Der Schwarzenbach-Komplex geht uns alle an!

Rohit Jain, 13. September 2020
Neue Wege 10.20

Die Black-Lives-Matter-Bewegung im Sommer 2020 fiel in der Schweiz mit dem Gedenktag an die Ablehnung der Schwarzenbach-Initiative vor fünfzig Jahren zusammen. Wie lässt sich eine kritische Erinnerung an das Gastarbeiterregime als Ausgangspunkt nehmen, um historische Schuld aufzuarbeiten? Und wie wird eine vielstimmige, anti-rassistische Demokratisierung gestärkt?

Vor einiger Zeit fragte ich meine Mutter, was sie am Abend des 7. Juni 1970 gemacht habe. Stirnrunzelnd meinte sie, dass sie und mein Vater Radio hörten, um das Resultat der sogenannten Schwarzenbach-Initiative zu erfahren. Mit der Initiative der «Nationalen Aktion gegen Überfremdung von Volk und Heimat» wollte ihr Anführer James Schwarzenbach den Ausländeranteil von 17 auf 10 Prozent reduzieren und damit über 300 000 Menschen aus dem Land spedieren. Ich weiss nicht, was mich stärker erschauern lässt: die Ohnmacht Hunderttausender, weil sie, wie meine Eltern, existenziell dem Urteil anderer ausgeliefert waren, oder die Anmassung dieser anderen, ein solches Urteil fällen zu können. Mit 54 Prozent der (männlichen) Stimmen wurde die Schwarzen­bach-Initiative knapp abgelehnt. Wie würde die Schweiz aussehen, wenn die Initiative angenommen worden wäre? Obwohl sie abgelehnt wurde, war sie eine Machtdemonstration sondergleichen. Es war klar, wer Herr im Hause war!

Der Abstimmungskampf hat die Schweiz nachhaltig verändert, und der traumatische Moment des 7. Juni 1970 sitzt uns noch in den Knochen. Die Auswirkungen, welche die Schwarzenbach-Initiative und das Gastarbeiterregime auf die knapp eine Million Ausländer*innen und die Schweiz hatten, sind bis heute weitgehend unerforscht und politisch unbewältigt. Die Wunden aus jener Zeit sind dabei mitnichten verheilt. Eine Seconda hat mir erzählt, ihre Mutter habe bis zu ihrem Tod bitter über die Heuchelei der «Schweizer» geschimpft, die den Rassismus der 1960er und 1970er Jahre so schnell vergassen, um dann die Italianità, den italienischen Lifestyle, zu bejubeln. Andere Second@s wollten sich nicht einbürgern lassen, weil sie sich erinnerten, wie sie nicht in Geschäfte eingelassen oder verprügelt wurden. Und dann gibt es noch diejenigen, die als Kinder zum Teil jahrelang vor Behörden und Nachbarn versteckt werden mussten, weil der Familiennachzug verboten war. Diese Geschichten leben unter uns zu Zehntausenden und Hunderttausenden weiter in einem stillen, unbekannten, fein verästelten Archiv dieses Landes.

Warum erinnern – und wie?

2020 machen Medien, zivilgesellschaftliche Organisationen und Gewerkschaften auf den 50. Jahrestag der Ablehnung der Schwarzenbach-Initiative aufmerksam. Als schweizerisch-indischer Secondo sowie als Sozialanthropologe mit Arbeitsschwerpunkten zu Postkolonialismus und Migration freut mich der öffentliche Wille zur Erinnerung an den Abstimmungskampf von 1970. Als junger Erwachsener war es für mich eine Offenbarung, als ich von der Schwarzenbach-Initiative las. Plötzlich hatten meine diffusen Erfahrungen des Nicht-Dazugehörens eine Geschichte. Ich realisierte, dass Rassismus in der Schweiz Tradition hat – genauso wie das Schweigen darüber und das Vergessen. Generation um Generation von jungen Menschen – mit und ohne Rassismuserfahrung – müssen neu erlernen und erfahren, dass Rassismus in der Schweiz «wirklich» existiert.

