Wie funktioniert Antisemitismus in Bildern? Welche Rolle spielt das Christentum dabei? Werden heute antisemitische Bilder verwendet, wird dabei jeweils auch direkt auf ein kollektives kulturelles Gedächtnis zurückgegriffen. Es existiert ein kulturelles Archiv aus Symbolen, die zwar nicht immer mit antisemitischer Absicht reproduziert werden, die aber dennoch mit herabsetzenden Darstellungen von Juden*Jüdinnen und dem Judentum in Verknüpfung stehen. Vom Christentum wurde während seiner gesamten Geschichte ein ganzes Arsenal antijüdischer Bilder hervorgebracht. Denn lange war christliche Theologie, und sie ist es teilweise noch immer, mit einem gedanklichen Mechanismus verknüpft: der Abgrenzung vom Judentum, um sich als neuere, bessere Religion darzustellen. Damit einher geht die Konstruktion des Jüdischen als das Andere. Dies machte die Abgrenzung vom Judentum zum Fluchtpunkt von sämtlichen Bibelauslegungen und theologischen Gedankengängen und führte zu einer spezifischen Bebilderung des Verhältnisses von Christentum und Judentum sowie der Herabwürdigung des Judentums als Vorgängerin der christlichen Religion. In meiner Arbeit für das «Projekt Bildstörungen» lerne ich Theolog*innen kennen, die sich seit Jahrzehnten für die kritische Reflexion antijüdischer Theologie und einer möglichen (Ent-)Störung antisemitischer Bildsprache einsetzen, die der Mächtigkeit des «kollektiven Bilderarchivs» ihre Wirkung entziehen soll. Die Notwendigkeit dessen zeigt sich in der ständigen Präsenz christlicher antijüdischer Bildsprache, die sich auch in sogenannten säkularen Zusammenhängen wiederfindet.
Wie tief das Christentum von judenfeindlichen Traditionen geprägt ist, zeigt sich beispielsweise in der vielfachen Sichtbarkeit in und an Kirchgebäuden. Die steinernen Fresken sind eine Versinnbildlichung, wie fest antijüdische Bildsprache in die Kirchengeschichte und christliche Theologie «eingehauen» sind. Ein weitverbreitetes Bild, das Zeuge der Einschreibung von Antijüdischem in christliche Kultur ist, ist die Gegenüberstellung der «Synagoga» und der «Ecclesia» – ein Bildnis zweier Frauenfiguren, das sich bis heute an vielen Kirchgebäuden findet, prominent zum Beispiel am Strassburger Münster. Die Abgrenzungswünsche und der Hochmut des Christentums gegenüber dem Judentum und die antijüdische Bildsprache sind darin mehr als deutlich: Die christliche «Ecclesia» steht triumphierend da, als königliche Frau, trägt eine Fahne mit Kreuz und einen Kelch. Die jüdische «Synagoga» hat verbundene Augen und trägt eine zerbrochene Lanze. Das massgebliche Motiv zur Darstellung der «Synagoga» ist eine Augenbinde, die die «Blindheit» des Judentums gegenüber der «neuen, frohen» Botschaft symbolisieren soll. «Blindheit» fungiert hier also «als Negativmetapher für Nichtverstehen und Nichterkennen»1. Der katholische Theologe Rainer Kampling schreibt: «Im Verlauf der ersten vier Jahrhunderte des Christentums entwickelte sich ein Arsenal antijüdischer Polemik und Pejorative und ein System des Antijudaismus, das gleichsam reflexhaft abgerufen werden konnte. Wichtigste Bestandteile waren die Behauptung des Ungehorsams gegen Gott und der Verstockung bzw. Blindheit gegen den wahren christlichen Glauben [...].»2
Ein weiteres zentrales Motiv in der Darstellung der «Synagoga» am Strassburger Münster sind die Gesetzestafeln, die diese Frauenfigur hält. Die Identifizierung des Judentums mit dem Gesetz und alttestamentarischem Gesetzesglauben ist eine weitere Folie, die sich das Christentum in seiner Theologiegeschichte zugunsten einer Selbstidealisierung geschaffen hat. Während der jüdischen Tradition ein starres, verbohrtes Festhalten am Gesetz zugeschrieben wird, schreibt man sich selbst einen freieren, menschlicheren Umgang mit Regeln und Normen zu. Die eigene Freiheit auf Kosten eines «Anderen» zu proklamieren, das jüdisch konnotiert ist, ist eines der stereotypen antijüdischen Motive, welche sich bis heute in der Theologie und der religiösen Praxis finden. Auch die säkulare Bildsprache hat es in sich aufgenommen, sei es im Bild des Pharisäers, des Moses oder eben der Gesetzestafeln.
