Im Schreiben habe ich eine Heimat gefunden
Marilyn Umurungi, 3. August 2022
Neue Wege 7/8.2022
In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel heisst der Debütroman der Autorin Samira El-Maawi. Eine Zehnjährige erzählt darin von der Sehnsucht, zu Hause zu sein, und davon, wie zerbrechlich und fragil die Welten sind, in denen sie lebt: Rassismus, Ausgrenzung und Fragen nach der eigenen Identität begleiten die Protagonistin. Die Geschichte ist fiktiv, und doch ist nichts darin erfunden. Im Gespräch mit Marilyn Umurungi erzählt Samira El-Maawi, wie schwierig es war, Distanz zu ihrer eigenen Geschichte zu schaffen, und warum jeder Text, ganz egal welcher Gattung, «immer geprägt ist vom Blick auf die Welt der Person, die ihn schreibt».
Marilyn Umurungi: Dein Buch erschien während des Höhepunkts der Black-Lives-Matter-Bewegung, die unter anderem eine Verschärfung von Anti-Rassismusgesetzen fordert. Obwohl deine Figuren strukturellen Rassismus erleben und auch darüber wütend werden, ist Wut nicht das dominierende Gefühl im Roman. Hast du dich bewusst dazu entschieden?
Samira El-Maawi: Mich beim Schreiben nicht von Wut leiten zu lassen, war mir wichtig. Als auch von Rassismus Betroffene hatte ich während des Schreibens schon Momente, in denen ich traurig und auch wütend war. Es war fast so, als würde ich einzelne Schichten abschälen, um zum Kern der Geschichte zu gelangen, zur Essenz, die einfach so dastehen kann, losgelöst von meinen Gefühlen. Das war nicht immer einfach, aber letztendlich war es mir wichtig, die Geschichte so zu transferieren, wie sie jetzt im Buch steht. Ich habe beim Schreiben darauf geachtet, dass ich nicht anfange, moralisierend zu sein oder die Leserschaft gezielt in eine Richtung zu lenken. Ich habe darauf vertraut, dass man auch so lesen kann, was zwischen den Zeilen steht. Das ist eine der Herausforderungen, die ich mir als Autorin stelle, und es gefällt mir, dass ich mir diesen Spielraum nehmen und ihn den Lesenden geben kann. Die Wut – oder besser gesagt, eine klarere Haltung – habe ich anderswo rausgelassen, indem ich zum Beispiel Kurztexte mit klar politischen Positionen verfasst und veröffentlicht habe.
Nun kann, unabhängig davon, ob du das wolltest oder nicht, das Buch aber auch politisch gelesen respektive diskutiert werden. Hast du dich jemals gefragt, wie du dazu stehen würdest?
Als ich dieses Buch schrieb, habe ich mir nicht explizit darüber Gedanken gemacht, ob das Buch zu politischen Diskussionen führen würde und ob ich dann dazu auch Stellung nehmen will. Erst im letzten Jahr habe ich den Mut gefunden zu sagen: «Doch, dieses Buch ist auch ein politisches Buch!» Heute spüre ich eine Dringlichkeit, meine Erfahrungen zu Rassismus so zu erzählen, wie sie sich für mich anfühlen. Ganz gleich, ob ich autobiografisch oder fiktional schreibe. Vielleicht werde ich in ein paar Jahren andere Themen aufgreifen.
Eines der Hauptthemen im Buch ist Rassismus. Wie gingst du, als selbst von Rassismus Betroffene, beim Schreiben mit deinen Erinnerungen um? Woher wusstest du, welchen Erinnerungen du trauen kannst?
Das ist eine spannende Frage, vor allem im Zusammenhang mit Rassismus. Zum einen habe ich viele Bücher zu Rassismus gelesen. Betroffenen ihre Gefühle abzusprechen, ist ein inhärentes Merkmal von strukturellem Rassismus. Durch die Recherchearbeit – Interviews mit Schwarzen Menschen und People of Color – habe ich erfahren, dass ich mit meinen Emotionen nicht allein bin, und habe mich darin bestätigt gefühlt. Ich kann meinen Erinnerungen trauen. Das liess ich in die Konzeption des Romans miteinfliessen.
