Stadtplanung im Zeichen der Sorge

Stephanie Tuggener, 23. August 2022
Neue Wege 9.2022

Die Planung von Städten orientierte sich lange an den Bedürfnissen erwerbstätiger Männer und an einer grossen Autofreundlichkeit. Diese Planungsgrundsätze werden heute feministisch und ökologisch hinterfragt. Die Vision der «Stadt der kurzen Wege» bietet gerechte Raum- und Mobilitätsstrukturen.

Eine Alltagsszene: Es ist Montag, acht Uhr morgens. Den Kinderwagen in der einen Hand, das Velo in der anderen lege ich zusammen mit meiner Tochter die kurze Strecke zur Kita zurück. Zum Glück führt der Weg bergab, und die Kleine lässt sich im Kinderwagen anschnallen. Ansonsten liesse sich der Balanceakt mit den zwei Fahrzeugen und einem Kind, das gerne auch mal auf die Strasse springen würde, in der verfügbaren Zeit nicht bewältigen. Wir müssen diverse sperrige Randsteine überwinden und eine stark befahrene Strasse queren. Es folgt die kurze Übergabe in der Kita. Anschliessend fahre ich mit dem Velo weiter zu meinem Erwerbsarbeitsplatz, welcher nur zwanzig Minuten entfernt liegt. Nach einem Arbeitstag im Büro, inklusive einer Projektbesprechung in Aarau, welche ich mit dem Zug erreiche, fahre ich mit dem Velo zurück nach Hause. Auf dem Weg kaufe ich das Abendessen und das Nötigste für den nächsten Tag ein. Das Kind wird von meinem Partner in der Kita abgeholt.

Stadt der kurzen Wege

In dieser kurzen Alltagsszene zeigen sich exemplarisch zwei Grundthemen der feministischen Stadtplanung. Einerseits sehen wir darin das Motiv der «Stadt der kurzen Wege», welches von feministischen Planerinnen in den 1990er Jahren entwickelt und propagiert wurde. Andererseits wird deutlich, dass komplexe Wegeketten das typische Mobilitätsmuster eines versorgenden Alltags sind.

Eine Stadt der kurzen Wege zeichnet sich durch Quartiere mit einer guten Alltagsinfrastruktur aus. Das heisst, die Versorgung mit Einkaufsmöglichkeiten, Spielplätzen und Grünräumen, Arztpraxen, Kindertagesstätten, Spitex, Gemeinschaftszentren oder Treffpunkten ist in allen Quartieren ausgezeichnet. Nicht nur die Angebotsdichte ist hervorragend, sondern auch deren Erreichbarkeit. Die Angebote lassen sich auf einem attraktiven und sicheren Wegnetz leicht zu Fuss, mit dem Velo oder, wenn zum Beispiel das öffentliche Schwimmbad etwas weiter weg liegt, mit dem öffentlichen Verkehr erreichen.

Weshalb ist diese Stadt der kurzen Wege ein feministisches planerisches Anliegen? Wie in der einleitenden Alltagsszene geschildert, ist ein Leben mit Sorgearbeit1, wie beispielsweise der Betreuung von Kindern, durch viele verschiedene Wege und durch die Nutzung verschiedenster Verkehrsmittel charakterisiert. Dies haben Verkehrsplanerinnen bereits ab den 1980er Jahren analysiert und verstanden. In einer Stadt der kurzen Wege lassen sich solche komplexen Wegeketten zwischen Wohnung, Kita, Einkaufen und Arbeitsplatz am besten bewältigen. Sorgearbeit ist weiblich konnotiert und wird nach wie vor zu grösseren Teilen von Frauen übernommen. Deshalb ist die Stadt der kurzen Wege eine grundlegende Forderung feministischer Stadt- und Verkehrsplanung. Die moderne Stadtplanung hatte die Anforderungen der Carearbeit nämlich kaum im Blick.

