Kurt Marti baut keine Gedankensysteme. Kurt Marti erzählt Geschichten. Er zeichnet Bilder mit Worten. Er hält fest, was er sieht, hört, liest und denkt. Marti baut keine Systeme, sehr wohl aber denkt er vernetzt. Poesie, Politik, Theologie und Alltag sind für ihn auf vielfache Weise verknüpft und verwoben. Er ist ein wachsamer Beobachter seiner Zeit – und dieser manchmal voraus. Die Sorge um die Umwelt und den menschlichen Umgang mit ihr nimmt Marti bereits in den 1970er Jahren auf. In den unterschiedlichen Textwelten tauchen ökologische Fragen auf, die er in seine theologische, politische und schriftstellerische Denkwelt aufnimmt und bearbeitet. Sie erscheinen im Gedicht als Auseinandersetzung mit dem Atommüll und in der Predigt als sorgsame Auslegung der Schöpfungsgeschichten in Genesis 1,1–2,4a, Psalm 104, oder Römer 8,19–22. Die Fragen erscheinen im Tagebuch als Reflexion über die jahreszeitlich geprägte Natur und die dazu teilweise konträre Politik («Die Bäume rüsten ab, die Armeen auf»1) und in Kommentaren, Aphorismen und der reflexiven Literatur als Bilder für das Geschehen auf der Welt. Martis Sorgfalt im Umgang mit der Sprache und den Begriffen wird in all diesen Auseinandersetzungen sichtbar. Damit geht einher, was verschiedenen Menschen auffiel, die mit Marti verbunden waren: Das Sehenlernen ist eine wichtige Wirkung seiner Texte. Je nachdem, was man um sich herum wahrnimmt, bewertet man unterschiedlich. Und was man wahrnimmt, hängt davon ab, was man sieht und wie man es interpretiert: Als was sehe ich das, was ich sehe? Diese Frage leitet mich beim Lesen von Kurt Martis Texten.
Aus der Menge an Texten, in denen Marti ökologische Fragen bearbeitet, habe ich einen ausgewählt, der das Thema zwar in einer religiösen Form, aber nicht für ein rein religiöses Publikum behandelt: Sunt lacrimae rerum. Oratorium für den Planeten des Lebens.2 Er war zwar für eine Aufführung in einer Kirche geschrieben, zielte aber doch auf eine öffentliche Wirksamkeit. Heute ist der Text relativ schlecht zugänglich. Die Autor*innen Dorothee Sölle, Kurt Marti und Adolf Muschg haben dieses Werk zusammen mit dem Komponisten Daniel Glaus, mehreren Chören, Instrumentalist*innen und Solist*innen Ende November 1989 im Berner Münster zweimal aufgeführt. Die Texte lassen sich eindeutig einer*m Autor*in zuordnen, die Musik verbindet sie zu einem Ganzen. Das Oratorium ist eine künstlerische Darstellung ökologischer Fragen: die Schöpfung der Welt und ihre Beseeltheit, der Mensch und sein Einfluss auf den Planeten des Lebens sowie die (politische) Verantwortung des Einzelnen, die daraus entsteht.
Das Oratorium beginnt mit den Versen 1–4 aus Psalm 130 in seiner lateinischen und deutschen Fassung. Darauf folgt der Text zur Erde, von Kurt Marti verfasst:
Zuerst vielleicht: grenzenlose Stille.
Jäh dann: Urknall, Geburtsschrei der Zeit! Und Myriaden ausschwärmender Moleküle, Raum öffnend ins Unermessliche.
Vielleicht: Spiralwirbelnde Gase, die sich zu glühroter Materie verdichten.
Vielleicht: Explosionen Implosionen, Zusammenprall blind rasender Gestirne, vulkanische Exzesse.
Vielleicht: eine stille Mitte im Orkan der Materie. Und in der stillen Mitte Gottes Weisheit. Und die Weisheit hatte eine Vision irgendwo im gewaltigen All eine kleine Oase des Lebens, wo Gespräche und Liebe erblühen.
[…] Und die Weisheit erwählte die kleine Erde zum Planeten des Lebens.
Marti richtet in seiner ersten Strophe die Aufmerksamkeit auf die unvorstellbaren Vorgänge zur Geburtsstunde von Welt und Zeit. Die Erde ist nicht «Umwelt», sondern «Mitwelt» oder eben, wie hier: «Planet des Lebens». Bereits Jahrmillionen vor der Entstehung ersten Lebens ist der Planet durch die schöpferische Weisheit Gottes zur besonderen Verantwortung für das Leben erwählt. Die Erde ist der Boden für Gespräche und Liebe. Marti bereitet die Bühne für die Auseinandersetzung mit der Verantwortung des Menschen für die Welt mit einem Blick zurück. Er beginnt nicht bei «Adam und Eva», sondern noch viel früher. So gibt er dem Planeten des Lebens eine Geschichte mit einem Zweck und damit ein eigenes Gesicht. Der Planet erhält seine Stellung unabhängig vom Menschen.
