Neue Wege: Sie sind beide beim Arbeitskreis für Zeitfragen der reformierten Kirchgemeinde in Biel tätig. Inwiefern leistet der Arbeitskreis Beiträge zur Demokratisierung der Gesellschaft?
Luzia Sutter Rehmann: Der Arbeitskreis entwickelte sich von der kirchlichen Basis her noch in den 1950er Jahren. Zuerst bestand er aus Arbeitsgruppen, die sich Zeitfragen vornahmen, etwa das schwindende Interesse der Jugendlichen am Religionsunterricht. Daraus erwuchs die Frage nach dem modernen Bibelverständnis. Und es ging bis zu «Die Schweiz im werdenden Europa» – damals füllten diese Themen Säle. Die Geschichte des Arbeitskreises widerspiegelt die Zeitfragen, die die Zivilgesellschaft umgetrieben haben. Der Arbeitskreis wurde mit der Zeit für Biel eine «Institution».
Mit was für konkreten Projekten?
LSR: In den 1960er Jahren ging es um Arbeit, Wirtschaft und Christentum: Wie produktiv kann der Dialog in diesem Spannungsfeld sein, konkret zwischen Arbeiter*innenbewegung und Industrie? Für Biel war es sehr wichtig, einen Ort zu haben, an dem über Gräben hinweg diskutiert wurde. Ein jüngeres Beispiel sind Themen aus dem interreligiösen Bereich. Ein eigenes Grabfeld für Musliminnen und Muslime in Biel musste zuerst sprachfähig werden. Die Musliminnen und Muslime mussten sich gemeinsam äussern: Wir wollen das. Und auf der anderen Seite muss sie jemand hören. Das bedingt Dialogarbeit. Hier hat sich der Arbeitskreis stark gemacht und dabei auch einiges eingesteckt.
Barbara Heer: Demokratisierung der Gesellschaft heisst für mich, Leute in die Debatte hineinzubringen, die sonst nicht daran teilnehmen. Der «Runde Tisch der Religionen» kreiert ein Gespräch auch mit den muslimischen Gruppierungen der Stadt, die in der Öffentlichkeit selten zu Wort kommen. Er gibt ihnen eine Plattform. Ein anderes Netzwerk haben wir mit Migrationskirchen und Organisationen christlicher Migrant*innen. Auch sie sind sonst extrem unsichtbar. Diese Gruppe der Migrationskirchen ist jetzt jeweils an der Braderie beteiligt, an der Braderie, dem grossen Bieler Fest. Dadurch wird die Vielfalt im öffentlichen Raum stärker präsent.
LSR: Der Arbeitskreis für Zeitfragen hat in den 1990er Jahren den «Frauenplatz Biel» mitgegründet und belebt ihn seither konstant. Der Frauenplatz ist ein bilingues Forum verschiedener Frauengruppierungen in Biel. Wir mischen uns in die Lokalpolitik ein. Wir setzen Themen, geben eine Zeitung heraus und lancieren Frauenstadtrundgänge. Wir arbeiten daran, Strassenbenennungen frauenfreundlicher zu gestalten. Unterdessen betrachtet uns auch der Gemeinderat, die Stadtregierung, als Partnerorganisation, als Ansprechstelle für Frauenthemen.
NW: Ist es Zufall, dass der Arbeitskreis als kirchliche Institution ein solches Netzwerk koordiniert?
LSR: Seit den 1990er Jahren hat der Arbeitskreis ein feministisches Programm. Frauenvernetzung, Frauenkirchenfeste, Frauensynode im kirchlichen Bereich, aber auch der total säkulare Frauenplatz gehören dazu. Damit ist auch eine Brückenfunktion gewachsen. So nehmen beispielsweise Mitglieder des Frauenplatzes, die mit Kirche nichts zu tun haben wollen, wahr, dass Kirche viele Gesichter hat: konkrete Gesichter von Menschen und viele mögliche Funktionen als Institution.