Die Erinnerung an Schwarzenbach hat eine besondere Bedeutung gewonnen durch die gleichzeitigen welt- und schweizweiten Black-Lives-Matter-Proteste. Genauso wenig wie die historische Ungerechtigkeit im Gastarbeiter­regime hat die offizielle Schweiz ihre koloniale Komplizität politisch anerkannt. Die Statuen von David de Pury in Neuchâtel oder Alfred Escher vor dem Zürcher Hauptbahnhof deuten nur im Ansatz an, wie Schweizer Industrie und Handel vom Kolonialismus profitiert hatten und es bis heute tun. Und auch die Folgen von Völkerschauen, Massenwerbungen für Kolonial­waren, pseudowissenschaftlichen Forschungen über «Rassen» sind bis heute greifbar. Die damit verbreiteten Stereotypen wirken weiterhin in Kinder- und Schulbüchern, an der Fasnacht, aber auch bei Racial Profiling oder bei der Lehrstellensuche.

Das Zusammentreffen des Schwarzenbach-­Gedenkjahres mit der Forderung, koloniale Denkmäler vom Sockel zu stossen, eröffnet eine unerwartete Dringlichkeit, wie Erinnerung, Rassismus und politische Transformation zusammenhängen. Der deutsch-griechische Autor Mark Terkessidis bringt es auf den Punkt: «Das Auftauchen von Erinnerung hat immer auch etwas mit Zugehörigkeit zu tun. Die eigene Erinnerung artikulieren, ins Spiel bringen, zum Einsatz machen, zur Beschwerde nutzen, kann nur, wessen Zugehörigkeit zum Gemeinwesen nicht zur Disposition steht.» Umgekehrt formuliert bedeutet dies, dass ein demokratisches Gemeinwesen die Erinnerung all derjenigen öffentlich verhandeln muss, die es als seinen Teil anerkennt.

Die Spitze des Eisbergs: Schwarzenbach und das Gastarbeiterregime

In den medialen Beiträgen wurde immer wieder betont, dass James Schwarzenbach einer der ersten rechtspopulistischen Medienstars Europas war und die rhetorische Blaupause für den fremdenfeindlichen Kurs der Schweizerischen Volkspartei (SVP) vorgelegt hat. Und tatsächlich: Am 27. September 2020 wurde mit der Begrenzungsinitiative zum x-ten Mal über eine Initiative im Geiste Schwarzenbachs abgestimmt. Dass Schwarzenbach, der erzreaktionäre Rechtsintellektuelle aus gutem Hause, der berüchtigten Initiative den Namen verlieh, ist eigentlich ein Etikettenschwindel. Als er 1968 von der «Nationalen Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat» angefragt wurde, für den Nationalrat zu kandidieren, ergriff er die Chance zu öffentlichem Ansehen, verpackte eine mehr oder weniger bestehende Initiative neu und vertrat diese an Hunderten von Anlässen und Medienauftritten.

Obwohl Schwarzenbach also in den Archiven der Migrant*innen sowie im kollektiven Unterbewusstsein die monströse Gewalt des Gastarbeiterregimes verkörpert, war die nach ihm benannte Initiative nur die Spitze des Eisbergs. Die eigentliche Erbsünde des Gastarbeiterregimes bestand überhaupt in der Rekrutierung von italienischen sogenannten Gastarbeiter*innen ab 1948. Darin manifestierte sich der politische Konsens von Wirtschaft, Staat und Gewerkschaften, die Konjunktur nach dem Zweiten Weltkrieg anzutreiben. Gastarbeiter*innen sollten sich jedoch nicht niederlassen, da sie der «nationalen Eigenart» der Schweiz nicht entsprächen.

Diese vielfältige – antisemitische, anti-Schwarze, antiziganistische und antimigrantische – rassistische Prämisse hatte ihre Ursprünge im Überfremdungsdiskurs vor dem Ersten Weltkrieg. Sie wurde 1917 mit der Gründung der Eidgenössischen Fremdenpolizei und dann 1931 im Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung der Ausländer (ANAG) in­­stitutionalisiert. So schrieb der Berner Staatsrechtler Walther Burckhardt mitten im Ersten Weltkrieg: «Man braucht sich nicht einzubilden, der eigene Volksschlag sei der beste und verdiene a priori den Vorzug vor den anderen, und kann es doch berechtigt finden, dass jeder Volksstamm sich selbst bleiben wolle, d. h., sich fremde Rassen fernhalte, solange er sich als lebenskräftig erweist; es sollte jedenfalls nicht dem Spiel des Zufalles überlassen werden, ob sich heute Hunderte und Tausende von Polen, morgen ebenso viele Russen oder Juden, und übermorgen vielleicht Chinesen und Ma­layen ansiedeln» (zit. nach Jain, S. 82).

