Notwendige Irrtümer

Fulbert Steffensky, 1. März 2018
Neue Wege 3/2018

1968 gründeten linke Christinnen und Christen das Politische Nachtgebet. Ein selbstkritischer Rückblick reflektiert die Irrtümer der Gruppe – ohne ihre Anliegen zu widerrufen.

Dorothee Sölle und ich haben auf dem Kirchentag 1993 in München eine Veranstaltung durchgesetzt mit dem Titel «Was haben wir Linken falsch gemacht?» Wir fanden, dass eine solche Überlegung notwendig sei nach dem Zusammenbruch des realexistierenden Sozialismus der DDR. Wir glaubten, die Frage nach den eigenen Fehlern wäre gerade im geschützten Raum der Kirche möglich; in einem Raum, in dem man sich nicht in Selbstverteidigung erschöpfen müsste. Es sollte keine Veranstaltung sein, in der wir unsere eigenen linken Ideen widerrufen wollten. Wir wollten eine nichtrevisionistische Revision. Wir wollten unseren Weg und unsere Arbeit nicht widerrufen, aber sehen, was unsere Irrtümer waren. Wer Irrtümer nicht wagt, ist auch nicht wahrheitsfähig. Allerdings sind auch die nicht wahrheitsfähig, die auf ihren Irrtümern beharren oder sie verschweigen und Korrekturen nicht vertragen. Diese Veranstaltung ist grandios danebengegangen, weil die Redner und Rednerinnen sich in der Selbstverteidigung erschöpften. Wir waren unfähig, uns eine Blösse zu geben. Schade, wir waren nicht souverän!

Eine Frage der Besinnung

1968 hat eine kritische Gruppe katholischer und evangelischer Christen und Christinnen in Köln das Politische Nachtgebet gegründet. Es war der Versuch, gesellschaftliche Gegebenheiten in einem Gottesdienst kritisch zu bedenken und zu überlegen, was zu tun und wogegen Widerstand zu leisten sei. Themen dieser Gottesdienste waren etwa: Stadtplanung, Strafvollzug, Entwicklungshilfe, der Vietnamkrieg, Diktatur des Kapitals, Demokratie in der Kirche und vieles andere. Die Gruppe kam aus unterschiedlichen linkspolitischen Lagern: linke SPD, MarxistInnen, SozialistInnen, Ausserparlamentarische Opposition. Wir haben weder nach Konfessionen noch nach politischer Zugehörigkeit gefragt. Uns einigte die kritische Arbeit an den jeweiligen Themen.

Wir gerieten alsbald in Konflikte mit unseren Kirchenleitungen, mit den evangelischen wie mit den katholischen. Einige von uns mussten durch ihre Mitarbeit erhebliche berufliche Nachteile in Kauf nehmen. Das Politische Nachtgebet war ein gelungener und irrtumsreicher Versuch, und ich bin stolz darauf, mitgemacht und mitgeirrt zu haben.

Jetzt, nach fünfzig Jahren, stelle ich die Frage, die zu beantworten uns auf dem Kirchentag in München misslungen ist: Was haben wir falsch gemacht? Es ist keine Frage der Reue, es ist eine Frage der Besinnung. Ich vermute, dass meine Überlegung nicht nur auf unsere linke Gruppe zutrifft, sondern das Problem von allen Gruppen ist, die Optionen haben und diese radikal verfolgen. Was also sehe ich heute mit heiterer Skepsis?

Lässliche Sünden

Wir haben gerne gestritten (lässliche Sünde!). Der Streit, sofern er ohne Gewalt geführt wird, ist ein Mittel, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen, und es gibt eine wahrheitsfeindliche Friedfertigkeit, von der wir oft in den Predigten hören. Aber es ist nicht zu übersehen, dass wir den Streit auch des Streites wegen gesucht haben, nach dem Prinzip: viel Feind, viel Ehr! Wo wir am meisten angegriffen wurden, fühlten wir uns am meisten im Recht. Gelegentlich diente der Streit auch dazu, unsere Gruppe zusammenzuhalten. Je mehr Feinde wir draussen haben, desto mehr FreundInnen drinnen. So entstand gelegentlich eine selbstzweckhafte Feindseligkeit, die die Gruppe zwar geeint hat, oft aber auf Kosten der Wahrheit. Ich rede also nicht gegen den Streit, sondern frage mich, ob der Streit uns nicht gelegentlich zum Ziel wurde.