Der Arbeitskreis ist Teil der reformierten Kirchgemeinde Biel und gleichzeitig sehr vernetzt mit der ganzen Bieler Gesellschaft. Was können Sie an dieser Schnittstelle durch Ihre Arbeit in die Kirche zurückbringen?
BH: Der Frauenstreik 2019 ist ein gutes Beispiel. Das Bieler Frauenstreikkomitee wurde bei uns im Arbeitskreis gegründet. Es entwickelte sich etwas Riesiges daraus, auch mit jungen Frauen, die zuvor noch nicht mit Frauenstrukturen zu tun hatten. Durch diese Nähe zum Arbeitskreis haben viele kirchliche Frauen am Frauenstreik teilgenommen. Unsere Kirchenglocken läuteten. So sind die feministischen Forderungen auch zum Kirchgemeinderat getragen worden. Es ging darum, Lohngleichheit und Regelungen im Personalreglement zu überprüfen. Jetzt wird dort neu ein – wenn auch kleiner – Vaterschaftsurlaub eingebaut. Durch den Frauenstreik und unsere Verbindung dazu hat sich auch in den kirchlichen Gremien etwas bewegt.
Was hat all dies mit Demokratie zu tun?
LSR: Ganz verschiedene Gruppen in Biel …
… die ja in der Schweiz zum Teil von der demokratischen Teilhabe ausgeschlossen sind …
LSR: … in ein grosses Gespräch hereinzuholen, wird in unserer Stellenbeschreibung offiziell als Friedensarbeit bezeichnet. Alle diese Gruppen tragen durch transkulturelle und intersektionale, also unterschiedliche Formen von Diskriminierung und von Ungleichheit verbindende Arbeit zum Frieden bei. Das ist für Demokratie grundlegend.
BH: Eine demokratische Kirche ist für mich Teil einer vielfältigen Gesellschaft. Biel ist eine sehr diverse Stadt. Als Kirche in dieser Stadt müssen wir aufpassen, nicht eine Parallelwelt zu werden, die vielleicht ein wenig privilegierter ist als andere, ein bisschen weisser als der Durchschnitt der Bevölkerung.
Ist der Arbeitskreis ein Projekt, das nur in einer Stadt wie Biel funktionieren kann?
BH: Vielleicht braucht es eine Stadt wie Biel, damit ein solches Projekt entstehen und sich so lange halten kann. Aber Biel ist auch die Zukunft der Schweiz, was Diversität und vielleicht auch die soziale Situation bezüglich Armut und Sozialhilfebezüger*innen angeht. Projekte wie den Arbeitskreis gibt es nicht so häufig, zum Teil nicht mehr, aber es gibt auch anderswo Pfarrpersonen und andere kirchliche Mitarbeiter*innen, die Erwachsenenbildung in diesem Sinn entwickeln.
LSR: Der Arbeitskreis macht sowohl Bildungsarbeit als auch sozialdiakonische Arbeit und schliesslich im theologischen Bereich Verkündigungsarbeit, auch über die Medien. Und wir feiern: im Politischen Nachtgebet, in Frauenfeiern, am Fastenbrechen des Ramadan oder an Apéros, die inhaltlich unterlegt sind. Wir haben im kleinen Arbeitskreis also alle Elemente von Kirche. In diesem Sinne glaube ich, dass wir Kirche sind und Kirche ermöglichen. Der Arbeitskreis hat aber viele Fesseln nicht, die die traditionelle Kirche binden. Was für eine Energie ist für die Organisation der x hundert Sonntagsgottesdienste über das Jahr notwendig! Wir können feiern, wie die Feste fallen. In unserem Pflichtenheft steht nicht, welche Veranstaltungen wir wie häufig durchzuführen haben.
Wie steht es denn um die Demokratie in der reformierten Kirche?
