Religion und Sozialismus sind für uns in der Redaktion der Neuen Wege erst einmal positiv miteinander verbunden. Sie konvergieren darin, dass Menschen an Entwürfen einer anderen möglichen Welt arbeiten und neue Wege dorthin suchen. Wir verstehen beide, Religion und Sozialismus, als Suchbewegungen. Das trifft gerade für die Anfänge des Religiösen Sozialismus und der Zeitschrift Neue Wege vor hundert Jahren zu. Rund um den Ersten Weltkrieg rangen die PionierInnen – etwa Leonhard und Clara Ragaz in Zürich – mit den grossen Fragen: Wie können die Gewalt von Nationalismus und Krieg, das ausbeuterische wirtschaftliche System und die ungleichen Geschlechterbeziehungen überwunden werden? Antworten suchten sie durch die Solidarität in der Gemeinschaft, in genossenschaftlicher Ökonomie, radikaler Demokratie und im Glauben an ein neues Ethos von Liebe und Gerechtigkeit.
Das ist nicht Geschichte. Gegenentwürfe zu den herrschenden Verhältnissen sind heute notwendiger denn je: Entwürfe für ein Zusammenleben in Sorge füreinander und für alles bedrohte Leben, für ein solidarisches Wirtschaften sowie für gewaltfreie Beziehungen und Strukturen. Sie stehen rückwärtsgewandten Gespinsten und autokratischen Allmachtsfantasien entgegen. Solche Sehnsüchte werden vom ethnozentrischen und nationalistischen Rechtspopulismus und anderen Fundamentalismen bedient. Die reichen Traditionen der Religionen und der sozialistischen Strömungen hingegen können die Suche nach echten Alternativen inspirieren. Wir brauchen sie heute gerade deswegen, weil sie grundsätzlich in Frage stellen, was ist und was war, und radikal darüber hinausgehen.
Religion und Sozialismus irritieren aber beide auch, erst recht in ihrer Verbindung. Das ist gut so. Irritation ist notwendig und heilsam. Sie fordert heraus. Denn selbstverständlich haben der Protest und der Einspruch sowohl gegen Religion als auch gegen Sozialismus beste Gründe: historische Abgründe von Unmenschlichkeit, Unfreiheit und Gewalt. Sowohl die Religion als auch der Sozialismus laufen ständig Gefahr, als Systeme versteinert und pervertiert zu werden. Sie sind immer wieder zu Sackgassen, zu Höllenpisten, zum Gegenteil von «neuen Wegen» geworden. Sie haben ihr emanzipatorisches Versprechen oft verraten. Darum ist in der Religion wie im Sozialismus kritisches Hinterfragen der eigenen Geschichte und Praxis unabdingbar. In beiden Fällen müssen wir permanent neue Wege suchen. Und selber gehen. Keine Kirche und keine Partei können uns diese Arbeit abnehmen. Wir wollen uns den sperrigen Traditionen stellen und verschüttete Inhalte ausgraben. Und wir glauben bis auf Weiteres an ihr befreiendes Potenzial.
Das ruft nach Konkretisierung: Welchen Sozialismus, welche Religion meinen wir? Welches sind die Eckpunkte der Kritik, und wo liegen Ansatzpunkte für Alternativen? Wo gibt es sie auf dieser Welt, in diesem Land und in unseren Biografien? Wenn es darum geht, den Kapitalismus – zusammen mit dem Patriarchat und dem Nationalismus – als herrschende Religion zu entlarven, wie überwinden wir sie? Denn, so sagte der langjährige Redaktor der Neuen Wege, Willy Spieler: «Das Problem ist heute nicht, dass der repressive Staatssozialismus abgewirtschaftet hat, sondern dass der Kapitalismus noch immer wirtschaftet.»
Wer Religion und Sozialismus in den Mund nimmt, tritt mit hohen Ansprüchen an. Scheitern und Unglaubwürdigkeit liegen nahe. Denn die Geschichte kennt nur wenige Momente der konkreten Utopie, von gerechten Wirtschaftsstrukturen und freien Gesellschaftsformen. Die Institutionen von Religion und Sozialismus standen selten für die Unantastbarkeit der menschlichen Würde und die Gleichheit und Freiheit aller Menschen. Religion und Sozialismus können ausgesprochen kapitalismus- und herrschaftstauglich sein. Die Begriffe im Singular suggerieren eine Einheitlichkeit, die gerade verdeckt, wie vielfältig das ist, wofür Menschen unter den Bannern von Religionen und Sozialismen kämpfen. Was deshalb Theorien und Konzepte von «Religion» und «Sozialismus» begleiten muss: Geschichten erzählen, in aufrichtigen Beziehungen leben und für Befreiungen kämpfen, weil die Wahrheit konkret ist.