Die Motive der in Stein gehauenen und unbeweglich scheinenden Figuren sollten weder so missverstanden werden, dass die Wirkweise von christlichem Antisemitismus in der Vergangenheit zu verorten wäre, noch dass sie gebrochen werden könnte, indem judenfeindliche Fresken und Schmähplastiken abgenommen oder ins Museum verbannt werden. Religiöser, christlicher Antisemitismus wird gern als etwas Vergangenes verstanden; etwas, das zwar an Kirchgebäuden zu besichtigen ist, für aktuellen Judenhass aber nicht mehr ins Gewicht falle. Säkularer Antisemitismus sei es, dem ob seiner gegenwärtigen Schlagkraft präventiv entgegengewirkt werden solle. Die Trennung von säkularem und christlichem Antisemitismus ist aber eine Konstruktion. Sie verhindert das Verständnis von Judenhass im aktuellen Geschehen. Christliche antijüdische Bildsprache findet sich nicht nur in christlichen Kontexten, sondern ist auch in säkularen wirksam, indem sie angepasst und transformiert wird. Ich werde hier exemplarisch zeigen, wie das Motiv des «Gesetzes» und die theologischen Logiken dahinter nicht nur weiterhin in christlichen Bildungskontexten und -medien reproduziert werden, sondern sich vielmehr auch in Zeitungskarikaturen als Bildsprache finden. Vor dem Hintergrund der jahrtausendealten judenfeindlichen Geschichte christlich geprägter Gesellschaften erscheint mir die kritische Sensibilisierung dafür unumgänglich und notwendig, um dem kollektiven antisemitischen Bilderarchiv, von dem ich oben sprach, keinerlei Möglichkeit zur bewussten oder unbewussten Weiterverbreitung zu bieten. Wie wichtig Bildungsarbeit ist, die Antisemitismuskritik in Kirche und Theologie übt und im besten Falle auch Strahlkraft in säkulare politische Bildungskontexte hat, wird damit nur umso deutlicher.
Beim Blick in aktuelle Religionsschulbücher, die Einheiten zum Umgang mit Normen oder Regeln entwerfen, zeigt sich Folgendes: Eine Seite – die ich hier lediglich zur Anschauung herausgreife, ohne ein pauschales Urteil über eine oder viele Religionspädagog*innen fällen zu wollen und ohne sie als Quelle anzuführen – ist überschrieben mit «Jesus hat Feinde. Jesus verstösst gegen das Sabbatgebot». Dort ist zunächst die biblische Geschichte aus Markus 3 abgedruckt, in der Jesus mit Pharisäern und Schriftgelehrten eine Diskussion darüber führt, ob am Sabbat eine Heilung stattfinden kann. Der Titel und auch die Aufgaben, die den Schüler*innen unten auf der Seite gegeben werden, lauten etwa so: «Ordne die folgenden Aussagen entweder der Position Jesu oder der Position seiner Gegner zu.» Die dann zur Auswahl gestellten Aussagen vermitteln eine mögliche dichotome Aufteilung der Positionen Jesu und «der» Pharisäer, beispielsweise «Gesetze müssen eingehalten werden» versus «Das Wohl eines einzelnen Menschen steht über allem». Implizit – nicht agitatorisch, und ich formuliere hier überspitzt – wird hier, wie in vielen christlichen Kontexten, die «Freiheit» von Christ*innen vor einer dunklen Folie jüdischer Gesetzesstarrigkeit beschworen. Blinde Autoritätshörigkeit und verweigerte Hilfe – für dies alles stehen beispielhaft die Juden und Jüdinnen, besonders die jüdische Gruppierung «der» Pharisäer, deren Gesetzesauslegung zusätzlich in einen Widerspruch zur Ethik Jesu gebracht wird. Jesus erscheint demgegenüber als Vertreter einer Moral, die freiheitlich, flexibel, menschenfreundlich und nächstenliebend ist. Eine sich an seinem Vorbild orientierende christliche Ethik erscheint dann auf Anhieb beinahe aufgeklärt-modern.3 Das Judentum wird jedoch zugunsten einer Idealisierung christlicher Ethik karikiert, um nicht zu sagen missbraucht.