 

Wir waren nicht selten in der Gefahr, Institutionen prinzipiell zu missachten (lässliche Sünde!). ReformerInnen wollen etwas Neues, was noch keinen Platz in den Institutionen hat, sie haben Vorwärtsstrategien. Sie haben ein starkes, anwaltschaftliches Denken, das ist ihre Aufgabe. Es gibt keine Aufbrüche des Geistes, keine prophetische Situation, die nicht sogleich Störungen der eingerichteten Welten sind, damit auch Störungen der Institution. Die Bilder zu stürzen, ist eine solche Grundstörung. Bildersturz geht immer einher mit neuen Ideen. Bildersturz nenne ich die Störung der verpflichtenden Einrichtungen, die Störung der heiligen Zeichen und der Theatralik der Institution. Keine Neuheit ohne Bruch! Aber es gibt auf Dauer keinen Geist (allerdings auch keinen Ungeist!), ohne dass dieser vergemeinschaftet wird, herkunftsbewusst ist, öffentlich ist und Recht wird, sogar Kirchenrecht. Es gibt keinen Geist, ohne dass er auf Dauer Institution wird. Institutionen sind die Langfristigkeit des Geistes (und des Ungeistes!). Ideen müssen eingerichtet werden, sie brauchen also Institutionen. Sie brauchen Zeitstrukturen,
Machtverteilungsstrukturen, Inszenierungsstrukturen. Die Idee wird in der Institution welthaltig, sie ist dann nicht mehr nur im Herz der Menschen verankert. Ausserdem rettet uns die Institution vor «CharismatikerInnen», vor den zufälligen, kommenden, gehenden, vagen Ideen, die sich der Überprüfung und der Rationalität verweigern. «CharismatikerInnen» werden durch die Institutionen gebändigt. Institutionen, wenn sie nicht selber gewalthaft sind, retten vor Gewalt; sie schützen die Schwachen vor den Starken und sie kontrollieren Macht. Ohne Institutionen keine Demokratie. Institutionelle Machtlosigkeit verursacht immer Angst,und das ist die Hemmung neuer Ideen. Wer Institutionen zerstört, ohne Alternativen zu entwickeln, der spielt mit der Freiheit.

Spaltung und Kompromiss

Wir haben oft vergessen, uns mit Gruppen mit ähnlichen Optionen zu verbünden und Kompromisse zu schliessen (schwere Sünde!). Linke Gruppen haben Vorwärtsstrategien. Sie haben ein starkes, anwaltschaftliches Denken, das ist ihre Aufgabe. Sie sind leidenschaftlich. Alle leidenschaftlichen Leute aber sind spaltungsgefährdet. Hier liegt das Problem vieler linken Gruppen. Es ist übrigens ganz interessant, dass heute viele AmtsträgerInnen in den deutschen Kirchen aus «leidenschaftlichen Gruppen» kommen, aus Frauengruppen, aus Friedensgruppen und Ökogruppen. Vielleicht hat das Amt einiges von ihrer Leidenschaft gebremst, aber sie haben eine Herkunft, der sie nicht abschwören.

Wir können nur in Institutionen leben und arbeiten, wenn wir nicht von Anfang an vermuten, dass man nicht dort leben und arbeiten kann. Der totalisierte Pessimismus von linken Gruppen Institutionen gegenüber ist oft ein Problem gewesen (mittelschwere Sünde!). Man kann aber nur dort leben, wenn man sich aus der oft anzutreffenden Weinerlichkeit befreit, die sich in der Vermutung äussert: Hier kann ich nicht leben, die Institution ist der Tod meiner Ideen, die Einschränkung meiner Individualität, hier kann ich nicht zuhause sein. Dann ist man eben halb zuhause in ihnen! Wo ist man schon ganz zuhause? Man kann dort nur leben, wenn man kompromissfähig ist. Kompromiss ist unter Linken ein verdächtiges Wort. Gruppen können auf eine Weise kompromisslos sein, wie es die grossen Institutionen noch nicht können, aber vielleicht morgen können. Wenn die Gruppen politisch gestaltungsfähig bleiben wollen, müssen sie fähig sein, Kompromisse zu schliessen – ob uns das Recht ist oder nicht. Kompromisse sind schmerzliche und nützliche Versuche, zum Wohl von vielen zu handeln. «Unter der Bedingung der Unvermeidlichkeit von Kompromissen heisst Demokrat sein heute vor allem, verlieren zu lernen», schreibt der Literaturkritiker Jens-Christian Rabe.1 Man muss das Verlieren auch lernen, wo es nicht anders geht. Der Kompromiss ist nicht die Wahrheit, er ist ein Teil der Wahrheit, und so muss es Orte geben, an denen Gruppen eine gründlichere Wahrheit nicht aus dem Auge verlieren.

