Der Krieg Russlands gegen die Ukraine begann nicht erst am 24. Februar 2022. Er hat Vorgeschichten. Die wichtigste: Im Dezember 2013 kam es zu Massenprotesten auf dem Maidan-Platz in Kyiw. Die damalige ukrainische Regierung hatte sich unter massivem russischem Druck für eine Aussetzung des geplanten Assoziierungsabkommens mit der EU entschieden. Die Lage eskalierte, nicht nur auf der Strasse. Russland annektierte 2014 die Krim und entfachte mit Kräften vor Ort einen Krieg im Donbass.
Unvorbereitet stand ich im Dezember 2013 selber auf dem Maidan. Kurzfristig war ich an eine internationale Konferenz delegiert worden. Ich sah den friedlich in Beschlag genommenen Platz, die besetzten Verwaltungsgebäude und die in Bereitschaft stehenden Sicherheitskräfte, die vielen Europaflaggen und die Gesichter voller Anspannung und Erwartung. An der Konferenz vernahm ich Einschätzungen von Menschenrechtsaktivist*innen. Offensichtlich kämpfte da eine breite Volksbewegung für mehr Demokratie und Freiheitsrechte, auf den Trümmern der Sowjetunion spielten sich historische Auseinandersetzungen ab. So viel wurde mir klar. Deshalb bin ich schockiert, wenn heute ein befreiungstheologischer Weggefährte aus Lateinamerika die Geschehnisse in der Ukraine von 2013/14 als «von den USA unterstützte[n] Staatsstreich» bezeichnet. Wo ist unsere gemeinsame Sprache geblieben?
Seit langem interessierten mich Menschenrechte in Guatemala, in Palästina oder in der Schweiz. Jetzt lernte ich plötzlich Menschenrechtler*innen aus Russland, Belarus und der Ukraine kennen. Sie standen in anderen politischen Traditionen als ich in meiner Umgebung. Sie sahen Europa aus einer anderen Perspektive. Viele standen der Politik westlicher Regierungen und der Dominanz wirtschaftlicher Macht weniger kritisch gegenüber. Aber sie beeindruckten mich mit ihrer Erfahrung und ihrem Mut, mit ihrer Gradlinigkeit und Glaubwürdigkeit.
Am 10. Dezember erhalten nun jene Menschen, die ich in Kyiw kennenlernte und in den letzten Jahren immer wieder traf, den Friedensnobelpreis: die Leute des ukrainischen «Center for Civil Liberties» (CCL) und der russischen Organisation «Memorial», dazu Ales Bialiatsky, der Gründer des belarusischen Menschenrechtszentrums «Vyasna», der wie heute auch damals gerade für einige Jahre im Gefängnis war.
Oleksandra Matviichuk, meine ukrainische Kollegin und Leiterin von CCL, postet in den sozialen Medien ihre Interviews mit BBC oder The New York Times, ein Foto mit Macron und eines von singenden Soldatinnen in Schützengräben und immer wieder die Forderung nach schweren Waffen. Wir reden in unterschiedlichen Sprachen. Aber wie sie alle Hebel in Bewegung setzt, dass es für jene keine Straflosigkeit geben darf, die Menschenrechte im Krieg aufs Grausamste verletzen, beeindruckt mich. Für ihr Anliegen kann es in meinen Augen nur Solidarität auch von links geben. Eine Frage treibt mich um: Weshalb kommt es ständig zu politischen Relativierungen, welche Empathie für die Menschen, für die Aktivist*innen in der Ukraine verhindern, erschweren? Ich möchte in diesem verdammten Krieg und in jedem verdammten Krieg durchbuchstabieren, dass Solidarität nicht nur Gleichgesinnten, Altbekannten, der eigenen Sache Dienlichen gelten kann. Sondern gerade den Anderen, die leiden und kämpfen, jenen, die mich befremden, die mich stören, die mich hinterfragen. Ohne dass ich meine Gesinnung und meine Sache gleich über Bord werfen würde.
Serhij Zhadan hilft mir, das zu lernen. Der ukrainische Schriftsteller hat den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhalten. Seine Rede irritiert mich, weil der Krieg gegen die Ukraine in seinen Augen zu absoluten Eindeutigkeiten in den Positionen führt. Wenn er Europa vorwirft, in der Komfortzone zu bleiben und damit die Grenzen der Ethik zu überschreiten, muss er sich auch befragen lassen, was er tat, als in Bosnien, im Irak oder im Jemen Kriege vom Zaun gebrochen wurden.
Aber nichtsdestotrotz – ich glaube, Serhij Zhadan meint mich in seiner Rede ganz persönlich: «Wir müssen uns darauf einstellen, dass das kein einfaches Gespräch wird. Aber so oder so müssen wir dieses Gespräch schon heute beginnen.» Er will nicht, dass mit dem Krieg das Gespräch mit anderen Menschen, vielleicht mit Menschen wie mir, mit kritischen Pazifist*innen im Westen, abbricht. Er benennt den Grund: «Schliesslich befinden wir uns heute alle an einem Punkt des Sprechens, von dem aus wir früher nicht gesprochen haben, wir haben ein verschobenes Wahrnehmungs- und Bewertungssystem, veränderte Bedeutungsbezüge […]. Was von aussen, aus der Entfernung, womöglich aussieht wie ein Gespräch über den Tod, ist in Wirklichkeit der verzweifelte Versuch, am Leben, an seiner Existenz und seiner Dauer festzuhalten. Wo in dieser neuen, gebrochenen und verschobenen Wirklichkeit endet denn der Krieg, und wo beginnt der Frieden?» Das ist auch meine Frage, weit über die Ukraine hinaus.