Im Prolog deines Buches steht, dass die benutzten Begriffe so zu verstehen sind, wie sie in der Schweiz in den 1980er Jahren verwendet wurden. Du nutzt beispielsweise den Begriff «Integration». Historisch gesehen hiess Integration in der Schweiz, dass sich Menschen in der Diaspora an die dominante Mehrheitsgesellschaft anpassen und damit auch ihre Identität unsichtbar machen, quasi sich «auslöschen» mussten. Benutzt du persönlich den Begriff «Integration» heute noch und was bedeutet er für dich?
Ich benutze den Begriff noch, aber ich merke, dass er mich stört. Ich habe für mich noch nicht genügend reflektiert, was mich an ihm stört oder warum genau er mich stört. Für mich hat er sehr viel mit Macht und Abhängigkeit zu tun. Das habe ich in meiner aktuellen Recherchearbeit zu Migration herausgefunden. Ausserdem trägt er auch fremdenfeindliche Komponenten in sich. Aber ich muss zugeben, ich schwebe etwas im luftleeren Raum mit diesem Begriff. Ich merke, dass ich ihn eigentlich nicht mehr benutzen will.
Die afrodeutsche Dichterin und Aktivistin Audre Lorde schrieb, dass Schreiben für sie eine Form der Selbstsorge und Selbsterhaltung ist. Was bedeutet Schreiben für dich? Kannst du dich mit Lordes Beschreibung identifizieren?
Ja, auf jeden Fall! Ich habe mir das Schreiben zur zweiten Heimat gemacht. Auf das Schreiben kann ich immer zurückgreifen, selbst dann, wenn ich mich entwurzelt fühle. Die Sprache und das Schreiben machen auch meine Identität aus. Sprache macht mich, sozusagen! Sie zeigt mir, dass ich da bin, dass ich eine Stimme habe und dass ich etwas zu sagen habe.
Sprache zeigt mir, dass ich da bin, dass ich eine Stimme habe und dass ich etwas zu sagen habe.
Wenn ich Schreiben als Handwerk nütze, um mich zu ermächtigen, dann hat es etwas Selbstheilendes. Aber ich erforsche damit ja auch die Welt, schaffe Figuren, Kontexte und Zusammenhänge – für mich, aber auch für andere. Ich schreibe schon sehr lange und habe durch das Schreiben meine Sprache gefunden: die Sprache, die ich brauche, um mich als Schwarze, queere Autorin zu zeigen.
Magst du mir zum Schluss noch verraten, in welche Felder es dich für dein nächstes Projekt treibt?
Wie gesagt, stecke ich mitten in Recherchearbeiten zu Migration und den Erfahrungen von geflüchteten Menschen. Ich gehe Mechanismen der sozialen Unterdrückung nach, erforsche Privilegien und auch, wie «Helfen» im Asylbereich Grenzen überschreiten kann. Mich interessieren dabei vor allem die Kinderperspektiven und die Beziehungssysteme, in denen Menschen, die zwei verschiedene Herkünfte haben, zusammenkommen. Ich frage mich, welche Rolle Macht und Abhängigkeit darin spielen.
Samira El-Maawi: In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel. Zürich 2020.
● Samira El-Maawi, *1980, arbeitet selbständig als Autorin und Schreibcoach und ist psychologische Beraterin i. A. Das Hörstück Schnee wurde für den nationalen Wettbewerb beim SONOHR Radio & Podcast Festival 2020 nominiert. Ihr Buch In der Heimat meines Vaters riecht die Erde wie der Himmel (Zürich) erschien 2020.
Marilyn Umurungi,
*1985, ist freischaffende Poetin und Aktivistin. Zurzeit forscht sie am Zentrum für Afrikastudien der Universität Basel und kuratiert Ausstellungen.