Dies hat eine Relevanz für das Anliegen antisemitismuskritischer Theologie, die sich für die Störung der Reproduktion antijüdischer Bildsprache und Narrative einsetzt.4 Die oben beschriebenen christlichen Theo-Logiken, die ihre Identität an einer Negativfolie des Judentums stärken, werden implizit in christlichen Bildungskontexten weitergetragen – ohne dort zu verbleiben. Umso weniger verwundert es, dass sich entsprechende bildhafte Karikierungen, die sich der eigenen Freiheit auf dem Rücken eines jüdisch konnotierten «Anderen» vergewissern, auch in aktuellen politischen Konstruktionen von Feindbildern finden.
So etwa in einer Karikatur, die 2021 in verschiedenen deutschen Zeitungen veröffentlicht wurde. Sie zeigt Annalena Baerbock, Spitzenpolitikerin der Partei «Bündnis 90/Die Grünen» in Deutschland. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war sie kurz vor der Bekanntgabe ihrer Kanzlerinnenkandidatur im deutschen Bundeswahlkampf 2021, heute ist sie Aussenministerin Deutschlands. Die Karikatur war eine gross angelegte Kampagne der Lobbyorganisation INSM (Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft) und zeigt Annalena Baerbock als Moses in grünem Mantel und mit heroischer Pose auf dem Berg Sinai vor einem roten Hintergrund. Sie hat zwei Gesetzestafeln in der Hand und darauf stehen polemische 10 Gebote, die laut INSM von grüner Politik zu erwarten seien. Die Karikatur trägt den Titel «Wir brauchen keine Staatsreligion». Auf den Gesetzestafeln finden sich die Verbote, Auto zu fahren und zu fliegen, aber auch als 7. Gebot «Du darfst dich nicht in erster Linie auf dich verlassen, der Staat weiss besser, was richtig für dich ist» und als 10. Gebot, das einer Drohung ähnelt: «Du darfst nicht mal daran denken, dass mit 10 Verboten Schluss ist …». Die Karikatur wurde nicht nur dahingehend kritisiert, dass die Verbote nicht mit den Plänen der Grünen übereinstimmen würden. Auch der unreflektierte und fahrlässige Gebrauch antisemitischer Bildsprache wurde der INSM vielfach vorgeworfen – was ist damit gemeint? Das Kampagnenmotiv ist der christlichen Karikierung des Judentums als Gesetzesreligion entliehen, um ihr Feindbild zu beschreiben.5 Die Grünen werden hier als Architekt*innen sinnloser, unnachgiebiger Gesetzgebung moniert, deren Ziel es sei, Menschen zu bevormunden und mehr oder weniger unter diese Gesetze zu unterjochen. Das 7. und das 10. Gebot der Karikatur unterstreichen, dass die INSM die Politik der Grünen hier zum einen als Gegnerin einer freien Wirtschaftspolitik, aber eigentlich als Gegenspielerin von Freiheit und Selbstbestimmung schlechthin imaginiert und propagiert – und damit als Negativfolie ihres offenbaren Selbstverständnisses. Dabei ist es kein Widerspruch, dass Baerbock keine Jüdin ist. Gewollt oder ungewollt ist diese Karikatur ein Rückgriff auf das kollektive antisemitische Bilderarchiv und eine Bejahung von Negativzuschreibungen an Juden*Jüdinnen.