Blick zurück: die autogerechte, funktionale Stadt

Unweit meines Wohnquartiers, welches tatsächlich viele Ansprüche an eine Stadt der kurzen Wege erfüllt und somit eine hohe Lebens- und Alltagsqualität bietet, rauscht und lärmt der Autoverkehr über die Rosengartenstrasse in Richtung Hardbrücke. Hier fahren täglich über 55'000 Autos, welche die Stadt Zürich von Nordosten in Richtung Westen oder Süden durchqueren. Ab Mitte der 1950er Jahre begann in der Schweiz die Planung des Autobahnnetzes. Damals entwickelten die zuständigen Planer die Idee, dass sich die Autobahnen von St. Gallen, Chur und Bern mitten in der Stadt Zürich treffen sollen. Ein Autobahndreieck, das «Ypsilon», sollte im Stadtzentrum entstehen. Nicht nur aus feministischer Perspektive scheint eine solche Idee heute absurd. Diese Planung zeigt eindrücklich, welchen Stellenwert das Auto und der motorisierte Individualverkehr damals hatten. Das Auto als männlich konnotiertes Statussymbol: Nebst einem Sinnbild für Stärke, Präsenz im öffentlichen Raum und Tempo stand es für die individuelle Freiheit des erwerbstätigen Mannes, der damit zu seinem Arbeitsplatz fährt und am Wochenende mit seiner Kleinfamilie einen Ausflug in die Natur unternimmt. Dieses Bild strotzt vor Klischees, und doch sind diese Vorstellungen einer heteronormativen Kleinfamilie, wo Erwerbs- und Sorgearbeit strikt auf einen Mann und eine Frau aufgeteilt sind, bis heute prägend. Heute werden diese Konzepte – die Zweigeschlechtlichkeit, festgefahrene soziale Normen und Geschlechterrollen, aber auch das Primat des Autoverkehrs – mehr und mehr hinterfragt, sei es aus feministischer oder aus ökologischer Perspektive. Bei der Planung der Autobahnen in den 1950er Jahren sah dies offensichtlich noch ganz anders aus.

Charta von Athen

Nebst der Idealisierung des Autos bildete die Charta von Athen (1933) den konzeptionellen Hintergrund für die Planung der autogerechten Stadt. Diese Charta wurde bei den vierten Internationalen Kongressen Moderner Architektur (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne, CIAM) verabschiedet; sie forderte unter dem Stichwort «funktionale Stadt» eine räumliche Trennung der städtischen Funktionen. Sie definierte dafür vier städtebauliche Hauptfunktionen: Wohnen, Arbeiten, Erholen und Bewegen. Die Versorgung, aber auch die Pflege und die Bildung, also alle reproduktiven Tätigkeiten, wurden nicht mitgedacht. Die Idee der funktionalen Stadt führte zur Entstehung von getrennten Lebenssphären. Das Wohnen sollte ausserhalb der Stadt, am Stadtrand oder in der Agglomeration stattfinden – gearbeitet werden sollte im Industriegebiet oder im Stadtzentrum. Um diese Funktionstrennung zu ermöglichen, wurde auch in der Schweiz massiv in eine gute Pendler*innen-Infrastruktur investiert. Das Strassen- und Eisenbahnnetz wurde laufend erweitert, immer mit dem Ziel, gute Verbindungen zwischen den Zonen für «Wohnen» und «Arbeiten» zu ermöglichen. Die Priorität lag auf einer möglichst schnellen Erreichbarkeit der sogenannten Arbeitsplätze. Völlig vergessen ging dabei, dass auch in den Wohngebieten gearbeitet wird. In den USA ist das Phänomen der Suburbanisierung in seiner Extremform zu finden, aber auch in der Schweiz wuchsen dicke Agglomerationsgürtel rund um die Kernstädte.

Zum ideellen Gebäude der Charta von Athen kommt hinzu, dass die Planenden bis vor wenigen Jahr(zehnt)en mehrheitlich weisse, gut ausgebildete, gesunde, vollzeiterwerbstätige Männer waren. Diese hatten – ob bewusst oder nicht – primär die Bedürfnisse und Anliegen ihrer eigenen Peers beim Planen und Bauen im Blick. Stadtplanung orientierte sich also in erster Linie an den Anforderungen dieses männlichen, erwerbstätigen Menschen – welcher lange unhinterfragt als die Norm und als Massstab jeder Planung galt. Analog standen die Anforderungen «der Wirtschaft», verstanden als Produktion von Gütern oder Dienstleistungen in Lohnarbeit, im Fokus. Diese patriarchalen, kapitalistischen Strukturen prägten die Verkehrs- und Stadtplanung und strukturieren unsere Städte und unsere Lebensweisen bis heute.

Die funktionale, autogerechte Stadt hat aus heutiger Sicht – insbesondere mit einer feministisch-ökologischen Brille betrachtet – grosse Defizite. Im Kern liegt die Problematik darin, dass die Sorgearbeit ignoriert und die Ökologie bei der Planung und Gestaltung unserer Städte und des Mobilitätssystems nicht konsequent mitgedacht wurde. Im Folgenden werden diese beiden Kritikpunkte nochmals vertieft und mögliche Alternativen hin zu gerechteren Raum- und Mobilitätsstrukturen aufgezeigt.

Wo bleibt die Carearbeit?

