Mascha musste Hals über Kopf aus Kharkiv fliehen. Es war zu Beginn der Angriffe der russischen Armee auf ihre Stadt im Osten der Ukraine. Sie schaffte die Reise bis nach Polen, zusammen mit ihrem Sohn, ihrer Tochter, deren Freund sowie Hund und Katze. Noch im Winter begegneten wir uns an einer Konferenz in Stockholm. Dort sprachen russische und ukrainische Menschenrechtsaktivist*innen vom «Krieg», den das Putin-Regime gegen alles führe, was sich seiner Politik in den Weg stelle. Dabei schlugen sie einen Bogen von Tschetschenien über Georgien, den Donbass und die Krim bis Syrien, einen Bogen von russischen Cyberattacken weltweit über die Rückendeckung für das Regime in Belarus, die immer grössere Repression gegenüber Menschenrechtsorganisationen und systematische Kontrolle der öffentlichen Meinung in Russland bis zu Vergiftungen Oppositioneller und Ermordungen von Journalist*innen. Aber trotzdem konnte sich kaum jemand die brutale Zukunft des nun entfesselten Kriegs in der Ukraine ausmalen.
In meinen Ohren klang «Krieg» als Essenz russischer Politik drastisch. Ich zweifelte noch am Sinn dieses Vokabulars, zumindest für unsere eigene Debatte, in der wir ja auch eine grosse westliche Mitverantwortung am Scheitern eines «gemeinsamen europäischen Hauses» betonten. War es vorstellbar, dass Putin für eine brachiale Neuziehung von Grossmachtgrenzen und zur imperial-chauvinistischen Bekämpfung von Demokratie und «unmoralischen» LGBT-Prides einen Angriffskrieg führen könnte?
Menschen wie Mascha und ihre Kolleg*innen hatten seit Jahren eingefordert, dass wir die massiven Verletzungen von Völkerrecht und Menschenrechten durch das russische Regime als Ausdruck einer ungebremsten Eskalation wahrnehmen. Mascha erfuhr seit Jahren täglich, was Krieg und Besatzung bedeuten – etwa für Frauen, die die Mehrheit intern Vertriebener bilden. Die Schweizer Öffentlichkeit nahm solche Realitäten nur en passant zur Kenntnis. Auch in der Linken wurde ihre Tragweite kaum analysiert, es gibt nur wenige Entwürfe einer europäischen Friedenspolitik von unten. Ab und zu spotteten Medien über superreiche Russ*innen mit ihrem Zweitleben in Gstaad oder St. Moritz. Aber die Politik ging in Bern, Zug oder Genf weiter, als ob es uns nicht betreffen würde, dass 80 Prozent des russischen Erdöl- und Gashandels über die Schweiz laufen – Exporteinnahmen, die tagtäglich die Kasse füllen für den Krieg, den das Putin-Regime gegen alles führt, was sich ihm in den Weg stellt.