Das Rotationsmodell der Nachkriegszeit und insbesondere das berüchtigte Saisonnier­statut verbanden die Überfremdungsangst mit dem Wunsch nach Wirtschaftswachstum in sprichwörtlicher Schweizer Präzision. Das komplexe rechtliche Bewilligungssystem sowie die räumliche Isolation in Baracken und ärmlichen Quartieren fanden eine Entsprechung in den alltäglichen rassistischen Beleidigungen wie «Spaghetti-Indianer», «Gotthard-Tschinggen», «unzivilisierte Fremde» oder «braune Söhne des Südens» oder in den berüchtigten Schildern «Italiener und Hunde verboten», die an Kneipen oder Plätzen prangten. Diese vielschichtige rassifizierte Logik des Ausschlusses bei gleichzeitiger Ausbeutung lässt sich soziologisch durchaus als Segregation bezeichnen.

Der in der Gesellschaft tief verankerte Rassismus zeigte sich auch in der Rolle der Gewerkschaften im Schwarzenbach-Moment. Sie hatten dem Rotationsmodell zugestimmt, um die Konjunktur anzukurbeln, Arbeitsplätze für ihre Mitglieder zu schaffen und gleichzeitig einen Puffer zu haben, falls der Aufschwung zusammenbrechen sollte. Schon ab den späten 1950er Jahren wiesen sie dabei alarmistisch auf die Gefahr der «Überfremdung» hin. Während zwar die Gewerkschaftsspitzen schliesslich gegen die Schwarzenbach-Initiative mobilisierten, blieb das Engagement bis auf Ausnahmen halbherzig und taktisch motiviert. So konnte Schwarzenbach mit seiner antikapitalistischen Rhetorik bei der lokalen Arbeiterschaft punkten, indem er den Unternehmern und ihrer Gier die Schuld zuschob, durch die Rekrutierung von Ausländer*innen Volk und Heimat zu zerstören.

Die Geschichte wiederholt sich: Staatsrassismus und strukturelles Demokratiedefizit

Schliesslich bodigten zwar eine wirtschafts­liberale Offensive, Aufrufe zur Menschlichkeit und die wacklige Solidarität der Gewerkschaften die Initiative. Die Schwarzenbach-Initiative hatte jedoch die Widersprüche eines strukturell rassistischen Systems auf schmerzhafte Weise sichtbar gemacht, in dem Gastarbeiter*innen halfen, Wohlstand für den Schweizer Mittelstand anzuhäufen, aber selbst nicht Teil dieser Gesellschaft werden sollten. Die politische Kritik allein auf Schwarzenbach zu richten, führt insofern in die Irre, als sie die falsche Analyse von damals wiederholt, dass der Rechtspopulismus «das Problem» sei und nicht die Mitte der Gesellschaft und ihre Institutionen, die das unmenschliche Gastarbeiterregime mittrugen und lediglich Stil und Methode von Schwarzenbach in Frage stellten. Mit dem französischen Philosophen Jacques Rancière lässt sich auch für die Schweiz argumentieren, dass in linksliberalen und bürger­lichen Kreisen «Fremdenfeindlichkeit» oft als Irrationalität des Volkes konstruiert wird, die vom Rechtspopulismus geschürt und ausgenützt werde. Dadurch vergewissere sich die staatstragende Mitte jedoch einer kosmopolitischen und sachpolitischen Überlegenheit und entledige sich des Verdachtes eines strukturellen «Staatsrassismus» in Gesetzgebung, Politik, Verwaltung und Öffentlichkeit.

