Damit die Demokratie Demokratie bleibt, muss sie ununterbrochen ausgeübt und ausgedehnt werden. Denn die Maulwürfe, die sie ebenso unablässig untergraben, arbeiten hart. Etwa jene, die «im Namen des Volkes» Freiheiten autoritär einschränken wollen. Jene, die nur einen Teil der Menschen zur Demokratie zulassen und einen anderen ausgrenzen, in der Schweiz lange die andersgläubigen Jüdinnen und Juden oder die Frauen, heute die Zugewanderten. Oder jene, die eine Demokratisierung des Wirtschaftens um jeden Preis verhindern, wo es um die Aushandlung der Sorgearbeit, die Tätigkeit von Konzernen oder die Besitzverhältnisse an Produktionsmitteln ginge.
Gelebt und erkämpft wird Demokratie in der politischen Öffentlichkeit. Für Hannah Arendt geht es im sich spontan bildenden und permanent verändernden Raum des öffentlichen Austauschs «um die Welt selbst, insofern sie das uns Gemeinsame ist». Demokratische Politik als die Sorge um das Ganze, das Kollektive, das Leben. Die politische Öffentlichkeit drohte nach 1989 von der Globalisierung zerrieben, von der neoliberalen Ökonomisierung aller Lebensbereiche enteignet und später vom Rechtspopulismus gekapert zu werden. Jetzt, da die Linke langsam aus ihrem Schock erwacht, sagt Judith Butler, muss sie bisherige Widerstandsformen überdenken, neue Bündnisse schliessen – vor Ort und über Grenzen hinweg, virtuell und auf der Strasse –, neue Organisationsweisen kultivieren. Ziviler Ungehorsam, der gerade in den USA über eine stolze Tradition verfüge, spiele dabei eine zentrale Rolle.
Darum ging es auch Hannah Arendt: mit der ungesicherten Demokratie und Freiheit immer wieder neu beginnen zu können. Im zivilen Ungehorsam, sagt sie, schaffen Bewegungen politische Öffentlichkeit dort, wo sie fehlt. Menschen verstossen an einem bestimmten Punkt bewusst gegen das Gesetz, aber sie stellen sich, den Staat oder auch Konzerne auf genau diesen Boden des Rechts – heute beispielsweise der Meinungsäusserungs- und Versammlungsfreiheit, der internationalen Klimaabkommen oder der Gleichstellung der Geschlechter. Bei Protesten im Zeichen zivilen Ungehorsams handeln Gruppen glaubwürdig, transparent und prinzipienbasiert so, dass demokratische Spielräume für alle grösser werden. Und so, dass die Dringlichkeit eines Anliegens und die notwendige Radikalität einer Transformation nicht mehr übergangen werden können.
In London legten in der Karwoche Tausende von KlimaaktivistInnen zentrale Plätze und Brücken lahm. «Extinction Rebellion» zieht mit zivilem Ungehorsam die Konsequenzen aus dreissig verlorenen Jahren von Demonstrationen und Petitionen für den Klimaschutz. Auch die Waterloo Bridge wurde tagelang besetzt. AktivistInnen konnten sich zwischen ihren Blockadeschichten in der St. Johns Church unmittelbar am Brückenkopf ausruhen, WCs und Küche benutzen, Handys aufladen. Für die Aufrechterhaltung der gewaltfreien Aktion über Tage war diese Infrastruktur entscheidend. Am Marble Arch fuhren AktivistInnen mit einem LKW auf, um den Verkehr zu blockieren und ihn als solarbetriebene Bühne zu nutzen. Die 77-jährige Pfarrerin Sue Parfitt kettete sich an das Chassis, um zu verhindern, dass die Polizei das Fahrzeug wegbringen konnte. Auch sie war bereit, verhaftet zu werden, «um die Aufmerksamkeit der Mächtigen auf das Thema zu lenken und die Klimaveränderung zu stoppen». Zivilen Ungehorsam sahen ChristInnen zu verschiedenen Zeiten immer wieder als die jesuanische Haltung in der politischen Öffentlichkeit.
Ziviler Ungehorsam könnte jetzt auch in die Schweiz zurückkehren. 44 Jahre nach der Besetzung des AKW-Geländes Kaiseraugst. 28 Jahre nach dem ersten Frauenstreik.