Die Rede von Religion und Sozialismus ist leer ohne politische Praxis. Darum haben sich der religiöse Sozialismus und die Neuen Wege stets auch als Bewegung und in sozialen Bewegungen manifestiert: in der Friedens- und Frauenbewegung, der Genossenschaftsbewegung, in Bewegungen für globale Solidarität und für die Bewahrung der Schöpfung. Und immer auch in politischen Parteien sowie in Kirchen und Religionsgemeinschaften – bei aller Kritik an ihrer Orthodoxie, bei aller Treue zum revolutionären Geist.
Leonhard Ragaz (1868–1945), der Mitbegründer und langjährige Redaktor der Neuen Wege, sah im Sozialismus ein Aufbrechen der Wahrheit Christi: «Denn hier tauchte ja im Gegensatz zur vorhandenen die ganze Welt des Gottesreiches auf: an Stelle der Räuberwelt eine Welt der Solidarität … an Stelle des Mammons der Mensch, an Stelle der Macht das Dienen» (Neue Wege 11/1917).
Das Neue kommt mit der Revolution, aber auch schon davor. Gerechtigkeit kann nicht aufs Paradies verschoben werden. Hier und jetzt blitzt schon etwas davon auf – in glückenden Beziehungen und in gelingenden Projekten, in befreienden Momenten der Geschichte.
Der Titel Neue Wege wurde seit der Gründung der Zeitschrift 1906 nicht verändert. Der Untertitel dagegen wurde immer wieder neu formuliert, von Arbeitsblätter für den Kampf der Zeit bis zuletzt Beiträge zu Religion und Sozialismus. Welche Wege in der Tat neu waren und neu sind – darüber wurde und wird in der Redaktion immer wieder diskutiert und gestritten.
Die Rede von neuen Wegen im Plural zeigt: Es gibt nicht nur eine einzige Richtung unserer Suchbewegung. Deshalb gesellen wir neu Kritik zu den beiden Elefanten Religion und Sozialismus. Es geht uns um eine kritische und nicht zuletzt um eine selbstkritische Grundhaltung. Es geht uns um die aufgeklärte, um die linke Kritik an
der Religion als Realitätsflucht und als Herrschaftsinstrument. Aber es geht uns auch um die aufgeklärte, religiös-theologisch inspirierte Kritik an den Mächten, die heute die Welt beherrschen: die Götter der Autonomie, Leistung und Konkurrenz, die Götzen der Gewalt, des Kapitals und des Silicon Valleys. Es geht uns um die Kritik an der Ausgrenzung und Erniedrigung von Menschen durch Religion – insbesondere von Frauen. Und es geht uns um die Kritik an der Missachtung und Diskriminierung von Menschen wegen ihres Glaubens.
Die gesellschaftliche und die politische Realität in diesem Land, die wirtschaftliche und die ökologische Lage dieser Welt, die schrägen Blicke auf Religion in der Linken und die hemmungslose Instrumentalisierung von Religion durch rechtspopulistische Kräfte rufen nach Alternativen. In einer Gegenwart, in der Visionen einer gerechteren Welt Kraft zu verlieren scheinen und Nihilismus und Zynismus um sich greifen, versuchen wir festzuhalten am Glauben an neue Wege. Wir probieren sie aus. Wohin sie führen, wissen wir nicht. Wir sind gespannt.
Dr. theol., *1972, ist Theologe und Ethiker. Er ist Pfarrer der ev.-ref. Kirche Witikon und Co-Präsident der Neuen Wege.
*1987, studierte Religionswissenschaften und Gender Studies. Sie ist Fachjournalistin Religion und Mitglied der Neue Wege-Redaktion.
Dr. phil, *1950, ist Philosoph, Theologe und Publizist. Er promovierte über Ernst Bloch, arbeitete als Journalist in Laterinamerika und war Geschäftsführer der Hilfsorganisation Brot für alle. Er engagiert sich u.a. bei Comundo und ist Mitglied der Neue Wege-Redaktion.
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.
*1987, Co-Redaktionsleitung der Neuen Wege.
*1949, lebt in Winterthur und ist Mitglied der Redaktion der Neuen Wege.