Der Intellektuelle Max Frisch prägte im Vorwort des Buches Siamo Italiani von 1965 die Wendung, die bis heute den Widerstand gegen Schwarzenbach verkörpert: «Wir riefen Arbeiter und es kamen Menschen.» Weniger bekannt sind seine weiterführenden Gedanken im selben Vorwort: «Fremdenhass ist natürlich. Er entspringt unter anderem der Angst, dass andere in dieser oder andere Richtung begabter sein könnten [...]. Das weckt Neid, selbst wenn man der Bessergestellte ist, und Neid ist erpicht auf Anlässe für Geringschätzung. [...] Von Rassenhass in der Schweiz, wie es in den italienischen Zeitungen heisst, würde ich nicht sprechen; Fremdenhass genügt. Das ist keine Ideologie, sondern ein Reflex. [...] Das Ressentiment, dem sie [die Gastarbeiter] vielerorts begegnen, ist natürlich, man spürt noch an den wenig bemittelten und wenig geschulten Söhnen einer grossen Kultur, dass andere uns an Lebensart womöglich überlegen sind; das irritiert» (zit. nach Vecchio, S. 177).

Die humanitäre Solidarität mit den Gast­arbeiter*innen kontrastiert auch beim nonkonformistischen Frisch auf irritierende Weise mit einer verständnisvollen psychologisierenden Erklärung, die sich von einer dezidierten Rassimuskritik abgrenzt. Es ist anzunehmen, dass bei Frisch der Vergleich zum Apartheidregime oder zum System der Rassen­hierarchie in den USA als Vorbild diente, wenn er von «Rassenhass» sprach.

Vergleiche bezüglich der Wirkungsweisen von rassistischen Konfigurationen sind analytisch wichtig und politisch relevant, wie jüngst der Historiker Kijan Espahangizi bezüglich der USA und der Schweiz zeigte. So war das Gastarbeiterregime trotz der ökonomischen Ausbeutung und der Segregation eine andere Form der Herrschaft als etwa das Apartheidregime oder die Sklaverei, die in den damaligen Medien und an Demos oft als Vergleich hinzugezogen wurden. In diesen Fällen stahlen Kolonialisten das Land der Einheimischen und beuteten die Bevölkerung über Jahrhunderte aus. Bilder aus den USA und Südafrika sowie die Erinnerung an die Shoah erlaubten damals, Rassismuskritik in die Schweiz zu holen und die faktische Segregation und gleichzeitige Ausbeutung der Gast­arbeiter*innen zu verstehen und anzuprangern. In der Debatte rund um die Schwarzenbach-­Initiative scheinen die Abgrenzungen wie im Falle von Frisch jedoch den «weissen» Reflex gestärkt zu haben, dass es in der Schweiz keinen Rassismus gäbe. In der turbulenten Zeit des Kalten Krieges, nur knapp zwanzig Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg und der Shoah sowie während der Dekolonisierung, erlaubte diese Haltung eine zunehmende Neutralisierung von historischer Schuld und Verantwortung.

Dass Diskriminierungen von Schwarzen Menschen, People of Color, Menschen mit Migrationshintergrund und fahrenden Lebensformen nichts mit Rassismus zu tun haben, ist in der Schweiz bis heute eine der Grundprämissen der politischen Kultur und des Diskurses über Migration, Minderheiten und Vielfalt. Und wie während der Zeit der Schwarzenbach-Initiative wird heute bei jeder SVP-Überfremdungs­initiative die politische Dramaturgie wiederholt, wonach die Wirtschaft, die Linken und die Gewerkschaften gegen die Rechtspopulisten für eine weltoffene und wohlhabende Schweiz kämpfen.

Diese groteske Wiederholung hat seit fünfzig Jahren zur Folge, dass nach den Gastarbeiter*innen immer neue Minderheiten zur Zielscheibe wurden: ab den 1980er Jahren aussereuropäische Asylsuchende namentlich aus Sri Lanka oder der Türkei, dann in den 1990er Jahren Kriegsflüchtlinge aus Ex-Jugoslawien, nach 9/11 waren es Menschen, die als Muslim*innen markiert wurden, und seither sind es Menschen aus dem Nahen und dem Mittleren Osten und vom afrikanischen Kontinent, die über das Mittelmeer nach Europa flüchten. Etwas bleibt sich in dieser Dramaturgie über die Jahre gleich: Gastarbeiter*innen, Ausländer*innen, People of Color und Schwarze Menschen sind bis auf einzelne Nebenrollen nur als Statist*innen vorgesehen, über die entschieden wird.