Marti erinnert mit diesem Einstieg ins Oratorium daran, dass das Nachdenken über ökologische Fragen immer eingebettet ist in ein bestimmtes Verständnis der Erde. Er selber beschreibt die Erde als Haus, das eingerichtet wird und somit Raum für die Hausgemeinschaft alles Lebendigen bietet.
Das Einrichten des Hauses für alles Leben geschieht bei Marti lustvoll durch die Weisheit Gottes. Sie formt den Planeten des Lebens, auf dem das Atmen beginnt. Der Mensch erscheint – entsprechend der ersten Schöpfungsgeschichte in der Bibel – nach den Pflanzen und Tieren. Im Gegensatz zur biblischen Geschichte beschreibt Marti den Menschen aber nicht als «nach Gottes Bilde» geschaffen, sondern gibt den Bäumen eine Vorbildrolle für die Menschen:
Und dann, zu Beginn des Quartärs: Menschen, sich aufrichtend nach dem Beispiel der Bäume.
Marti macht den Menschen zur den Bäumen nachgeordneten Vergleichsgrösse. Diese vermeintliche Umkehrung steht für Marti am Anfang des Auftretens der Menschen in der Erdgeschichte und ist Ziel seines Verständnisses von Ökologie.
Marti hebt in den ersten Abschnitten der Beschreibung des Lebens den Menschen nicht vom anderen Leben ab. Der Mensch nimmt Teil am «zarten Wunder des Atems», wie dies für Tiere, aber auch für die Meere, Gebirge, Pflanzen und Bäume gilt. Alle atmen sie, und aus diesem Atem entsteht die Zeit und damit eine Grenze. Und alles Lebendige erhält seinen Raum und damit eine weitere Grenze.
Doch dann erzählt Marti von einer Eigenschaft des Menschen, die nicht zugleich dem restlichen Leben zugeschrieben werden kann. Der Mensch findet Worte, und die Weisheit Gottes jubelt:
«Sie sprechen!
Mitten im schweigenden All wird gesprochen,
suchen Gefühle, Gedanken nach Worten.
[…] Ihr Menschen, ja ihr sollt fortan meine Oase des Lebens hüten und pflegen!»
Und freudig zog sie [die Weisheit] dem Tun der Menschen so weite Grenzen wie keinem anderen Geschöpf sonst.
Marti hebt die Sprachfähigkeit des Menschen heraus als Grund für den Auftrag Gottes an die Menschen. Nach den bisherigen Abschnitten irritiert mich dies als Leserin, da er es zuvor vermieden hat, anhand von Eigenschaften Grenzen zwischen dem Lebendigen zu ziehen. So wurden sogar Berge und Meer durch die Teilhabe am Atem Mitglieder der Hausgemeinschaft des Lebendigen. Nun aber zieht Marti eine Grenze: Die Sprache weitet die Grenzen für die Menschen. Dieses Vorgehen erinnert an die Anfänge der Umweltethik, als versucht wurde, der Natur über bestimmte Eigenschaften einen bestimmten moralischen Status zuzuschreiben. Marti hat aber einen anderen Weg eingeschlagen, als er den Wert des Planeten des Lebens mit seiner Erzählung anerkennt. Dass er die Sprache des Menschen heraushebt, deute ich daher im Zusammenhang mit seiner eigener Spracharbeit: Sprache bringt Verantwortung mit sich.
Dass diese Verantwortung auch nicht wahrgenommen werden kann, zeigt der nächste Abschnitt. Der Jubel über die menschliche Sprachfähigkeit und der Auftrag an den Menschen, die «Oase des Lebens» zu hüten, ist ein Wendepunkt. Bis hierhin dominiert die Freude über das Entstehen, Ordnen, Atmen und Leben. Bis hierhin beschreibt er, wie die Welt entstand und ist. Wie Leben sie prägt und durchtrieft, bis zuinnerst in ihrem heissen Kern. Der Auftrag an den Menschen bringt den Menschen selbst in den Fokus und bildet damit den zweiten Kristallisationspunkt von Martis ökologisch-theologischen Reflexionen.
Am Ende des Schöpfungsteils des Oratoriums finden die Menschen zur Sprache – und mischen sich sogleich ein. Sie fragen:
Wärs vielleicht besser gewesen, die sensiblen Elefanten zu Hütern der Lebensoase zu machen?
Oder die klugen Delphine?
[…] Wir aber, du siehst ja, wie feindselig wir umgehen mit allem, auch mit uns selber.
Nach grenzenlosem Gewinn jagend, erpressen und foltern wir deinen Planeten des Lebens bis ins Kleinste hinein. Zellkerne, Atomkerne spaltend.