BH: Die demokratischen Strukturen der reformierten Kirche in der Schweiz standen in letzter Zeit ja in der Öffentlichkeit nicht sehr gut da. Die Kirche muss an ihrer eigenen Demokratie arbeiten und sollte ihre Konflikte bewusster und offener austragen. Sie hat als öffentlich-rechtliche Landeskirche zwar demokratische Strukturen, aber diese sind nicht immer sehr lebendig. Kirchliche Exekutiven lassen sich nicht so gerne von den kirchlichen Parlamenten kontrollieren. Vielfalt in den Gremien wäre dafür da, Konflikte auszutragen und Lösungen zu finden, und nicht dafür, Konflikte zu vermeiden. Dass zum Beispiel auf nationaler Ebene ein Mann wie Gottfried Locher so lange an der Macht bleiben konnte, obwohl viele um die Missstände wussten, zeigt einen Mangel an demokratischer Kontrolle auf.
LSR: In diesem aktuellen Konflikt kommt hinzu: Wenn es um Sexualität geht, wird in der Kirche vieles nur hintenherum zur Sprache gebracht. Die Reformierten haben generell ja keine Probleme mit Sexualität … Man spricht nicht davon. Sie existiert nicht. Es gibt keine Debatte, keine Fragen, keine Weiterbildung, es läuft alles untergründig. Bei den Katholik*innen knallt es wenigstens hie und da wieder richtig, weil jemand idiotische Dinge sagt oder tut. Seit letztem Herbst mischen wir uns vom Arbeitskreis hier ein wenig ein, indem wir einen entsprechenden Kernbereich aufbauen, unter anderem einen Thinktank zu Sexualität im kirchlichen Kontext. In Fragen der Sexualität eine Sprache zu finden, in die einfliesst, was uns bewegt, erachten wir als etwas Demokratieförderndes. Die alte politische Parole «Das Private ist politisch» ist die Basis unserer Arbeit. Es ist verrückt, dass ich erst jetzt darauf komme, das Thema Sexualität zu bearbeiten.
BH: Zu den demokratischen Spielräumen der Kirche: Man will ihr manchmal ja auch von aussen Fesseln anlegen mit dem Diskurs, dass Religion privat sei und sich die Kirche politisch nicht äussern soll. Auch damit Menschen sich nicht den Mund verbieten lassen, braucht es einen Arbeitskreis und andere Bewegungen innerhalb der Kirche. Das aktuelle Beispiel Konzernverantwortungsinitiative ist wichtig. Bei möglichen Angriffen aufgrund der Tatsache, dass die Kirchen hier Partei ergreifen, wird sich zeigen, wie konfliktfähig sie sind.
Sie sind beide auch Wissenschaftler*innen. Sie, Barbara Heer, sind Stadtethnologin und forschen zur Frage, wie unterschiedliche, an der Macht nicht gleich partizipierende Gruppen dennoch an einer Gemeinschaft demokratisch teilhaben können. Was können Sie davon in die konkrete Arbeit in Biel einbringen?
BH: Für mich ist die Arbeit in Biel die praktische Fortsetzung meiner wissenschaftlichen Tätigkeit. Ich habe im südlichen Afrika untersucht, wie soziale Gruppierungen, die von starker sozialer Ungleichheit geprägt sind, in der Stadt zusammenleben. Wie wirkt sich Segregation auf den Alltag aus? Ein Ergebnis meiner Forschung ist, dass Begegnungsräume ganz wichtig sind, damit Gesellschaft überhaupt funktioniert. Kirchen können solche Begegnungsräume sein, die Zusammenhalt schaffen, obwohl es in einer Gesellschaft riesige soziale Ungleichheiten und Rassismus gibt. Diese Grunderkenntnis trage ich auch in meine Arbeit in Biel hinein. Kirche sein heisst, Verbindungen zu schaffen zwischen gesellschaftlichen Gruppierungen. Notwendig ist aber auch der kritische Blick: Nur weil es da einen Begegnungsraum gibt und alle kommen, heisst das ja noch nicht, dass die soziale Ungleichheit nicht mehr existiert. Sie kann dort sehr schnell reproduziert werden. Wie können wir trotzdem Begegnungen auf Augenhöhe schaffen?
Haben Sie, basierend auf Ihrer Forschung, Antworten gefunden und Strategien erarbeitet?