Es wird geflissentlich verdrängt, dass die italienischen Gastarbeiter*innen, namentlich die anarchistischen und kommunistischen Gruppierungen, dieses Demokratiedefizit schon früh anprangerten – oder dass gerade italienische Frauen die Frauenrechtsbewegung massgeblich beeinflussten, wie jüngst die Historikerin Francesca Falk aufzeigte. Das Comitato nazionale d’intesa (CNI), ein Zusammenschluss verschiedener italienischer Gast­arbeiterorganisationen, forderte am 5. Mai 1970 in der Zeitschrift Emigrazione von den Schweizer Behörden «ernsthafte Bemühungen, um die Inhalte und Garantien einer Einwanderungspolitik zu definieren, die den Immigranten eine effektive und demokratische Eingliederung in die Gesellschaft ermöglicht, damit diese innerhalb des sozialen Lebens dieselbe Rolle ausüben können, die sie schon innerhalb der Arbeitswelt ausüben» (zit. nach Maiolino, S. 205). Diese Forderung und die Demonstrationen, an denen Zehntausende Ausländer*innen auf der Strasse für ihre Rechte protestierten, waren eine unvorstellbare Schmach für Schweizer Politik und Gesellschaft – und wurden vollständig ignoriert. Bis in die späten 1980er Jahre war es Jahresaufenthaltern verboten, sich politisch zu äussern.

Die viel gelobte direkte Demokratie der Schweiz ist eine Tyrannei der Mehrheit, wie dies der französische Philosoph Alexis de Tocqueville nannte. Wie auch die Juden, die Arbeiterbewegung, Katholiken und Frauen erleben mussten, wirkt sie wie ein exklusiver Club, der zwar denjenigen, die dabei sind, viel Mitbestimmung zugesteht, aber bei der Einlasskontrolle umso strenger ist. Heute haben 25 Prozent der Schweizer Bevölkerung keine oder sehr beschränkte Stimm- und Wahlrechte, und zwar nicht, weil die Migrationsbevölkerung so schnell zunimmt, sondern weil die Einbürgerungsschranken europaweit mit die höchsten sind.

Kampf gegen das Schweigen und die «weisse Weste»

«Sehr geehrte Frau Bundesrätin Sommaruga, Ich schreibe Ihnen, Justizministerin dieses Landes, einen offenen Brief mit einem öffentlichen und politischen Anliegen, das sich in meiner persönlichen Geschichte eingeschrieben hat. Diese Geschichte prägt meine Erinnerung, mein Fühlen und Denken und trotzdem habe ich lange eine ehrliche Sprache dafür suchen müssen, weil die öffentliche und politische Schweiz sich bis heute nicht um eine ehrliche Sprache bemüht.» In einem Brief an die damalige Bundespräsidentin schreibt die Historikerin Paola De Martin über das Leid, das während des Gastarbeiterregimes für Tausende Kinder entstand. Da die Schweiz den Familiennachzug für Kinder von Saisonniers verbot, mussten diese sie zuhause verstecken, um eine Ausschaffung zu verhindern. Diese Geschichte ist heute erforscht und bekannt, wie etwa Bücher von Marina Frigerio oder jüngst von Concetto Vecchio belegen. Trotzdem wurde diese Gewalt nie staatlich anerkannt, geschweige denn gesellschaftlich aufgearbeitet.

Warum interessiert dieses Thema die gesellschaftliche Öffentlichkeit nicht? Ist das allenfalls so, weil Italiener*innen in der Schweizer Demokratie keine eigene Lobby haben? Besteht die Angst vor Reparationszahlungen? Oder wird immer noch davon ausgegangen, dass die Eltern illegal gehandelt haben und daher der Staat keine Schuld trägt? Dies, obwohl die Schweiz willentlich den Familiennachzug verbot, um zu verhindern, dass sich Gastarbeiter*innen niederliessen.

Neben der Aufarbeitung persönlichen Leids, das aus dem Gastarbeiterregime entstand, stellt sich heute die fundamentale Frage nach der Qualität der Schweizer Demokratie: Der Mechanismus des Vergessens blendet die lange Geschichte des Ausschlusses aus. Und der Ausschluss vieler «anderer» Stimmen verhindert eine andere Geschichte. Das aktive Vergessen des historischen Unrechts im Gastarbeiterregime erinnert an den Umgang mit der Rolle der Schweiz während der Shoah und der Dekolonisierung. Wie als erinnerungspolitische DNA der Schweiz befördert die Angst – oder gar das Wissen –, etwas Falsches gemacht zu haben, einen regelrechten Kampf um eine «weisse Weste».

