Zerrissene Nation – ­zerrissene Diaspora

Nicole Hirt, 28. Mai 2024
Neue Wege 3.24

Drei Jahrzehnte nach der Unabhängigkeit ist Eritrea eine ­Diktatur mit langem, repressivem Arm auch in die weltweite Diaspora. Diese ist tief gespalten – und entwickelt Widerstand im transnationalen Raum.

Eritrea in seinen heutigen Staatsgrenzen ist ein Produkt der italienischen Kolonialisierung, die im Jahr 1890 erfolgte. Italien war spät in den europäischen Machtkampf um die Kolonialisierung Afrikas eingetreten und plante, Eritrea als Basis für die Eroberung des äthiopischen Kaiserreiches zu nutzen. Ein erster Versuch erfolgte im Jahr 1896, als italienische Truppen mit Unterstützung eritreischer Askaris versuchten, auf äthiopisches Territorium vorzudringen. Sie erlitten jedoch eine Niederlage gegen die äthiopischen Truppen bei der Schlacht um Adua. Daraufhin konsolidierten die Italiener ihre Position in Eritrea, indem sie stark in Infrastruktur und den Aufbau von Plantagen investierten. Das führte zu einer Modernisierung des Landes, wobei für Eritreer*innen nur sehr begrenzte Bildungsmöglichkeiten bestanden.

Unter Mussolini fand 1936 ein weiterer, diesmal erfolgreicher Vorstoss auf äthiopisches Territorium statt. Bis 1941 herrschte Italien über das Kaiserreich, bis im Zuge des Zweiten Weltkrieges die Briten die italienischen Truppen besiegten und Italien alle seine Kolonien verlor. Eine britische Militärverwaltung wurde in Eritrea etabliert, die sich bemühte, die Meinungsbildung der Bevölkerung über die Zukunft des Territoriums zu fördern. Freie Medien und politische Parteien wurden zugelassen, und es entspann sich eine erhitzte politische Debatte. Die ethnisch vielfältige Gesellschaft Eritreas, die sich je etwa zur Hälfte zum Islam und zum orthodoxen Christentum bekannte, war in ihren Vorstellungen gespalten: Die Christ*innen favorisierten mehrheitlich die Einheit mit dem äthiopischen Kaiserreich, während sich Muslim*innen überwiegend für die Unabhängigkeit einsetzten. Auch aufgrund strategischer Machtinteressen der USA entschieden die Vereinten Nationen 1952, dass Eritrea eine Föderation mit Äthiopien eingehen sollte. Diese hatte allerdings nicht lange Bestand, da der äthiopische Kaiser Haile Selassie Eritrea 1962 völkerrechtswidrig annektierte.

Daraufhin kam es zu einem dreissigjährigen Unabhängigkeitskampf, der etwa eine ­Million Menschen in die Flucht trieb. Der Kampf wurde zunächst von der muslimisch geprägten Eritrean Liberation Front (ELF) dominiert. In den 1970er Jahren erstarkte jedoch die Eritrean People’s Liberation Front (EPLF) unter dem heutigen Präsidenten Isaias Afewerki, der auch damals schon jeden Widerstand gegen seine Vormachtstellung mit Gewalt unterdrückte.

Komplizierte Staatswerdung

1991 erlangte Eritrea nach einem gemeinsamen Sieg mit der Tigray People’s Liberation Front (TPLF) gegen das äthiopische Militärregime die De-facto-Unabhängigkeit, die 1993 durch ein Referendum bestätigt wurde. Zunächst schien sich nun alles zum Besseren zu wenden; die EPLF benannte sich auf einem Kongress 1994 in People’s Front for Democracy and Justice (PFDJ) um, eine Verfassung wurde erarbeitet und ein Entwicklungsprozess durch Vertrauen auf die eigenen Kräfte angestrebt. Allerdings kam es bereits 1998 zu einem erneuten Grenzkrieg mit Äthiopien, das seit 1991 von einer TPLF-dominierten Regierung geführt wurde. Obwohl es offiziell um den Grenzverlauf ging, spielten vor allem alte Machtrivalitäten zwischen den Führungseliten Tigrays und Eritreas eine Rolle bei diesem Konflikt.