BH: Wir haben im Arbeitskreis ein Projekt entwickelt, das Tandem «Auf Augenhöhe», das Geflüchtete und Menschen von hier zusammenbringt. In meiner Forschung habe ich beobachtet, dass in Beziehungen zwischen sozial ungleich positionierten Menschen häufig Abhängigkeiten entstehen. Die mächtigere Person hilft der anderen, hegt dann aber auch Erwartungen, dass diese dankbar sein soll. Es entsteht ein Paternalismus. In der kirchlichen Flüchtlingsarbeit in der Schweiz, insbesondere mit Freiwilligen, gibt es diese paternalistische Beziehungsform sehr häufig, insbesondere wenn der kritische, selbstreflexive Blick fehlt. In unserem Tandemprojekt haben wir das thematisiert: Es geht darum, eine Sprache finden, um reflektiert mit der sozialen Ungleichheit umzugehen. Die Freiwilligen und die Geflüchteten diskutieren mit der Koordinatorin darüber. Die Positionierung in der Sozialstruktur kann nicht leicht verändert werden, aber wir versuchen beispielsweise, Tandems aufgrund ihrer Interessen zusammenzubringen: Wir fragen sowohl die geflüchteten als auch die lokalen Menschen, was sie voneinander lernen wollen. Damit hat der Arbeitskreis einen neuen, kritischen Ansatz für ein Pilotprojekt gewählt. Das Projekt ist jetzt bei der Diakonie als normales kirchliches Angebot verstetigt worden.
LSR: Deine wissenschaftliche «Vor-Arbeit» ermöglicht eine andere Perspektive. Du hast mir dies einmal eindrücklich geschildert anhand einer Erfahrung in einer Kirchgemeinde in Johannesburg.
BH: In einer charismatischen Gemeinde habe ich ethnografische Forschung gemacht zur Frage, wie Zusammenleben zwischen eher wohlhabenden, mehrheitlich weissen Personen aus einer Vorstadt, einer Suburb, und Schwarzen Personen aus einer Township funktioniert. Diese Kirche liegt auf der Grenze und versucht Leute von überallher anzusprechen. Sie brüstet sich ein wenig damit, dass sie das schafft, und sieht sich als Kirche der Regenbogennation Südafrika, auch wenn sie historisch gesehen eine weisse Mittelschichtsbewegung ist. Nach dem Gottesdienst gibt es Kaffee. Ich habe gesehen, dass sich die Weissen dann drinnen im Saal bewegen und die Schwarzen draussen. Personen aus der Township, die zum ersten Mal kamen, waren ebenfalls sehr irritiert. Der Grund ist aber nicht, dass sich die Menschen aufgrund des Rassismus immer noch trennen, sondern dass es drinnen eine Kaffeeecke gab, in der Cappuccino verkauft wurde, während draussen gratis Filterkaffee ausgeschenkt wurde. Durch diese räumliche Aufteilung ist eine Segregation reproduziert worden, die einen ökonomischen Ursprung hat, aber aussieht wie Apartheid. Die Kirchenleitung war sich der Ursachen gar nicht bewusst beziehungsweise banalisierte das Problem. Das zeigt, wie die ökonomische Ungleichheit die Begegnungen und die Beziehungen prägt. Das ist auch in Biel so.
LSR: Es braucht also diesen Blick mit der Frage: Warum ist das so? Wie kommt es dazu?
Können Sie, Luzia Sutter Rehmann, einen spezifisch bibelwissenschaftlichen Blick auf die Fragen von Teilhabe, Demokratisierung, Inklusion in die Arbeit einbringen?
