Die Zeitung geht mit diesem Geld sorgfältig um. Bei der WOZ kommt niemand rein und sagt, heute machen wir das und das, und zwar in dieser Richtung. Der Kurs entsteht aus der Redaktionskonferenz. Alle haben ein Mitspracherecht. Die WOZ wird heute in der schweizerischen Öffentlichkeit als ernsthafte Stimme wahrgenommen, die eine Vielfalt linker Positionen zeigt. Ernst genommen werden wir, weil die Arbeit handwerklich gut ist. Wir haben Zeit, andere Medien zu verfolgen, Zeit für interne Diskussionen. Meine Kolleg*innen, die diese Arbeit seit Jahren tun, haben sich das Prädikat, dass das «verhebet», erarbeitet.

CS: Eigentlich sollten alle grösseren Medien, ungeachtet ihrer politischen Position, den Anspruch haben, die für eine Gesellschaft relevanten Themenfelder abzudecken.

UG: Die Ausrichtung von Medien ist kein Zufall, sondern hat meistens damit zu tun, wem sie gehören. Die WOZ ist ein Kollektiv, das genossenschaftlich organisiert ist und politisch links steht. Es ist heute nicht mehr so abwegig sich vorzustellen, dass im Tages-­Anzeiger Rassismus mit einem Pro und Kontra abgehandelt wird. Aber man kann nicht aus allem eine Debatte machen. Gewisse Dinge sind schlicht falsch, gewisse Haltungen sind nicht demokratisch, und über diese muss man auch nicht verhandeln.

HR: Es geht darum, welche Art von Analyse und welche Perspektiven auf die Themen der Leser*innenschaft präsentiert werden. Ich erwarte auch nicht ein Pro und Kontra zu allem. Ich entscheide mich bewusst, ein Medium wie die WOZ zu lesen, weil ihre Struktur Vertrauen schafft. Dieses Medium leistet nicht nur eine Berichterstattung, sondern eine, in diesem Fall linke, Einordnung von Themen. Das erwarte ich von Journalismus.

NW: Sie beziehen sich alle sehr stark auf grosse Medien. Aus Sicht der sozialen Bewegungen scheinen diese Leitmedien also nach wie vor eine zentrale Bedeutung zu haben. Ugur Gültekin, Sie haben bisher ein sehr breites Instrumentarium an Medien genutzt, um Öffentlichkeit zu schaffen.

UG: Ich war für unterschiedliche, auch internationale Formate tätig: beim Musiksender MTV, bei der Zeitschrift VICE oder beim privaten Fernsehsender Joiz. Ich habe auch für Blogs geschrieben. Welche Ausrichtung ist bei der Themensetzung da? Welche Perspektiven werden eingenommen? Für mich hat sich herausgestellt, dass das schon damit zusammenhängt, wem der Titel gehört. Und entscheidend ist der Leistungsdruck: Wenn ganz schnell ein Text abgeliefert werden muss, leidet die Qualität auf jeden Fall.

NW: Soziale Medien setzen auf das Gegenteil, auf Tempo, auf Aktualität. Sie nutzen aber Twitter, Facebook, Youtube nach wie vor gezielt für politische Anliegen. Worauf setzen Bewegungen in diesem Bereich?

CS: Soziale Medien kann man sich zunutze machen, um mehr Menschen zu erreichen. Auch die grossen Medienhäuser wie zum Beispiel SRF sind heute beispielsweise auf Instagram sehr aktiv. Das machen sie sehr gut und mit eigenem Stil. Die sozialen Medien bieten aber ein Durcheinander, weil dort sehr verschiedene Quellen zusammenstossen, von Einzelpersonen bis eben zum SRF. Das birgt die Gefahr, dass man sich in dieser Flut leicht verliert.

