Auf dem Bremgartenfriedhof in Bern liegt seit über 143 Jahren der Anarchismus begraben. Oder zumindest sein wohl einflussreichster Vertreter: Michail Alexandrowitsch Bakunin, der russische Revolutionär und Gegenspieler von Karl Marx. Zwischen rechtwinklig angeordneten Wegen, unter in Reih und Glied stehenden Bäumen und vor einer streng geschnittenen Buchenhecke steht sein Grabstein – grob gehauen und mit unsauberen Kanten. Darauf prangt seit wenigen Jahren die kämpferische Inschrift «Wer nicht das Unmögliche wagt, wird das Mögliche nie erreichen». Ein angemessenes Motto für einen Anarchisten. Denn ist es überhaupt möglich, diese radikale Gesellschaftsidee in die Herzen und Köpfe der breiten Masse hinauszutragen? Oder ist es unmöglich, die festgefahrenen, hierarchischen Strukturen der Gesellschaft zu durchbrechen und einen herrschaftsfreien Raum von selbstverwirklichten Individuen zu erschaffen? Bleibt die Utopie für immer Utopie, oder hat sie auch praktische Relevanz?
Nur ein paar Meter weiter liegt ein anderer Bekannter begraben: der Berner Troubadour Mani Matter. Er erzählt in seinem Lied «Dynamit» von einem Anarchisten, der das Bundeshaus sprengen will. Das Lied spielt auf eine Episode vom 26. Januar 1885 an. In einem anonymen Brief drohte damals jemand, das Bundeshaus samt dem versammelten Bundesrat in die Luft zu sprengen. Auch der Protagonist in Mani Matters Lied ist der Überzeugung, dass das Bundeshaus dem Anarchismus weichen muss. Eine beherzte Rede über die Vorzüge von Freiheit und Demokratie lassen ihn schliesslich unverrichteter Dinge von dannen ziehen. Und trotzdem singen noch heute Menschen an Demonstrationen vom Wunsch, das System mit einer grossen Explosion aus der Welt zu schaffen und durch ein besseres zu ersetzen. Wollen wir mit Gewalt die gewaltfreie Welt herbeiführen? Gibt es nicht andere Wege? Eine Politik der kleinen Schritte? Oder ist das bloss ein Irrweg – gespickt mit Widersprüchen und Fallstricken –, an dessen Ende alles bleibt wie bisher?
Antworten darauf weiss niemand. Doch eines ist klar: Wer sich auf die Suche nach heutigen anarchistischen Funken und Experimenten macht, ist in Bern richtig. Immerhin liegt in den Tälern des Berner Jura die Wiege der anarchistischen Bewegung. Noch heute tüfteln dort Menschen an Selbstbestimmung und kollektiver Selbstverwaltung. Und in der Bundesstadt steht auch die Reitschule, dieses prominente und umstrittene Experimentierfeld direkt neben den Bahngleisen. Auch wenn sie sich den Anarchismus nicht offiziell auf die Fahne schreibt, gibt es wohl keinen besseren Ausgangspunkt, um dem heutigen städtischen anarchistischen Treiben nachzuspüren.
Die meisten hier haben ihre ganz eigene Vorstellung davon, was Anarchismus ist oder sein sollte – und wie stark sie sich mit diesem Etikett identifizieren wollen. Gemein ist ihnen jedoch ein ganz praktischer Aspekt: Ihr Propagandamaterial lassen sie in der hauseigenen Druckerei vom Band rollen.
Sie ist in der Ecke des Innenhofs versteckt. Hier rattert immer etwas. Es riecht nach Farbe, alles ist handfest. Sechs Menschen verdienen in den vollgepackten Räumen ihren Lebensunterhalt und beliefern die linksalternativen und -autonomen Bewegungen der Stadt mit Flyern, Plakaten, Broschüren, Aufklebern oder T-Shirts. So auch Detti, der sich das Druckereihandwerk selbst beigebracht hat und ein langjähriger Begleiter und Gestalter der Reitschule ist – seit 29 Jahren ist er mit diesem Ort verwurzelt.