Im Jahr 2000 erlitt Eritrea eine militärische Niederlage, was zum Verlust des Unfehlbarkeitsmythos der EPLF/PFDJ und zum Aufkommen einer Reformbewegung führte. Eine Gruppe prominenter PFDJ-Mitglieder, die sogenannten G-15, forderten die Implementierung der Verfassung und eine partizipatorische Regierung mit eingeschränkter Macht für den Präsidenten Isaias Afewerki. Isaias bereitete diesen Bestrebungen jedoch schnell ein Ende, indem er 2001 alle Kritiker*innen und Journalist*innen der freien Presse verhaftete. Danach kam es zu einem Prozess der politischen Totalisierung und der Konzentration der Macht in den Händen des Präsidenten. Die Gewaltenteilung wurde aufgehoben und sowohl Legislative als auch Judikative wurden für obsolet erklärt. Isaias Afewerki regiert seitdem mit einem kleinen Beraterstab, und alle Gesetze werden per Dekret erlassen. Es gibt keinerlei Rechtsstaatlichkeit. Menschen werden regelmässig willkürlich und ohne Gerichtsverhandlung verhaftet und unter schlechten Haftbedingungen festgehalten.

Im Jahr 2002 wurde der bislang auf 18 Monate befristete Nationaldienst auf unbegrenzte Zeit verlängert, sodass seither alle jungen Erwachsenen eine militärische Ausbildung durchlaufen und danach oft jahrzehntelang für ein Taschengeld für das Militär oder die Partei Zwangsarbeit leisten müssen. Diese Entwicklung führte zu einem anhaltenden Massen­exodus und zur zunehmenden Diasporisierung der Gesellschaft. Begründet wurde die gesamt­gesellschaftliche Militarisierung mit der angespannten regionalen Lage und dem bis 2018 weiter schwelenden Konflikt mit Äthiopien.

Eritrea als transnationaler ­politischer Raum

Schon während des Unabhängigkeitskampfes 1962 bis 1991 hatten sich erste Strukturen einer weltweiten eritreischen Diaspora herausgebildet. Nachdem der äthiopische Kaiser Haile Selassie 1974 von einem Militärrat gestürzt worden war, der sich bald zum Sozialismus bekannte und von der Sowjetunion militärische Unterstützung erhielt, verschlimmerte sich die Lage der Bevölkerung durch die rücksichtslose Kriegsführung der äthiopischen Armee. Der Kampf gegen die Befreiungsbewegungen in Eritrea und Tigray führte zu einer Hungersnot und zu hohen Opferzahlen unter der Zivilbevölkerung. In den 1970er Jahren schlossen sich aufgrund einer «Säuberungskampagne» des Militärrats, bekannt als «Red Terror Campaign», in urbanen Regionen vermehrt christliche Kämpfer*innen der ELF an, woraus sich Machtkämpfe zwischen den jeweiligen Führungseliten entwickelten. Diese führten zu zwei Bürgerkriegen zwischen ELF und EPLF, aus denen die EPLF mit Unterstützung der TPLF in den 1980er Jahren siegreich hervorging. Die Unterstützer*innen der unterlegenen ELF mussten ins Ausland flüchten.

Die meisten der geschätzt eine Million Kriegsflüchtlinge blieben im benachbarten Sudan oder arbeiteten in den Golfstaaten, aber auch in Europa, den USA, Kanada und ­Australien entstanden eritreische Gemeinschaften. Diese waren meist hoch politisiert und unterstützten den Befreiungskampf aus dem Ausland, wobei eine tiefe Spaltung zwischen Anhänger*innen der ELF und der EPLF bestand. Für die EPLF war die finanzielle Unterstützung durch die Diaspora überlebenswichtig. Äthiopien erhielt militärische Hilfen aus dem Ostblock, während es der ebenfalls sozialistisch orientierten EPLF nicht gelang, nennenswerte politische und militärische Unterstützung aus dem Ausland zu generieren. Die Flüchtlingsgemeinschaften wurden daher straff in Form von Massenorganisationen für Frauen, Jugendliche und Arbeiter organisiert. Regelmässig wurden Festivals zum Zweck des Fundraisings und zur Verbreitung der EPLF-Ideologie veranstaltet; am prominentesten war das jährliche Festival im italienischen Bologna. Auch humanitäre Hilfe wurde durch die Mithilfe Geflüchteter gesammelt, die von der Eritrean Relief Association, dem humanitären Zweig der EPLF, verwaltet wurde.