Wir, selber gespalten, Täter und Opfer zugleich.
Der Mensch und sein ambivalentes Wesen ist ein wiederkehrendes Thema in Martis Auseinandersetzung mit der Schöpfung. Er reflektiert die Differenz zwischen dem, wie er den Menschen als von Gott gedacht versteht, und der von ihm beobachteten Lebensweise von Menschen in seinem Kulturkreis. In der Predigtreihe über den Schöpfungsglauben widmet er zwei Predigten dem sogenannten «Herrschaftsgebot» und betont die von Gott damit verbundene Verantwortung anstelle des Eigenwillens des Menschen. In weiteren theologischen Texten spricht er vom Menschen als «Schwachstelle der Schöpfung», als «Risikogeschöpf» – wenn er auch zugleich Gottes «kühnster Entwurf»3 ist, was die Ambivalenz unterstreicht. In den Kolumnen der Zeitschrift Reformatio schreibt Marti: «In Wahrheit ist das ökologische ein anthropologisches Problem. ‹Wir sind die Ursache aller unserer Hindernisse› (Meister Eckhart)»,4 oder gut zehn Jahre früher: «An weiteren Beispielen für die Unlösbarkeit mancher heutiger Probleme mangelt es nicht. Die Klimaerwärmung z. B., die Entsorgung hochradioaktiver Abfälle auf Zehntausende von Jahren hinaus. Der Mensch, könnte man definieren, ist dasjenige Wesen, das sich Probleme schafft, darunter solche, die es nicht zu lösen vermag. Darin besteht die Grösse und das Elend des homo sapiens, der zugleich ein homo faber ist.»5
Für das nichtgelöste Problem des Menschen gäbe es in der christlichen Theologie dank Christus Erlösung; doch wie Marti feststellt, hat sich das Reich Gottes trotz dieser Intervention noch nicht vollständig durchgesetzt. Im Oratorium beschreibt er den jetzigen Zustand vor dem Hintergrund der biblischen Geschichte vom Turmbau zu Babel. Die Männer, die Grossen der Welt, die Christen, die Forscher, die Techniker – sie alle haben einen Plan, wie sie die Welt unterjochen können. «Und die Normalverbraucher sprachen: Auf, lasst uns die Früchte des Fortschritts geniessen! Er hat die Erde grenzenlos und ihre Energien verfügbar gemacht!» Marti versteht den Menschen nicht grundsätzlich als böswilliges Wesen, sondern als eines, das nicht oder falsch versteht, weil es die Welt falsch interpretiert. Wie Adam und Eva im Paradies nicht aus Böswilligkeit, sondern aus Unwissenheit nach der Frucht gegriffen haben, versteht auch der heutige Mensch nicht, wo seine Grenzen sind, was sein Auftrag und seine Verantwortung sind. Nicht Fortschritt bräuchte der Mensch nach Marti; denn der Fortschritt ist zwar süss, doch lauert in ihm auch die Gefahr, dass der Mensch sich vom Zustand entfernt, der für ihn geschaffen gewesen wäre. In diesem Abschnitt, in dem die problematische Seite des Menschen herausgestellt wird, wirkt Marti sehr kulturkritisch. Der militärische, technische oder wissenschaftliche Fortschritt steht dem Menschen im Weg. Er gaukelt ihm vor, seine Verantwortung gehe einher mit der Macht, gegebene Grenzen und seine der Natur nachgeordnete Stellung missachten zu dürfen. Optimistischer erscheint die menschliche Fähigkeit zu Fortschritt beispielsweise bei heutigen Klimaaktivist*innen: Sie sehen den Menschen zwar als Risikogeschöpf, das verantwortlich ist für zu viel CO2-Ausstoss – gestehen ihm aber zugleich zu, dass es diesen auch steuern kann. Sie sind zwar verantwortlich für das Problem, können es aber auch lösen. Die Technik spielt ihre Rolle im Problem und in der Lösung. Für Marti braucht es für die Lösung einen weiteren Akteur: Es braucht Gott, der herniederkommt auf die Erde, um das Treiben der Menschen zu betrachten.
Und Jahwe erschrak.
Und Jahwe sprach: Wird das Tun der Menschen hinfort keine Grenzen achten?
[…] Und Jahwe sprach: Fast reuts mich, die Menschen geschaffen zu haben. Ins Grenzenlose geht ihre Gier. Sie verwüsten die Lebensoase im All.
Und die Weisheit sagte: Sind Täter und Opfer zugleich.
Und Jahwe sprach: Zuletzt werden sie nur noch Opfer sein.
Bei Marti braucht der Mensch Gott. Er ist für ihn in Bezug auf die ökologische Thematik «sprachlicher Ausdruck des Staunens darüber, dass es auf diesem Planeten Leben gibt, immer noch gibt, und wir teilhaben dürfen an ihm»6.