Was haben also eine Zeitungskampagne gegen «grüne» Politik und ein mittelalterliches steinernes Fresko an einer Kirche gemeinsam? Die Antwort ist: Die darin implizierten Selbstverständnisse der Urheber*innen bauen auf der gleichen Negativfolie auf, die die christliche Theologie seit ihrer Entstehung massgeblich prägt und antijüdisch konnotiert ist. Die Bildsprache, die aus dieser Theologie entstanden ist, bildet eine Art «kollektives Bilderarchiv» und prägt nicht nur christlichen, sondern auch säkularen Antisemitismus. Eine antisemitismuskritische christliche Theologie reflektiert also nicht nur, wo das Christentum zu identitären Selbstidealisierungen auf Kosten des Judentums neigt. Sie reflektiert auch, wo sich diese Theo-Logik in Bildern säkularer Kontexte niederschlägt. Und drittens analysiert sie nicht nur christliche wie säkulare Kontexte auf entsprechende antisemitische Bildsprache, sie versteht es auch als Aufgabe, diese an ihrer Wurzel zu erkennen und zu kritisieren. Die Wirkmächtigkeit dieser Bildsprache ist bis heute nicht gebrochen. Sich an der (Ent-)Störung und Kritik dieses «kollektiven Bilderarchivs» zu beteiligen, das auf Kosten von Juden*Jüdinnen und der jüdischen Religion weiter besteht und bewusst wie unbewusst bedient wird, kann so als Aufgabe aller verstanden werden, die sich ohnehin in einem kritischen Verhältnis zur christlichen Religion und ihrer Prägung von Gesellschaft stehen. Eine christliche Theologie und Tradition, die ohne identitäre Abgrenzungswünsche auskommt, profitiert individuell und gesellschaftlich nicht zuletzt selbst davon und kann sich dafür von der beeindruckenden Arbeit einiger jüdischer und christlicher Theolog*innen und Pädagog*innen inspirieren lassen. Daraus entstehen unter Umständen neue in Stein gemeisselte, aber entstörte Bilder: wie das Kunstwerk des amerikanischen Skulpteurs Joshua Koffman «Synagoga and Ecclesia in Our Time» (Synagoga und Ecclesia in unserer Zeit), das seit geraumer Zeit das Bild des Verhältnisses von Judentum und Christentum all derer prägt, die über den Campus der St. Josephs University in Philadelphia spazieren. Es zeigt zwei gekrönte Menschen, die interessiert in die Schrift schauen, die die jeweils andere Person in der Hand hält.●
Vgl. den Vortrag von Marie Hecke aus der Reihe Antisemitismuskritische Bibelauslegungen der Ev. Akademie zu Berlin: Mit Blindheit geschlagen? Intersektionale Zugänge zu neutestamentlichen Heilungsgeschichten, verfügbar online.
Rainer Kampling: Art. Antijudaismus. In: Wolfgang Benz (Hg.): Handbuch des Antisemitismus,
Bd. 3: Begriffe, Theorien, Ideologien, Berlin/New York 2011, S. 10–13, hier S. 11.
Vgl. Ingrid Grill: Art. Ethische/problemorientierte Themen. In: RZP Heilbronn u.a. (Hg.): Religionsunterricht in Israels Gegenwart – Kriterien und Reflexionen, S. 45–48, verfügbar online.
Vgl. zur detaillierten Analyse christlicher Religionsschulbücher Ariane Dihle: Schulbücher als Ort der Reproduktion antijüdischer Narrative. In: BAG K+R/ Projekt DisKursLab (Hrsg.): Störung hat Vorrang! Christliche Antisemitismuskritik als religionspädagogische Praxis, verfügbar online.
Vgl. Thomas Assheuer u. a.: Mit allen Mitteln. Zeit Online vom 15. Juni 2021, verfügbar online.
Karoline Ritter, *1994, studierte Evangelische Theologie, Erziehungswissenschaften und Philosophie in Göttingen und Berlin. Sie ist Mitarbeiterin im Projekt Bildstörungen: Elemente einer antisemitismuskritischen Theologie und Religionspädagogik, das von Prof. Katharina von Kellenbach geleitet wird und an der Evangelischen Akademie in Berlin angesiedelt ist. Sie ist zudem wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Praktische Theologie der Universität Greifswald.