Mit seinem Wälzer Eine kurze Geschichte der Menschheit hat der israelische Historiker Yuval Noah Harari für Furore gesorgt. Jetzt legt er nach mit Homo Deus. Eine Geschichte von Morgen (München 2017). Hararis Blick in die Geschichte des Homo sapiens, der die Welt erobert, seine Konkurrenten ausrottet und seine tierischen Artgenossen domestiziert oder ausradiert, hat es in sich. Der Homo sapiens erfindet vieles, auch Geschichten, welche sein Leben in einen göttlichen Horizont stellen. Geschichten, in denen sich die Menschen als Geschöpfe Gottes einen den anderen Kreaturen übergeordneten Wert zusprechen und sich eine unsterbliche Seele verleihen. Harari bezeichnet die letzten 70'000 Jahre als «Anthropozän», «das Zeitalter der Menschheit»: «Denn Homo sapiens hat die Spielregeln neu geschrieben. Diese eine Affenart hat es innerhalb von 70'000 Jahren geschafft, das globale Ökosystem radikal und beispiellos zu verändern.»
Die archaischen JägerInnen und SammlerInnen waren dem Historiker zufolge AnimistInnen. Sie kannten keine Kluft zwischen Menschen und anderen Tieren. Erst mit der landwirtschaftlichen Revolution veränderte sich das Verhältnis von Mensch und Tier. Es war nach Harari sowohl eine ökonomische als auch eine religiöse Revolution, insofern zusammen mit neuartigen Wirtschaftsbeziehungen neue Glaubensüberzeugungen entstanden. Letztere degradierten die Tiere zu Nutztieren und gaben sie der brutalen Ausbeutung preis. Die im Zuge der Agrarrevolution entstandenen theistischen Religionen waren davon überzeugt, dass nur Menschen eine unsterbliche Seelehaben, dass die Welt von einem allmächtigen Gott geschaffen wurde, der ihnen die Herrschaft über alle anderen Lebewesen übertragen hat.
Harari unterstreicht, dass Religion nicht mit Götterglaube gleichgesetzt werden darf, sondern vielmehr «jede allumfassende Geschichte ist, die menschlichen Gesetzen, Normen und Werten eine übermenschliche Dimension verschafft». Die wissenschaftliche Revolution der Moderne brachte indes neue, humanistische Religionen hervor. Diese beteten den Menschen an. Sie waren von der Grundüberzeugung getragen, dass der Homo sapiens über einen einzigartigen, heiligen Wesenskern verfüge, welcher Quell allen Sinns und aller Macht im Universum sei. Der Humanismus lehnt den Glauben an einen kosmischen Plan ab und ersetzt diesen durch den Glauben an den freien Willen und die innere Stimme der Gefühle. Das humanistische Hauptgebot lautet: «Gib einer sinnlosen Welt einen Sinn.» Während das Universum zum gottlosen, leeren Raum wurde, erschien die innere Welt «mit einem Mal unermesslich tief und reichhaltig».
Harari sieht die humanistischen Religionen in drei Hauptzweige gespalten: Der orthodoxe humanistische Zweig behauptet, dass jedes menschliche Wesen ein einzigartiges Individuum sei und betont die individuelle Freiheit. Diesem liberalen Humanismus steht der sozialistische Humanismus gegenüber, welcher den Vorrang des Kollektiven unterstreicht. Als dritten Zweig führt er den evolutionären Humanismus an, der sich der natürlichen Auslese verschrieben hat und im Nationalsozialismus zur Extremform kommt.
Die beiden Weltkriege des 20. Jahrhunderts nennt der Autor «die humanistischen Religionskriege». Daraus sei der Liberalismus als triumphaler Sieger hervorgegangen. 2016, so der Neoliberale Harari, «gibt es keine ernsthafte Alternative zum liberalen Pakt aus Individualismus, Menschenrechten, Demokratie und freiem Markt». Nicht ohne anzufügen, dass Religion und Technologie immer einen grazilen Tango tanzen und die neuen Technologien wohl bisher unbekannte religiöse Bewegungen gebären werden.
Die neuen Religionen, welche sich am Horizont der Zukunft abzeichnen, nennt Harari Techno-Religionen. Als zwei Haupttypen unterscheidet er den Techno-Humanismus und die Datenreligion. Während ersterer die Optimierung des Homo sapiens hin zum Homo deus anstrebt, behauptet der Dataismus, «die Menschen hätten ihre kosmische Aufgabe vollendet und sollten die Fackel nun an völlig neuartige Wesenheiten weitergeben». Den Techno-Religionen zufolge könnten Menschen durch Biotechnologie und Computeralgorithmen göttliche Fähigkeiten erlangen – Fähigkeiten der Schöpfung und der Zerstörung. Solche Religionen versprechen Glück, Frieden, Wohlstand und Heil auf Erden.
Laut den Techno-Religionen reichen Veränderungen der DNA und Neuverdrahtungen im Gehirn, um Menschen mit optimierten körperlichen und geistigen Fähigkeiten zu schaffen. Der Homo deus könnte dadurch «Zugang zu unvorstellbaren neuen Sphären» gewinnen und «uns zu Herren der Galaxie erheben». Harari hält fest, dass ein Upgrade des menschlichen Geistes ein kompliziertes und gefährliches Unternehmen ist, welches nur für Eliten in Frage käme.