LSR: Ja, das ist meine feministisch-kritische, meine befreiungstheologische Perspektive. Es geht mir darum, Texte kritisch-transformativ zu lesen und Neues, Ermächtigendes aus den Texten herauszuholen. Mein Plädoyer ist, dass Bibellesen für alles gut ist. Es sind sprechende, bilderreiche Texte, die bei Menschen sehr viel evozieren – von Ablehnung bis zu tollen, eigenen Geschichten. Mit dem, was damit im Raum ist, können wir arbeiten. Zu schauen, was tatsächlich dasteht, ist gut reformatorisch und weit über die Bibellektüre hinaus wichtig. Natürlich brauche ich viel Hintergrund, aber was ich im Text nicht sehe, muss ich mir auch nicht einreden lassen. Das geht in der universitären biblischen Ausbildung verloren. Die Studierenden lernen, was andere für Zugänge haben, und können sie reproduzieren, sie lesen aber nicht selber, was dasteht. Gemeinsam lesen, was dasteht, ist für mich ein demokratischer Akt. Wir entwickeln dabei eine Hermeneutik, die für alle Bereiche anwendbar ist: Steht etwas wirklich fest, ist die Weiche gestellt, oder lässt sich die Richtung noch ändern?
BH: Du hast spezifische Arbeitskreisformate dazu geschaffen, die Lesegruppe BibelBrot und die Wochenenden des Bieler Lernhauses, an denen ganze biblische Bücher gelesen werden. Unsere Vision für die Zukunft wäre zudem ein inter- oder transkulturelles Lernhaus.
LSR: Im letzten Herbst hatten wir Besuch einer Gruppe aus einer Partnergemeinde in Bafut, Kamerun. Wir haben einen gemeinsamen Bibelmorgen auf Englisch gemacht. Wir haben Bibelversionen zu einem Psalm verglichen. Das hat sehr viel ausgelöst. Plötzlich war ihre ganze Bürgerkriegssituation im Raum, währendem manche von uns den Text, gerade aufgrund deutscher Übersetzungen, stark spiritualisiert, vergeistigt und ganz vor dem Hintergrund unserer eigenen Erfahrungen gelesen haben. Wir haben dann darüber gesprochen, was Worte auslösen, welche Bilder auftauchen, welche Übersetzung was auslöst – sehr lebensnah.
Sie sind beide auch in der Politik. Sie, Barbara Heer, für die SP im Grossen Rat in Basel, Sie, Luzia Sutter Rehmann, für die Grünen im Binninger Gemeindeparlament. Wie erfahren Sie Demokratie dort?
BH: Den Ansatz der Partizipation müssen wir unbedingt auch in die politischen Strukturen hineinkriegen. Wir brauchen das aktive und passive Stimm- und Wahlrecht für Leute, die keine Schweizer Staatsbürgerschaft haben. Auch wenn sich das in Basel ganz langsam verändert: Die Parlamente repräsentieren in keinster Weise die schweizerische Gesellschaft. Auch unsere politischen Institutionen drohen Parallelwelten zu werden. So leidet die Qualität der Demokratie stark.
LSR: Mir eröffnet die Parlamentsarbeit neue Horizonte. Ich muss so viel über Strassenbeläge lesen – ich wusste gar nicht, was ich bisher verpasst hatte … In der Debatte merke ich, dass ich meine Gegenüber oft nicht wirklich verstehe, wir gemeinsam aber die Materie, auch wenn es um Strassenbeläge geht, politisch durchdenken können. Die Floskeln am Anfang eines Votums «Geschätzte Einwohnerratspräsidentin, geschätzter Gemeinderat, liebe Kolleginnen und Kollegen» haben mit Respekt zu tun und bremsen den eigenen Impetus. Ich lerne als nichtformeller Mensch, das Formale, die Rechtstaatlichkeit neu zu schätzen. Wenn dann die Rechten dazwischenmööggen, fällt das ins Leere. Auch in der Kirche ist in Debatten immer eher ein Geheue.