Gemäss der Idee der funktionalen Stadt wurden beziehungsweise werden auch in der Schweizer Raumentwicklung «Wohnen» und «Arbeiten» als getrennte Sphären beziehungsweise «Zonen» gedacht. Dieses Verständnis ignoriert, dass gerade in der Wohnung und im nahen Wohnumfeld enorm viel gearbeitet wird. Ein Grossteil der reproduktiven Arbeit – sei es die Hausarbeit oder die Betreuung und Pflege von Kindern, Älteren oder Kranken – findet dort statt. Deshalb fordern feministische Planer*innen, dass auch die Stadtplanung diese Sorgearbeit als unsere Lebensgrundlage anerkennt und explizit in den Blick nimmt. Sorgearbeit darf in der Planung nicht länger unter der Bezeichnung «Wohnzone» ein Schattendasein fristen.

Das bedeutet, dass das Verständnis von Wohnen und Arbeiten in einer feministisch-ökologischen Planung grundlegend überdacht wird. Arbeit wird in einem ganzheitlicheren Sinn als Überbegriff von reproduktiver und produktiver Arbeit verstanden2. Und es wird anerkannt, dass auch in der Wohnung gearbeitet wird. Entsprechend muss das Denken in fixen Zonen (Wohnzonen, Arbeitszonen, Grünzonen und so weiter) aufgeweicht werden, und es braucht neue raumplanerische Instrumente. Die bestehenden Instrumente und deren Anwendungen müssen in jedem Fall systematisch auf Gendersensibilität geprüft werden.

Für konkrete Planungsprojekte kann das heissen, dass Wohnumfeldqualitäten einen hohen Stellenwert erhalten und sorgfältig geplant werden. Gerade Eltern mit Kleinkindern, Kinder, aber auch ältere Menschen haben einen kleinen Bewegungsradius und sind darauf angewiesen, Infrastrukturen für die Alltagsversorgung und Räume für Aufenthalt und Erholung im nahen Wohnumfeld zu finden. Hier schliesst sich der Kreis zur Stadt der kurzen Wege. Auf der Ebene eines Wohngebäudes können die Anforderungen der Sorgearbeit berücksichtigt werden, indem Waschküchen an attraktiven Lagen, zum Beispiel auf der Terrasse oder im Erdgeschoss mit Tageslicht, angeordnet werden und es genügend Stauraum für Kinderwagen, Rollatoren oder weitere «Gefährte» im Eingangsbereich hat. Eine gute Sichtbeziehung von den Wohnungen hin zum Strassenraum und zu privaten Aussenräumen ermöglicht einen Bezug vom Innen zum Aussen und erlaubt, dass Eltern von der Wohnung aus ihre Kinder im Garten im Blick behalten können. Der Massstabssprung von der Ebene einer einzelnen Wohnung bis hin zur ganzen Stadt ist gross – auf jeder planerischen Ebene gilt es die Bedürfnisse der Carearbeit zu analysieren und zu berücksichtigen.

Unökologisches, patriarchales Mobilitätssystem

Der Blick in die Geschichte hat gezeigt, dass die Ausrichtung des Mobilitätssystems auf den Pendler*innenverkehr aus feministischer Perspektive problematisch ist. Dazu kommen gravierende soziale und ökologische Probleme. Das autozentrierte Mobilitätssystem privilegiert die Mobilitätsbedürfnisse von wenigen und schliesst viele aus. Einkommensschwache Personen können sich kein Auto leisten. Personen mit körperlichen Einschränkungen, aber auch Kinder und Jugendliche oder gewisse ältere Personen (beispielsweise mit Sehschwäche oder zu geringem Einkommen) haben keinen Zugang zu einem Auto. Mit Blick auf die Raumstrukturen und den Flächenverbrauch stellt sich die grosse Frage, wie viel Raum ein unökologisches Verkehrsmittel wie das Auto überhaupt einnehmen darf. Immer noch zu viele Strassen in unseren Städten und Dörfern können schlecht von zu Fuss Gehenden oder Velofahrer*innen genutzt werden, da sie fürs Auto ausgelegt und für die anderen Verkehrsteilnehmenden zu wenig sicher sind. Und was ist mit allen parkierten Autos, die den Stadtraum prägen, selbstverständlich riesige Flächen einnehmen und an die wir uns unterdessen einfach gewöhnt haben? Und was ist mit dem Lärm und den Abgasen, welche für Mensch und Natur schädlich sind?