Da die Migrationspolitik seit fünfzig Jahren ein tagespolitischer Dauerbrenner ist, ist nie genug Zeit vorhanden für eine gesamtgesellschaftliche, reflexive Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte. Im Fall kolonialer Komplizität – und seinen Folgen bis zum heutigen Geschäftsmodell Schweiz – ist die Amnesie noch tiefer verankert und wird durch die Vergewisserung des humanitären Engagements der Schweiz immer wieder weissgewaschen. Ohne es zu merken, wiederholen wir die Geschichte.

Für eine multidirektionale Erinnerung

Die Aufarbeitung des «Schwarzenbach-­Kom­plexes» ist ein wichtiger Ausgangspunkt für eine erinnerungspolitische Aktualisierung der Schweizer Demokratie. Denn im Gast­arbeiterregime werden die vielen Gesichter, Kopplungen, Ambivalenzen und Mechanismen des Schweizer Rassismus sichtbar, wie sie bis heute weiterwirken. Die antirassistischen Bewegungen gegen Kolonialismus, Holocaust und Gastarbeiterregime verwiesen seit den 1960er Jahren stets aufeinander und bestärkten sich in der emanzipatorischen Kraft, was heute oft vergessen wird. Ein präziserer Blick würde auch die antiziganistische Politik der Schweiz beleuchten, die in der Katastrophe der «Kinder der Landstrasse» gipfelte, oder die antisemitische Flüchtlingspolitik in der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg. So unterschiedlich diese Rassismen aus heutiger Sicht erscheinen mögen: Sie wurden in der Schweiz durch die gleichen staatlichen Institutionen, wirtschaftlichen Interessen, kulturellen Autoritäten und gesellschaftlichen Eliten organisiert und legitimiert. Und sie haben die Gesellschaft und uns alle gemeinsam geprägt.

Ist es möglich, diese verschiedenen Ge­schich­ten des Rassismus, von Gewalt und Widerstand gemeinsam zu erinnern, aufzuarbeiten und anzuerkennen? Wie kann das geschehen? Ist es überhaupt sinnvoll? Gemäss Michael Rothberg, der zur sogenannten multidirektionalen Erinnerungspolitik rund um Holocaust und Kolonialismus forscht, existiert die Vorstellung einer politischen und moralischen Konkurrenz um die Anerkennung und Erinnerung verschiedener Gemeinschaften. Ein solcher Wettbewerb um Erinnerung, der salopp oft auch als «Opferkonkurrenz» oder gar «Opferhierarchie» bezeichnet wird, blende jedoch die Verflechtungen von Geschichten und Erinnerungspolitiken aus, wie sie die globale Geschichte seit Jahrhunderten prägen. Das Modell einer multidirektionalen Erinnerung verbinde hingegen vielfältige räumliche, zeitliche, politische und historische Kontexte und befreie kollektive Erinnerungsprozesse von exklusiven Identi­täten. Dies erlaube, Formen der Solidarität zu entwickeln, in der kritische historische Erin­nerungen dazu dienen könnten, neue politische Gemeinschaften zu schaffen.

Auf paradoxe Weise birgt der bewusste und unbewusste Kampf um Anerkennung von Erinnerung die Gefahr, das Prinzip von «Teilen und Herrschen», das Rassismus und andere Herrschaftsordnungen prägt, zu wiederholen. Gleichzeitig ist es wichtig, die spezifischen, namentlich Schwarzen Geschichten von rassistischem Ausschluss und Widerstand dagegen in den Blick zu nehmen und anzuerkennen, wie die Historikerin Jovita dos Santos Pinto und die Sozialwissenschaftlerin Stefanie Boulila in der aktuellen Debatte postulieren. Dieser Weg vermag wohl zu adäquateren historischen Analysen und angesichts des Aufkommens der Rechtsextremen in Europa zu wirkungsvolleren antirassistischen Allianzen und demokratischen Visionen führen.