BH: Die formellen Traditionen der Politik sind aber auch schwerfällig. Ich bin soeben Mutter geworden. Im Parlament gibt es keine Stellvertretung, der Fraktion fehlt während meines Mutterschaftsurlaubs eine Stimme. Ich ging mit ein wenig logistischem Aufwand trotzdem häufig hin. Gegen ein Stellvertretersystem kommt aus den meisten Fraktionen Widerspruch. Das Parlament funktioniert traditionellerweise für gesunde Männer ohne Betreuungspflichten, die es sich leisten können, im Grossen Rat zu sitzen. Was mir zudem in der Politik auffällt, ist, dass der politische Diskurs wahnsinnig eng sein und Schaden anrichten kann, gerade wenn es um das Zusammenleben der Religionen geht. Die SVP schafft es immer, den Gegensatz zu kreieren: Es gibt «uns», die Christen, und «die anderen», das sind dann meistens die Musliminnen und Muslime. Wir müssen aufpassen, dass wir das nicht ausserhalb der politischen Sphäre reproduzieren und etwa in der reformierten Kirche auch in diesen einfachen Schubladen denken. Hier ist die Arbeit des Runden Tisches der Religionen und des Arbeitskreises sehr wichtig, damit auch der Kirchgemeinderat in Biel das Bewusstsein hat: Es gibt in Biel nicht einfach die Muslime, und sie sind so und so, sondern es gibt eine riesengrosse Vielfalt muslimischer Lebensweisen. Zudem ist die religiöse Identität nicht immer wichtig. Es geht wieder um die Differenzierung, von der du gesprochen hast, Luzia, um das genaue Hinschauen. Deshalb macht es auch Sinn, dass Leute, die einen Bezug zu den Kirchen und Religionsgemeinschaften haben, auch in den politischen Strukturen vertreten sind.
Wo ist Ihr Herzblut in dieser ganzen Arbeit?
LSR: Mich beglückt das Bibellesen mit Menschen. Sie kommen dabei ganz authentisch zum Zug – wenn sie etwas im Text neu entdecken, wenn der Background ihres ganzen Lebens in die Diskussion einfliesst.
BH: Bei mir ist es dieser typisch ethnologische Moment: die Erweiterung des Horizonts durch Perspektivenwechsel. Wir kommen von aussen in eine Situation und verstehen sie erst nicht. Wir schauen dann genau hin, beobachten, nehmen teil – und verstehen dann mit Empathie plötzlich auf neue Weise. Der Horizont öffnet sich, und die Welt, in der man lebt, wird bunter und grösser. Ich finde es besonders toll, in der Erwachsenbildung andere zu solchen Perspektivenwechseln zu ermutigen. Dann erfahre nicht nur ich, wie bunt Biel ist, sondern durch Begegnungsprojekte auch viele in der Kirchgemeinde. Und nicht nur ich kann mit Bieler Musliminnen über Feminismus diskutieren. Mit dieser Öffnung des Horizonts, mit dem Verstehen kommt das Bewusstwerden von Privilegiertheit, von sozialen Unterschieden. Das motiviert mich politisch. Das Schlimmste für mich ist, wenn wir soziale Unterschiede und unsere weissen Privilegien gar nicht sehen. Das zu durchbrechen, liegt mir sehr am Herzen.
○ Barbara Heer, *1982, ist Studienleiterin beim Arbeitskreis für Zeitfragen und Fachbereichsleiterin der Kirchgemeinde Biel. Sie hat in Ethnologie an der Universität Basel doktoriert und ist Grossrätin der SP Basel-Stadt.
Barbara Heer: Cities of Entanglements. Social Life in Johannesburg and Maputo Through Ethnographic Comparison. Bielefeld 2019.
barbara-heer.ch
○ Luzia Sutter Rehmann, *1960, ist Studienleiterin beim Arbeitskreis für Zeitfragen in Biel, Titularprofessorin für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Basel und Einwohnerrätin der Grünen in Binningen.
Luzia Sutter Rehmann: Wut im Bauch. Hunger im Neuen Testament. Gütersloh 2014.
theologie.unibas.ch/de/personen/luzia-sutter-rehmann
○ Arbeitskreis für Zeitfragen:
ref-biel.ch/home/bildungskirche/arbeitskreis-fuer-zeitfragen
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.
*1967, ist Theologin und Erwachsenenbildnerin. Sie ist ehemaliges Mitglied der Redaktion der Neuen Wege.