Nicht nur das Auto, auch den öffentlichen Verkehr gilt es kritisch zu analysieren. Hinsichtlich des geringeren CO₂-Ausstosses und der besseren Bilanz bezüglich Flächenverbrauch (Anzahl beförderte Personen pro Fahrzeug) ist der öffentliche Verkehr aus ökologischer Sicht klar zu unterstützen. Allerdings hat auch der Ausbau des öffentlichen Verkehrs in den letzten Jahrzehnten die Trennung zwischen «Wohnen» und «Arbeiten» im Sinne der funktionalen Stadt verstärkt. Exemplarisch dafür steht die S-Bahn im Kanton Zürich. Diese wurde seit den 1990er Jahren kontinuierlich ausgebaut und erlaubte es immer mehr Menschen, immer weiter ausserhalb der Stadt zu wohnen – der Arbeitsplatz in der Stadt blieb erreichbar. Aus Dörfern wurden kleine Wohnstädte, allerdings häufig ohne die urbanen, städtischen Qualitäten. Damit wurde die Zersiedelung stark befeuert, und es entstanden schlecht versorgte Wohngebiete, wo für die Ausübung von Carearbeit oft wieder aufs Auto zurückgegriffen werden muss. Hinzu kommt, dass auch der öffentliche Verkehr noch weit davon entfernt ist, barrierefrei für alle Menschen zugänglich zu sein.

Und schliesslich – angesichts der Klimakrise absolut zentral – ist da der hohe Energieverbrauch aller Verkehrsmittel, die nicht aus eigener Körperkraft betrieben werden; solange noch nicht das ganze System auf erneuerbare Energien umgestellt ist, geht dieser mit einem hohen CO₂-Ausstoss einher.

Gerechte Raum- und Mobilitätsstrukturen

Es ist also dringlich, das Mobilitätssystem umzubauen. Die feministische Vision einer Stadt der kurzen Wege kann dabei ein zukunftsfähiges Zielbild sein. Denn die Stadt der kurzen Wege ist ökologisch. Der Ressourcenverbrauch durch das tägliche Unterwegssein sinkt, da die Wege für Carearbeit und bezahlte Arbeit kurz sind und grösstenteils zu Fuss, mit dem Velo oder dem öffentlichen Verkehr zurückgelegt werden. Mit erneuerbaren Energien betriebene Sharing-Angebote und der öffentliche Verkehr sind die Lösung, wenn längere Distanzen zurückgelegt werden müssen. Diese ökologischen Mobilitätsangebote greifen gut ineinander und sind für viele zugänglich. Mit fossiler Energie betriebene Fahrzeuge sterben aus – neue individuelle Mobilitätsformen wie E-Autos kommen während einer Übergangszeit zwar noch nach. Diesen wird aber weniger Stadtraum zugestanden als dem Auto heute. Die Raumstrukturen sind kleinteilig und gut vernetzt. Alle alltäglich benötigten Angebote sind entsprechend gut erreichbar. Es gibt eine neue «Flächengerechtigkeit» in der Stadt: Breite Trottoirs und Velowege erhalten den grössten Teil des Strassenraums. Auch für gemeinschaftliche Räume und Grün in verschiedenster Ausprägung gibt es mehr Platz. Gleichberechtige Zugänge zum Raum charakterisieren diese Stadtvision, für welche sich in der Schweiz auch «Lares», der Verein für gender- und alltagsgerechtes Bauen, engagiert: Die Strassenräume, aber auch Wohnraum, öffentliche Parks und Aussenräume sind für alle Bevölkerungsgruppen in genügendem Mass vorhanden, zugänglich und bieten Raum für Aneignung und persönliche Entfaltung.

Leslie Kern: Feminist City. Claming Space in a Man-made World. London / New York 2020.

  1. Im Prinzip umfasst jeder menschliche Alltag auch Sorgearbeit, angefangen bei der Selbstfürsorge. Als Menschen leben wir in sozialen Bezügen und sind darauf angewiesen. Häufig wird heute jedoch Sorgearbeit entweder gar nicht gesehen oder dann losgelöst von der sogenannten Erwerbsarbeit als separate Sphäre betrachtet. Feministische Stadtplaner*innen nehmen die Sorgearbeit als Grundlage unseres Lebens und unserer Gesellschaft explizit in den Blick.

  2. Vgl. Barbara Zibell: Care-Arbeit räumlich denken. Feministische Perspektiven auf Planung und Entwicklung. Wettingen 2022.

     

  • Stephanie Tuggener,

    *1986, ist Geografin und Raumplanerin. Sie arbeitet aktuell als Projektleiterin im Büro Kontextplan im Bereich Gemeinde-, Stadt- und Regionalentwicklung. Als Co-Präsidentin des Vereins Lares engagiert sie sich für eine gendersensible Planung und vernetzt Planungsfachleute. Auf ihrem Weg zur Genderexpertin wurde sie stark inspiriert von den Arbeiten von Barbara Zibell, was sich auch in diesem Beitrag niederschlägt.

    lares.ch