Mutanfall

Matthias Hui, 1. Januar 2017
Neue Wege 1-2/2017

Aufruhr am Parteitag der SP im Dezember. Die Debatte zur Wirtschaftsdemokratie läuft. Juso-VertreterInnen wollten Zentrales nicht im Ungefähren belassen: «Soll eine demokratische, ökologische und solidarische Wirtschaft zum Durchbruch gelangen, müssen wir damit beginnen, differenzierter über das Verhältnis von (Privat-)Eigentum und Gemeinwohl nachzudenken.» Betroffene müssten mitentscheiden können, wie das Privateigentum an den Produktionsmitteln zugunsten von Demokratie und Gemeinwohl transformiert werden könne.

Der Antrag wurde ganz knapp angenommen. Der handstreichartige Mutanfall zu analytischer Klarheit und einer Vision verursachte Unmut. Eine Wiederholung der Abstimmung wurde beantragt und der Antrag gekippt.

Die Frage bleibt trotzdem: Wie sieht eine Wirtschaft aus, die dem Gemeinwohl und den Menschen dient – allen und nicht wenigen? Wem soll die Welt in Zukunft gehören – der Boden im Zürcher Kreis 5 und die Bündner Alpen, die Rechte an Heilpflanzen in Lateinamerika, die Internetplattformen des Silicon Valley und die Textilfabriken in Bangladesh? Für wen sollen die Menschen arbeiten? Wer bestimmt das alles (mit)? Dass die SP wieder solche Diskussionen auslöst, hat am Parteitag nicht wenige mit leisem Stolz erfüllt, mit wiedererwachender Freude und Lust an Politik in wahrlich nicht einfachen Zeiten.

Auch Leonhard Ragaz würde sich freuen. Er formulierte vor genau hundert Jahren in seinem «Programm» Die Neue Schweiz: «Es ist das soziale Problem, das heisst: der grosse Streit, der sich am Tagen besonders in die grossen Gegensätze von Kapital und Arbeit, Arbeitgeber und Arbeitnehmer, Bourgeoisie und Proletariat, Bauer und Arbeiter oder allgemeiner: Stadt und Land zerlegt.

Dass wir dieses Problem vor allen anderen lösen müssen, wenn die Schweiz leben soll, ist heute sozusagen jedem Kind klar.» Heute offenbar vor allem noch den Jusos. Die «grossen Gegensätze» sind ja auch – allerdings nicht in Statistiken sozialer Ungleichheit – bis zur Unkenntlichkeit verwischt. Heute rufen VertreterInnen der Elite mit Rückhalt bei der Bauernpartei die Unteren zum Aufstand gegen die Classe politique auf. Auch Klassenkampf wird für sich beansprucht.

Klassenkampf: Zu diesem Begriff suchen die Medien das Geplänkel mit der SP. Auch dazu fand Ragaz in Die Neue Schweiz bereits vor hundert Jahren die notwendigen Worte: «Der Klassenkampf selbst und die Klassenkampflosung müssen aufs schärfste unterschieden werden. (…) Die bürgerliche Gesellschaft kämpft von ihrer Entstehung an ihren Klassenkampf und wendet dazu alle Mittel der Macht und Gewalt an, die ihr überreichlich zur Verfügung stehen.»

Die Sozialdemokratie mache den Klassenkampf zu einer Theorie und Losung, betrachte ihn aber «wie den Klassengegensatz und die Klassenherrschaft als etwas zu Überwindendes.» Ohne Gewalt, das war Ragaz heilig in seinem 1917 entworfenen Demokratiekonzept. Aber keine Geiss schleckt den Klassenkampf einfach weg, wenn verkündet wird, dass er doch längst passé sei.

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.