Es gibt wohl wenige, die sich mit der Strahlkraft des praktisch gelebten Anarchismus in Bern besser auskennen. Entsprechende Antworten erhoffe ich mir, als wir uns im Infoladen – eine Bibliothek, ein Archiv, ein Treffpunkt – in die weichen Sessel fläzen. Vor allem will ich wissen: Ist die Reitschule anarchistisch?
«Ich würde die Reitschule schon als Ort bezeichnen, der nach anarchistischen Grundsätzen funktioniert», antwortet Detti etwas zögerlich. Er denkt dabei an die internen Strukturen, an gemeinschaftliche Entscheidungsfindung oder die selbstverwalteten Kollektive. Und natürlich an das Ideal einer herrschaftsfreien Welt.
«Hier lassen sich anarchistische Projekte und Ideen entwickeln. Es ist ein Lernort für all die Menschen, die hier in den letzten dreissig Jahren aktiv waren.» Sie lernten nicht nur für sich selbst, sondern gaben ihr Wissen auch an die nächste Generation von Reitschüler*innen weiter. Denn im Idealfall macht man die gleichen Fehler nicht zweimal. Und trotzdem: Das Scheitern gehört zur Reitschule – und zur Utopie sowieso.
Ist die Reitschule heute wenigstens näher am Ideal?
Schwierig zu sagen, auch für Detti. «Die Utopie wird heute sicher ernster genommen. Zum Beispiel gibt es weniger Leithammel als noch vor zehn, zwanzig Jahren.» Damit spricht er einen alten Widerspruch an. Es menschelt auch in der anarchistischen Bewegung – trotz aller hierarchiefreien Strukturen und Prozesse. Es gibt solche, die besser reden können als andere, mehr wissen, mehr Beziehungen haben. Es entsteht ein Machtungleichgewicht, mit dem man eigentlich aufräumen wollte.
Für diese «weiche» Macht gibt es heute mehr Sensibilität. «Das hat sicher auch mit der Grösse und dem Einfluss der queerfeministischen Szene zu tun. Dadurch wurde auch ein Fokus auf diejenigen Prozesse gelegt, in denen es immer noch viel Verbesserungspotenzial gibt.»
Prozesse wie die gemeinschaftliche Entscheidungsfindung, bei der alle an Bord sind: Das ist ein zentrales Anliegen des Anarchismus. Niemand soll über andere herrschen dürfen. In einem kleinen Druckereikollektiv mag das funktionieren. Hier kann man den Einwänden und Vorbehalten aller Betroffenen gerecht werden.
Und in der Reitschule als Ganzes? Hier trifft sich jeden Sonntagabend zum Beispiel die Koordinationsgruppe, wo Delegierte der verschiedenen Arbeitsgruppen und Kollektive zusammenkommen und den gesamten Betrieb diskutieren. Und immer dann, wenn schwerwiegende Entscheidungen anstehen, spricht die Vollversammlung das letzte Wort. Vieles läuft rund, aber gerade grosse Kurswechsel sind langwierig, ein schnelles Reagieren schwierig. Könnte so etwas überhaupt in der breiten Gesellschaft funktionieren?
«Die Reitschule ist ein Dampfer, der sich kaum steuern lässt – von niemandem.» Das ist nicht unbedingt ein Problem. Und trotzdem muss sich dieses autonome Kulturzentrum manchmal bewegen. Die Reitschule ist keine isolierte Insel – und soll es auch nicht sein. Es gibt Reibung und Austausch mit der Stadt, der Polizei und der Bevölkerung. Das weiss auch Detti. «Manchmal wäre es gut, wenn sich die Dinge in der Reitschule schneller ändern würden. Aber das ist fast nicht möglich.» Wieder so ein Widerspruch.