UG: In den letzten zehn Jahren gab es weltweit viele ganz unterschiedliche soziale Bewegungen, bei denen soziale Medien eine Rolle gespielt haben. Bewegungen in autoritären Systemen haben über diese Plattformen kommuniziert oder ihre Anliegen publik gemacht. Soziale Medien können ein Multi­plikator sein, aber es fehlt oft an Tiefe. Was ich in der Black-Lives-Matter-Bewegung und bei anderen antirassistischen Kämpfen feststelle, ist, dass auf den sozialen Medien die Leute oft sehr wütend sind. Ich finde das grundsätzlich gut: Wut stösst Veränderung an. Wenn es aber bei der Wut bleibt und diese nicht irgendwann in eine Zuneigung, sagen wir mal eine Liebe, übergeht, ist das nicht konstruktiv. Mich interessiert, was nach der Wut, nach der Revolution kommt: Was wollen wir verändern, neu aufbauen? Da kommen wieder Orte ins Spiel, an denen unterschiedliche Haltungen ausgehandelt werden können – moderierte Orte und Debattenräume, wie es die klassischen Medien sind.

HR: Für die feministische Streikbewegung sind soziale Medien wertvoll, wenn es um kurzfristige Mobilisierungen geht. Sie dienen auch dazu, Dinge zu skandalisieren, die von den herkömmlichen Medien nicht aufgegriffen werden. Gleichzeitig werden die sozialen Medien aber auch überschätzt. Die Mobilisierung für ein Grossereignis wie den feministischen Streik geht nur über intensive Arbeit offline, also über Diskussionen mit den Gewerkschaften, über Organisierung von Menschen, die von ähnlichen Dingen betroffen sind. Da braucht es «Nebenräume», in denen Diskussion möglich ist, ganz konkrete Räume, aber auch Medien.

NW: Die Neuen Wege sind ein solcher moderierter, organisierter und auch traditi­onsreicher Raum, wo Debatten stattfinden können. Und wir hoffen, diesen Raum weiter zur Verfügung stellen zu können, gerade an der Schnittstelle von Bewegungen, Gesellschaftskritik und dem weiten Feld Religion. Deshalb zum Schluss eine Frage in eigener Sache: Was könnte in Ihren Augen die Rolle der Neuen Wege sein?

UG: Das Gespräch, das wir führen, kann sehr wahrscheinlich nur in einem Format geschehen, wie Sie es bieten. Es setzt Grundwissen bei den Leser*innen voraus, es ist detailliert. Was wir hier machen, ist zu nerdy, zu abwegig für die grossen Medien – aber umso wichtiger! Es gibt fast keine Orte, wo solche Diskussionen stattfinden können.

HR: In vielen sozialen Bewegungen werden Religion und religiöse Menschen abgewertet. Ich erlebe das in der feministischen Bewegung manchmal als ausschliessend gegenüber Menschen, für die Religion etwas Emanzipatorisches hat. Da können die Neuen Wege einen Diskussionsraum öffnen, der für viele andere bewegungsnahe Medien keine Option ist: Es fällt zu sehr aus dem Konsens heraus, dass man Religion interessant findet. Ich erlebe diese totale Distanzierung von Religion als eine sehr bildungsbürgerliche, weisse, mitteleuropäische Perspektive. Ich sehe, dass Menschen so quasi aus der feministischen Bewegung herausfallen. Das ist höchst problematisch, und da sehe ich eine spannende Funktion der Neuen Wege.

 

○ Helena Rust, *1987, ist Islamwissenschaftlerin und Geschlechterforscherin an der Uni Zürich. Seit
Anfang 2017 ist sie Redaktionsmitglied der Zeitschrift RosaRot.

rosarot.uzh.ch

○ Ugur Gültekin, *1984, ist Journalist, Moderator und politischer Aktivist. Er arbeitet bei der Wochenzeitung (WOZ) und ist Mitgründer und Vorstandsmitglied des postmigrantischen Thinktanks INES (Institut Neue Schweiz).

institutneueschweiz.ch

○ Céline Schwarz, *2001, studiert Germanistik und ist aktiv im Klimastreik.

nettonull.org


 

  • Geneva Moser,

    *1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.