Einen Schritt weiter geht der Dataismus, der sich auf das Universum der Datenströme bezieht und davon ausgeht, dass irgendwann elektronische Algorithmen biologische Algorithmen entschlüsseln und hinter sich lassen. Hat der Dataismus als neutrale wissenschaftliche Theorie begonnen, so ist er nach Harari inzwischen zur Religion mutiert. Deren oberster Wert sei der Informationsfluss und ihr höchstes Gut die Freiheit der Information – wohlgemerkt: nicht Freiheit der Menschen, sondern der Information. Die Datenverarbeitungssysteme würden durch das Heranwachsen der Ausgangsalgorithmen zu einem Masteralgorithmus derart komplex, dass kein menschliches Gehirn sie mehr begreifen könne. «Am Ende könnte das ‹Internet der Dinge› aus eigenem Recht sakrosankt werden.»
Damit verschiebt sich die Macht weg von Menschen, Parlamenten und Staaten hin zu einer «gottgleichen Technologie», die laut Harari in Verbindung mit «grössenwahnsinniger Politik (…) der Katastrophe Tür und Tor öffnen würde». Angesichts dieses apokalyptischen Szenarios fordert der israelische Historiker zu Recht die kritische Überprüfung der dataistischen Dogmen; er verweist etwa auf die Kritik, dass es zweifelhaft sei, ob sich Leben auf Datenströme reduzieren lässt.
Meines Erachtens bedarf es allerdings auch einer Kritik an Hararis krudem reduktionistischem Naturalismus. Es bedarf einer religionswissenschaftlichen und theologischen Kritik seines diffusen Begriffs von Religion, seines schnoddrigen, selektiven Umgangs mit der biblischen Geschichte und seines Lavierens zwischen Vergötzung und Verachtung der religio-technologischen Revolution.
Geist lässt sich weder auf neuronale Aktivitäten reduzieren, noch Gott zu Daten algorithmisieren. Was Harari bietet und beschwört, ist ein im Silicon Valley in Angriff genommener Selfmade-Gott. Für die biblischen Religionen bedeutet Schöpfung gerade nicht das, was die instrumentelle Auslegung, der auch Harari folgt, daraus ableitet. Es geht in der Genesis nicht um den Auftrag Gottes an die Menschen, sich alles untertan zu machen und damit Herrschaft über die ihnen «unterworfene» Erde auszuüben. Vielmehr beinhaltet Schöpfung als Gottes Geschenk die Verbundenheit aller Lebewesen und den Auftrag, den Garten der Erde, das gemeinsame Erbe der Menschheit zu «bebauen», zu «hüten» und zu kultivieren, damit deren vielfältige Früchte allen zugutekommen können. Von der biblischen Schöpfungsgeschichte her ergibt sich eine ganzheitliche Ökologie, die im Interesse des Gemeinwohls dem Raubbau an der Natur, der Umweltzerstörung und der auch dadurch bedingten Verelendung und Armut entgegentritt.
Das in der Schöpfungsgeschichte gebrauchte Bild der Gottebenbildlichkeit besagt, dass allen Menschen eine
fundamentale Gleichheit zukommt, ob Säugling oder Greisin, Mann oder Frau, Einheimischer oder Migrantin, Intelligenzbestie oder zerebral Gelähmter. Dies widerspricht dem Wahn vom Übermenschen sowie dem Drang nach Selektion. Gottebenbildlichkeit spricht allen aufgrund ihres Menschseins eine unantastbare Würde zu. Die Genesis erkennt in uns Menschen zugleich inkarnierte, körperliche Wesen, die verletzlich, fehlbar und vergänglich sind. Dass wir «Staub» sind und «zum Staub» zurückkehren müssen, bleibt ein Stein des Anstosses für Techno-Religionen, die den kurzlebigen, kohlenstoffbasierten Körper durch ein extrem haltbares, lithiumbasiertes Substrat ersetzen wollen.
Von Harari völlig ausgeblendet wird die prophetische Kritik. Sie spielt in der biblischen Tradition eine entscheidende
Rolle. Die Propheten können als «die Erfinder der Praxis der Gesellschaftskritik» (Michael Walzer) gelten. Prophetische Kritik richtet sich gegen politisches, ökonomisches, gesellschaftliches und religiöses Unrecht, gegen Ausgrenzung und Ausbeutung. Im Namen des schöpferischen, befreienden und rettenden Gottes denunziert sie das Leid, das Menschen angetan wird. Sie macht sich für ein Zusammenleben stark, in dem Recht herrscht und die Güter der Erde solidarisch geteilt werden. Prophetische Kritik wendet sich immer auch nach innen, an die eigene Gemeinschaft. Sie klagt die darin geschehende erbärmliche Ausbeutung und das himmelschreiende Unrecht an; und sie klagt Gerechtigkeit ein.
Wenn im Übrigen der Cyberspace allgegenwärtig, allwissend und allmächtig wird, also göttlich, dann tragen wir alle tagtäglich unser Scherflein dazu bei: durch die willentliche Virtualisierung, digitale Verbreitung und elektronische Vernetzung unserer Daten. Sind unterdessen Google unser Gott und Larry Page sein Prophet?
*1953, studierte in Münster und Frankfurt Theologie und Philosophie.
Er ist emeritierter Professor für Fundamentaltheologie an der Universität Luzern. Bei dem hier publizierten Text handelt es sich
um einen überarbeiteten Auszug aus seiner Abschiedsvorlesung Welche Zukunft wollen wir? vom 24. Mai 2017.