Ein anderer ist die Frage nach der Gewalt, die rund um die Reitschule immer wieder zu Tage tritt. Ich will von Detti wissen, ob sie fehl am Platz ist. Er glaubt, dass es im Moment einfach mehr wütende Menschen gebe, die auch bereit seien, ihrer Wut durch Gewalt gegen die Polizei und den Staat Ausdruck zu verleihen. «Ich kann das ein Stück weit nachempfinden», gesteht er ein. «Aber ich finde es nicht sehr schlau und zielführend.»
In der Praxis ziehen anarchistische Freiräume fast naturgemäss die staatliche Repression auf sich. Schliesslich stellen sie den Staat und seine Regeln grundsätzlich in Frage. «Es braucht darum eine gewisse Militanz. Es braucht die Bereitschaft, mit dem eigenen Körper hinzustehen und sich zu wehren. Das ist die Geschichte der Reitschule. Nur so entstehen Räume, in denen Sachen ausprobiert werden können, die sich etablieren und miteinander in Verbindung treten können.»
Nur wenige sind dabei langfristig erfolgreich. Zwar wird in Bern immer wieder versucht, neue Experimentierfelder durch Besetzungen zu erobern. Wirklich profilieren konnten sich nur eine Handvoll. Die Reitschule, der Wagenplatz Zaffaraya. Andere, wie das «Effy29» oder das kürzlich geräumte «Fabrikool» – ein Treff- und Lebenspunkt für Menschen im Quartier mit integrierter anarchistischer Bibliothek – waren zu wenig stark, um sich gegen den Staat zu behaupten. Auch, weil sie in der Bevölkerung zu wenig Rückhalt hatten. Denn in Bern zeigt sich: Wollen anarchistische Projekte ihren politischen Anspruch realisieren, dürfen sie sich nicht einigeln und müssen das eigene Misstrauen genauso wie das der anderen abbauen. Der Austausch mit der Gesellschaft ist lebensnotwendig – trotz der damit verbundenen Widersprüche und Kompromisse.
Gibt es auch Hoffnung, dass irgendwann wieder grössere Projekte entstehen? Detti schöpft Mut im Frauenstreik und der Klimabewegung. Das seien soziale Bewegungen, die eine genügend grosse Kraft entwickelten, um wirklich etwas zu verändern. Natürlich gehe das nicht von heute auf morgen. «Wir müssen beharrlich sein. Das sind alles kleine Schritte. Ich gehe nicht davon aus, dass der Systemwechsel bald kommt.»
An einem ganz anderen Reibungspunkt befindet sich Christa Ammann. Fünf Jahre lang war sie im Parlament der Stadt. Jetzt sitzt sie als einzige Vertreterin der Alternativen Linken im 160-köpfigen Kantonsparlament. Anarchismus und Parlament, wie passt das zusammen? Ist die Demokratie nicht die Tyrannei der Mehrheit? «Angesichts dessen, was ich mache, würde ich mir nicht anmassen, mich als Anarchistin zu bezeichnen», gesteht Ammann. «Trotzdem hat der Anarchismus einen wichtigen Stellenwert für mich. Es ist eine interessante Utopie und als Handlungsmaxime oder Kompass wichtig.»
Die seien gerade im Parlamentsbetrieb immens wichtig. Denn hier spielt die Macht, der natürliche Feind des Anarchismus, die erste Geige. «Ich will immer wieder die Machtfrage stellen. Politisch, aber auch persönlich.» Darum gehe es letztlich in der anarchistischen Utopie. «Anarchismus ist für mich das Streben nach herrschaftsfreien Räumen, wo wir uns gleichberechtigt begegnen können und niemand mehr Macht über andere hat.» Dabei gehe es nicht primär um geteilte Macht, sondern um deren Abwesenheit.
Keine einfache Angelegenheit in der Politik. Keine einfache Angelegenheit in einer menschlichen Gemeinschaft.
Wir sitzen in der brütenden Junihitze im Café Kairo. Ammann überlegt vor jeder Antwort lange und wählt ihre Worte mit Bedacht. Manchmal habe ich das Gefühl, ihr Zögern sei ein authentischer Ausdruck jener inneren Widerstände, die wir alle in uns tragen. Ein Eingeständnis unserer Unvollkommenheit.