Für Marti ist das, was um ihn herum geschieht, immer wieder Anregung, um über Ökologie nachzudenken. In den 1970er Jahren war es die Sorge um die Kräfte und die Zerstörung, die mit der Atomenergie freigesetzt werden können – und die Frage nach dem Müll, den sie hinterlässt. Ein Jahrzehnt später kam das Waldsterben dazu. Und wieder ein Jahrzehnt später erhielt die Frage nach dem Individualverkehr Gewicht, weil realisiert wurde, wie stark die Abgase von Autos und Flugzeugen den «Planeten des Lebens» verändern.
Im Oratorium ist die Auseinandersetzung mit der Frage, wie es weitergehen kann mit diesen ambivalenten Menschen auf dem Planeten des Lebens, Dorothee Sölles Aufgabe. Im letzten Teil des Oratoriums, das den Psalm 130, nun auch mit den restlichen Versen 5–8, wieder aufnimmt, fragt sie nach der Möglichkeit von Tränen, Hoffnung, Reue und Umkehr. Der Mensch wird aktiv nicht nur in der Zerstörung, sondern auch im Widerstand gegen diese. Ein Text von Kurt Marti schliesst das Oratorium ab, in dem die Beziehung von Gott und Mensch in der Umkehr aufscheint:
Aus der Tiefe, ach,
seufzen wir
nach Hoffnung.
Und wissen doch:
der Weg der Vernichtung
bleibt ohne Hoffnung.
Nur Umkehr
kann
Hoffnung wecken.
Nur der Mut,
anders zu leben,
macht uns wieder lebendig.
In der Tiefe, ach,
bitten wir
um Mut zur Umkehr.
Umkehr – mit dem gesamten Oratorium im Blick lässt sich darunter eine Rückkehr zu den Verhältnissen beschreiben, wie sie bestanden, bevor der Mensch sich aufspielte. Als er sich als Teil der Hausgemeinschaft verstand, ausgestattet mit einer besonderen Verantwortung. Und mit dem Wissen: Nicht er ist der Orientierungspunkt alles Lebendigen, sondern er selber orientiert sich am Beispiel des Baumes. An seiner Aufrichtigkeit und seiner Gelassenheit. Der Mensch sieht die Welt dann nicht als Schatzgrube von Dingen, aus der er sich bedienen kann, wie er will. Sondern er sieht sie als Mitwelt, als Hausgemeinschaft alles Lebendigen, gefüllt mit Dingen, die, genauso wie er selbst, beseelt sind, mit Atem beschenkt. Sunt lacrimae rerum ist der Beginn eines Satzes von Vergil, der übersetzt heisst: «Tränen sind in allen Dingen, und alles, was dem Tode geweiht ist, berührt unser Herz» (Vergil, Aeneis 1,462). Der Mensch allein kann es nicht richten, so Martis Erkenntnis, die zugleich ernüchternd und hoffnungsvoll ist. Ernüchternd, weil das Risiko Mensch ein Spiel mit dem Feuer bleibt, doch hoffnungsvoll, weil Gottes Erwählung des einen Planeten zum «Planeten des Lebens» auch den Menschen in seiner Schwäche miteinberechnet. Der Mensch allein kann es nicht richten. Doch er kann den Mut zur Umkehr erbitten und im Bewusstsein um seine Stellung in der Hausgemeinschaft seine ihm eigenen Fähigkeiten vorwärtsgerichtet zur Erhaltung derselben einsetzen. Er kann jederzeit damit beginnen.
Kurt Marti: Tagebuch mit Bäumen. Darmstadt/Neuwied 1985, S. 53.
Daniel Glaus, Kurt Marti, Adolf Muschg, Dorothee Sölle: Sunt lacrimae rerum. Oratorium für den Planeten des Lebens. Bern 1989.
Alle drei Zitate aus Kurt Marti: Pfingsten. In: Ders.: Läuten und eintreten bitte. Ein Lesebuch im Jahreslauf. Herausgegeben von Ralph Kunz und Andreas Mauz. Zürich 2020, S. 168.
Kurt Marti: Notizen und Details 1964–2007. Beiträge aus der Zeitschrift Reformatio. Zürich 2010, S. 1321 (Jahr 2003).
Kurt Marti: Notizen und Details, S. 950 (Jahr 1991).
Kurt Marti: Notizen und Details, S. 926 (Jahr 1990).
*1985, ist theologische Ethikerin und Pfarrerin. Sie promoviert am Institut für Sozialethik in Zürich im Bereich der narrativen Ethik. Zusätzlich ist sie Beauftragte für die Weiterbildung der reformierten Pfarrpersonen in der Schweiz und arbeitet in einem innovativen kirchlichen Projekt in Winterthur.