Die grossen Vordenker*innen einer postfaschistischen oder dekolonialen Geschichtspolitik wie Hannah Arendt oder Aimé Césaire waren überzeugt, dass die Gewalt in die moralischen, sozialen und politischen Beziehungen zwischen «Opfern» und «Tätern» eingeschrieben ist – und daher die Beziehungen im Zentrum der Aufarbeitung stehen müssen. Eine gesamtgesellschaftliche Erinnerungs­politik betrifft daher nicht die «Betroffenen», im Sinne der «Opfer», sondern auch die Betroffenen im Sinne von «Tätern» – ohne diese Positionen vorderhand moralisch zu werten. Denn die Geschichte hat bei allen Spuren hinterlassen, wenn auch nicht die gleichen – und insbesondere nicht die gleichen Privilegien, um mit diesen historischen Wunden umzugehen.

Eine restaurative Erinnerungspolitik «von unten» könnte einen Prozess anstossen, um die moralischen, sozialen und politischen Beziehungen zu reparieren, die in der Schweiz seit langem durch die Unterscheidung von «Wir und die Anderen» beschädigt sind. Die Anerkennung der Schuld und der Wahrheit eröffnet demnach einen Raum für reale Begegnung und das Öffnen alternativer Archive und vielstimmiger Wissensvorräte. Dies beinhaltet stets auch die Möglichkeit des Sich-Entschuldigens, des Verzeihens, des Verlernens von Hierarchien und des Versprechens einer gemeinsamen, wirklich demokratischen Zukunft.

Bibliografie

Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht über die Banalität des Bösen. München 1964.

Thomas Buomberger: Kampf gegen unerwünschte Fremde: Von James Schwarzenbach bis Christoph Blocher. Zürich 2004.

Aimé Césaire: Über den Kolonialismus. Berlin 2017 [1950].

Kijan Espahangizi: Wer waren die N***** Europas? Der 50. Jahrestag der «Schwarzenbach-Initiative gegen Überfremdung» in der Schweiz und die antirassistische Protestbewegung in den USA. Juni 2020, in: geschichtedergegenwart.ch.

Francesca Falk: Gender Innovation and Migration in Switzerland. Open Access 2019.

Marina Frigerio: Verbotene Kinder. Die Kinder der italienischen Saisonniers erzählen von Trennung und Illegalität. Zürich 2014.

Rohit Jain: Kosmopolitische Pioniere. Transnationale Subjektivierungsprozesse von «Inder_innen der zweiten Generation» aus der Schweiz zwischen Assimilation, Exotik und globaler Moderne. Bielefeld 2018.

Angelo Maiolino: Als die Italiener noch Tschinggen waren: Der Widerstand gegen die Schwarzenbach-­Initiative. Zürich 2011.

Paola De Martin: Brennende Unschärfe. Offener Brief an Bundesrätin Sommaruga. 21. September 2018, in: institutneueschweiz.ch/de/blog.

Patricia Purtschert / Barbara Lüthi / Francesca Falk (Hrsg.): Postkoloniale Schweiz. Formen und Folgen eines Kolonialismus ohne Kolonien. Bielefeld 2012.

Jacques Rancière: Racism: A Passion from Above. 23.9.2010, in: mronline.org/2010/09/23/racism-a-passion-from-above/

Michael Rothberg: Multidirectional Memory. Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford 2009.

Jovita dos Santos Pinto und Stefanie Boulila: Was Black Lives Matter für die Schweiz bedeutet. In: republik.ch/2020/06/23/was-black-lives-matter-fuer-die-schweiz-bedeutet.

Mark Terkessidis: Wessen Erinnerung zählt? Koloniale Vergangenheit und Rassismus heute. Berlin 2019.

Concetto Vecchio: Jagt sie Weg! Die Schwarzenbach-Initiative und die italienischen Migranten. Zürich 2019.

 

Dieser Text ist eine überarbeitete und gekürzte Fassung eines Texts, der am 26. Juni 2020 auf dem Blog von INES institutneueschweiz.ch erschienen ist.

 

  • Rohit Jain,

    *1978, ist promovierter Sozialanthropologe und ehemaliger Geschäftsführer von INES (Institut Neue Schweiz). Mit dem Theaterschaffenden Tim Zulauf und der Historikerin Paola De Martin hat er die Arbeitsgemeinschaft ké*sarà gegründet, die mit kollektiven Langzeitprojekten eine vielstimmige Erinnerungspolitik in der Schweiz stärken möchte.

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