Tarsus liegt knapp 40 Kilometer von der türkischen Grossstadt Adana entfernt. Für den Hunger auf der Fahrt deckte ich mich mit Gözleme und Ayran ein. Ich kam nicht für das Kleopatra-Tor auf der begrünten Verkehrsinsel in der Innenstadt. Auch nicht für die Alte Moschee, die vor Jahrhunderten noch eine gotische Kathedrale war. Weder für das Danyal Makamı, das Mausoleum des Daniel, noch für die Eshab-i-Kehf-Moschee kam ich. Es war ein Märchen, eine Erzählung, die mich rief. Selbst wenn Şahmarans Hamam es nur auf Platz 24 auf TripAdvisor schafft, nach der Shopping Mall (Platz 19) und dem Kino in der Stadt (Platz 23). Şahmaran – lange schon verfolgt mich die Kreatur, halb Mensch, halb Schlange, in meinen Träumen. Nun lief ich das erste Mal mit pochendem Herzen ihre Spuren in Tarsus ab.
Şahmaran herrschte über die Schlangen in der Unterwelt, war weise und kannte Geheimnisse über Kräuter und die Kunst der Heilung. Eines Tages traf ein Mensch namens Cemşid auf Şahmaran. Cemşid suchte Honig in einer Höhle und wurde von seinen Freunden zurückgelassen. Zufällig stiess er auf einen Eingang zum mysteriösen Garten voller Schlangen. Şahmaran stand vor ihm, mit menschlichem Oberkörper und schlangenartigem Rest. Cemşid und Şahmaran verliebten sich ineinander und lebten zusammen, bis Cemşid Heimweh bekam und in seine Heimat zurückkehren wollte. Er ging, unter der Bedingung, niemandem von Şahmarans Lebensort zu erzählen. Das Versprechen konnte er nicht lange halten. Der Sultan war erkrankt. Um gesund zu werden, müsse er ein Stück Fleisch von Şahmaran verspeisen, hiess es. Doch niemand kannte das Versteck, ausser jenen, die Şahmaran begegnet waren und deren Haut deshalb in öffentlichen Bädern wie Schlangenschuppen schimmerten. Seine schimmernde Haut soll Cemşid hier in diesem Hamam in Tarsus verraten haben. Nach seiner Entlarvung führte er die Soldaten des Sultans zum geheimen Garten. Şahmaran ergab sich und forderte die Eindringlinge auf: «Teilt mein Fleisch auf. Wer von meinem Kopf isst, wird ewig leben und weise sein, und wer von meinem Schwanz isst, wird sterben.» Der Sultan und seine Gefolgschaft verzehrten gierig den Kopf, und Cemşid griff zum Schwanz. Er wollte sterben, weil er seine Liebe verraten hatte. Doch Şahmaran täuschte sie allesamt. Am Ende lebte Cemşid ewig mit quälendem Gewissen, während alle anderen starben. So die Erzählung, wie ich sie kenne.
Was dann nach Jahrhunderten geschah, kann man sich auf Netflix ansehen. In der türkischen Serie Şahmaran wird die Geschichte in der Gegenwart weitergesponnen. Es geht um Liebe, um Betrug, um Rache und Versöhnung, um die Auferstehung Şahmarans in einem neuen Körper und die Folgen eines Fluchs.
«Şahmaran wird zurückkommen», sagte auch meine Grossmutter, als ich am Abend zurück nach Adana fuhr. Sie ist als Kind mit der Geschichte aufgewachsen und fürchtet sich seit jeher vor der monströsen Figur. «Şahmaran wird kommen, um sich zu rächen, so hat man es uns Kindern gesagt. Erst wird die Bevölkerung von Tarsus, dann ganz Adana vernichtet.» Ich zeigte meiner Grossmutter ein Foto von der Statue, die in Tarsus nicht weit vom Hamam platziert ist. Şahmaran sieht darauf aus wie ein Mann mit Schlangenschwanz. Und auch auf der Infotafel neben dem Eingang des öffentlichen Bades wird Şahmaran als König der Schlangen bezeichnet. Von Liebe ist hier gar keine Rede, sondern von Gefangenschaft, Verrat und einem listigen Cemşid, der nach dem Tod Şahmarans zum Grossen Wesir ernannt wurde. Das ist auch deshalb merkwürdig, weil die Märkte in Tarsus überflutet sind von romantischen Stoffen, Ketten, Ringen und Schlüsselanhängern mit einer Schlangenkönigin: Şahmaran erscheint hier weiblich.
Ich denke, dass beide Varianten zu kurz greifen und das Potenzial dieser Geschichte unterschätzen. Märchen und Legenden leben von den Veränderungen, die sie erfahren. Sie wandeln sich mit der Zeit und wandern von Ort zu Ort, sie funktionieren wie Projektionen, in denen sich gesellschaftliche Verhältnisse und auch Interventionen widerspiegeln. Warum nicht die Geschichte weiterdenken?
Für die Berliner Ausstellung Muslim Futures im Januar 2024 malte die Künstlerin Elif Çelik Şahmaran mit abgetrenntem Krokodilkopf Seite an Seite mit Ischtar, der babylonischen Kriegs- und Liebesgottheit – ein feministisches Gegenbild, das Stigmata brechen und alternative Repräsentationen für muslimische Frauen schaffen will. Auch in der LGBTIQ+-Community in der Türkei taucht Şahmaran auf Demonstrationsschildern als selbstbewusste, mythische Ikone auf, so wie seit vielen Jahren in meinen Träumen, die ich nun auf Papier bringe. Für Das Wetter. Buch für Text und Musik, herausgegeben von Sascha Ehlert und Katharina Holzmann, schrieb ich das Gedicht Şahmarans Testament über Liebe, Begehren und Gott mit religiösen Verweisen und Referenzen zum digitalen Sex-Dating. Der Text ist lyrisches Abbild einer queeren Widerständigkeit und Spiritualität. Für eine Kindergeschichtensammlung, die Josephine Apraku dieses Jahr veröffentlicht, erschuf ich Şahmaran zum Vorbild für ein Kind, das sich als Junge und als Mädchen versteht. Mit Şahmaran lernt es, der Ignoranz aller zu trotzen, die die Welt zweiteilen und einen dazu zwingen, sich für eine Seite zu entscheiden.
Das, was Şahmaran für mich besonders macht, ist, dass er*sie die Grenzen zwischen Mensch und Tier auflöst und tradierte Vorstellungen über Sexualität und Liebe irritiert. Für mich ist Şahmaran Mensch und Schlange, Mann und Frau gleichzeitig – und mehr als das.
Şahmaran nach Europa zu tragen, bedeutet, Gedächtnisse und Erfahrungen aus verschiedenen Geografien und Zeiten miteinander zu verflechten. Vor meinen Augen scrollt Şahmaran auf der schwulen Dating-App Grindr, cruist durch die Nacht, knabbert an Sonnenblumenkernen in der U-Bahn und flüstert Geheimnisse über die Welt ins Ohr, um die allgegenwärtige Heteropropaganda zu untergraben. Wir brauchen solche Geschichten. Nicht weil sie das vermeintlich Unmögliche erträumen, sondern das offenlegen und verteidigen, was bereits existiert.