Schwarzer Kitsch

Unsere Lust war gross, die Welt als Verfall zu beschreiben (mittelschwere Sünde!). Bedenklich war die Auffassung, dass die Radikalsten unter uns am ehesten Recht hätten. So überboten wir uns manchmal in der Lust an der Beschreibung des Unglücks. Die Gefahr war, Panoramen des Verfalls zu beschreiben, an denen man eigentlich nicht mehr arbeiten konnte. Die Gefahr war, das Unglück widerspruchsfrei zu beschreiben. Aber man kann nur an Widersprüchen arbeiten, und man kann nur Hoffnung finden, wo man sich die Mühe macht, die Möglichkeiten des Gelingens wahrzunehmen, und seien sie noch so gering. Der Verfall lässt sich leichter beschreiben. Aber es gibt gelegentlich auch den schwarzen Kitsch, der einem die Luft zum Atmen und zum Arbeiten nimmt. Genau sein in der Beschreibung des Unglücks ist eine Tugend, mit der man der Selbstlähmung entgeht. Ein Satz eines klugen Menschen hat uns im Nachtgebet nachdenklich gemacht. Er hat uns gefragt: Seid ihr fähig, eure Botschaft so zu sagen, dass sie zugleich Kritik und Trost ist? Dies erinnert an das Gebet von Helder Camara, in dem es heisst: «Lehre mich ein Nein zu sagen, dass nach Ja schmeckt.»

Köstliche Nutzlosigkeit

Die Linke jener Zeit war nicht fromm, und die Frommen waren nicht links (schwere Sünde von beiden!). Ich erinnere mich an ein Wochenende der «Christen für den Sozialismus» in Berlin. Am Samstagabend schlug jemand vor, am nächsten Tag einen Gottesdienst zu machen. Man redete eher verlegen darüber, was ein Gottesdienst denn bringe für die Gruppe und für das Thema, das sie verfolgte. Hemlut Gollwitzer, der alte angesehene linke Theologe, hörte sich die Diskussion lange an, dann sagte er: «Ich will den Gottesdienst, weil er schön ist.» Er hat nicht gesagt: weil er uns stärkt und Hoffnung bringt. «Er ist schön», hat er gesagt. Er wollte den Gottesdienst nicht unter Verwertungsabsichten.

In meinem Beispiel, dem Politischen Nachtgebet, hatten wir immer liturgische Elemente: Lieder, Gebete, Lesungen, darauf bestand Dorothee Sölle energisch. Kritisch sehe ich aber die Erklärung, die wir in sieben Thesen über das Gebet versuchten. Schon dass wir unser Gebet erklärten und rechtfertigten, indem wir es Zwecken unterwarfen, ist verräterisch. Wir sagten vom Gebet, dass es uns darauf vorbereitet, Verantwortung für die Welt zu übernehmen; dass es uns bewusst macht, was zu tun sei; dass es den Hunger nach dem Reich Gottes wach hält. Wir hatten wenig Verständnis für die köstlichen Nutzlosigkeiten unserer Tradition.

Genauer träumen lernen

Dass wir effektorientiert über das Gebet sprachen, war zu wenig, aber es war verständlich. Die Hälfte unserer Besucher und Besucherinnen waren keine ChristInnen. Ihnen wollten wir sagen, warum wir auf liturgische Elemente nicht verzichteten. (Dazu gibt es in einem der Nachtgebete einen wundervollen Text von Dorothee Sölle: Antwort auf die Frage der linken Freunde warum wir beten2.) In unseren Gebetsthesen wandten wir uns allerdings auch gegen eine feste lamentöse kirchliche Tradition, die in ihren Gebeten so gerne die eigene Verantwortung auf Gott abschob. Wir wandten uns gegen eine Gesellschaft, die resistent war gegen Erneuerung und Bekehrung. So waren unsere Fehler nicht nur unvermeidbar, sie hatten ihr Recht. Meine Überlegung ist kein Widerruf unserer Träume von damals. Es ist der Versuch, genauer träumen zu lernen.

  1. Süddeutsche Zeitung, 16.2.2012.

  2. Dorothee Sölle: Gesammelte Werke. Bd. 8: Das Brot der Ermutigung. Stuttgart 2008, S. 36–38.

  • Fulbert Steffensky,

    *1933, studierte katholische und evangelische Theologie, war 13 Jahre Benediktinermönch und trat 1969 zum Protestantismus über. 1975–1989 war er Professor für Religionspädagogik an der Universität Hamburg. Mit Dorothee Sölle war er von 1969 bis zu ihrem Tod 2003 verheiratet. Mit ihr und einigen Freundinnen und Freunden gründete er 1968 das Politische Nachtgebet in Köln. Fulbert Steffensky lebt heute in Luzern und ist mit der Theologin Li Hangartner verheiratet.