Ammann weiss genau, dass sie als Parlamentarierin mehr Macht und Einfluss als andere hat. Sie kann weitreichende Entscheidungen mitprägen: über Geld, über Recht, über das Schicksal von anderen. Und sie hadert immer wieder mit dieser Tatsache. «Mit diesen Widersprüchen umzugehen ist anstrengend. Gleichzeitig muss ich meine strukturelle Macht auch nicht unbedingt ausnutzen.» Stattdessen will sie diese wenigstens mit anderen teilen. Sie ist zwar die Vertreterin der Alternativen Linken im Parlament. Doch damit vertritt sie eben auch die kollektiven Parteientscheide. «Wir versuchen, das bisschen Macht zu teilen.» Sie steht damit nicht bloss für ihre eigenen Werte ein, sondern versucht, die Interessen möglichst vieler einzubringen. Wenn man schon nicht die Entscheidungsgewalt aus der Welt schaffen kann, dann könnten wir sie wenigstens etwas gleichmässiger verteilen. Bleibt das am Ende vom Anarchismus übrig?
Nicht unbedingt, denn als Kompass für das eigene Handeln könnte sich die Utopie in der Praxis bewähren. Ein bisschen Anarchismus täte uns allen gut. «Ich glaube nicht, dass wir Macht überwinden können. Ein Raum, wo die Machtfrage nicht mehr gestellt werden muss, übersteigt mein Vorstellungsvermögen. Wir können einzig immer wieder reflektieren, wie wir miteinander umgehen.»
Dazu gehört wieder einmal das Scheitern. Denn dabei merken wir, ob wir die falsche Abzweigung genommen haben. Oder ob wir unsere Macht ohne Bewusstsein ausgenutzt haben. So ist Anarchismus immer auch mit einem Anspruch an sich selbst verbunden. Kein Wunder ist Ammann besonders genervt, wenn sie nicht an äusseren Zwängen und Strukturen scheitert, sondern an sich selbst. «Die eigene Utopie mit Macht durchzusetzen wäre absurd und völlig widersprüchlich. Mit so viel Macht könnte ich zumindest nicht umgehen. Schon mit ein bisschen parlamentarischer Macht scheitert man immer wieder.»
In der Reinheit der Lehre ist der Anarchismus eine ansprechende Welt. In ihr herrschen Werte wie Empathie, Freiheit, Selbstbestimmung, Gemeinschaftlichkeit oder Konsens. In der Praxis des städtischen Lebens zeigt sich jedoch schnell Allzumenschliches.
«Widerspruchsfrei kann sowieso niemand leben», glaubt Ammann.
Natürlich lassen sich anarchistische Inseln aufbauen und damit zeigen, was möglich ist. Zum Beispiel im Viererfeld, wo eine Wagensiedlung gegen die Regulierung von Freiraum ankämpft oder in Projekten wie dem Kulturzentrum und Restaurant Heitere Fahne, die ohne die Vorarbeit der Reitschule kaum möglich wären. «Aber wenn man sich mit Menschen auseinandersetzen möchte, die deine Werte nicht teilen, entsteht Reibung. Manchmal will ich mir schon meine eigene Welt bauen. Aber ohne Auseinandersetzung kommen wir auch nicht weiter.»
Es ist dieser ständige Austausch, der die anarchistische Utopie in Bern am Leben erhält. Er sorgt dafür, dass in all den kleinen und grösseren mehr oder weniger anarchistischen Freiräumen, der Kompass funktioniert. Auch wenn der Norden nie erreicht wird.●
*1988, ist freier Journalist und lebt in Bern. Er schreibt über Zukunftstechnologien und alternative Gesellschaftsmodelle – am liebsten kombiniert. Nebst anarchistischem Kompass trägt er auch eine 24-Stunden-Uhr mit sich.
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