Nach der De-facto-Unabhängigkeit 1991 führte die EPLF/PFDJ-Regierung eine Diasporasteuer ein: Im Exil lebende Eritreer*innen sollten 2 Prozent ihres Einkommens an die Regierung in Asmara überweisen. Während der 1990er Jahre wurde diese Steuer meist gerne gezahlt, in der Hoffnung, das kriegszerstörte Land bald wieder aufbauen und seine Entwicklung unterstützen zu können. Die PFDJ-­Regierung etablierte ein Netz der Kontrolle und Überwachung unter den Diasporagemeinden, da sich nur wenige im Ausland lebende Eritreer*innen entschlossen, endgültig in die Heimat zurückzukehren. Die Botschaften und Konsulate waren für das Eintreiben der Steuer im Gegenzug für die Ausstellung einer sogenannten «Clearance» zuständig. Diese Bescheinigung gilt bis heute als Bedingung für das Ausstellen von Pässen oder Geburtsurkunden; sie ist Voraussetzung dafür, Eigentum in Eritrea kaufen oder erben zu können, und für viele andere diplomatische Dienstleistungen.

Darüber hinaus wurden in europäischen Städten mit grösseren ­Diasporagemeinschaften sogenannte Vereine (Mahbere-Koms) eingerichtet, die oft offiziell als eingetragene Kultur­vereine registriert wurden. Sie dienen als soziale Treffpunkte für Regierungsunterstützer*innen, zudem gibt es Seminare zur Verbreitung von Regierungspropaganda, und es werden Spenden für den Staat gesammelt. Daneben wurde ein Netz von Informant*innen etabliert, die oppositionelle Aktivitäten an die diplomatischen Vertretungen melden. Auch bei den Asylbehörden europäischer Länder wurden regierungstreue Personen als Sprachmittler*innen eingeschleust.

Diaspora als Spiegel der zerrissenen Nation

In Eritrea selbst verbreitet die Regierung eine Ideologie der nationalen Einheit nach dem Motto «ein Herz, ein Volk» und unterdrückt ethnische, regionale und religiöse Identitäten oder Partikularinteressen. In der Diaspora spiegelt sich jedoch die Diversität der eritreischen Nation wider, was zu einer tiefen politischen Spaltung zwischen Regierungsbefürworter*innen und einer zersplitterten Opposition beitrug. Die innereritreischen politischen Entwicklungen führten regelmässig zu Reaktionen in der Diaspora. Während der 1990er Jahre bestand die Spaltung zwischen ELF- und EPLF/PFDJ-Mitgliedern fort, wobei sich die ELF in zahlreiche Unterorganisationen aufsplitterte und an Einfluss verlor. Nach dem Schlag gegen die Reformbewegung in Eritrea 2001 kam es in der Diaspora zu einer Abspaltung vieler früherer PFDJ-Unterstützer*innen, die sich vom harten Kurs des Präsidenten distanzierten und eigene Parteien wie die Eritrean Democratic Party gründeten. Mehrere Versuche, unterschiedliche Oppositionsparteien in einem Koalitionsbündnis zu bündeln, liefen dagegen ins Leere.

Die Regierung gründete 2004 die Young PFDJ als Jugendorganisation in demokratischen Ländern mit grösseren Diaspora-­Gemeinden, um ihren Einfluss zu wahren und auf die jüngeren, im Ausland geborenen Generationen auszuweiten. Hierbei werden bis heute alle Menschen mit mindestens einem eritreischen Elternteil als Staatsbürger*innen betrachtet, unabhängig von ihrer De-facto-­Nationalität. Es finden bis heute regelmässig Seminare und Spendenaktionen sowie auch die umstrittenen jährlich stattfindenden Eritrea-­Festivals auf nationaler Ebene statt, wie zum Beispiel das jährliche Festival in Giessen/Deutschland, bei denen nicht nur die eri­treische Kultur gepflegt werden soll, sondern auch Indoktrination durch Regierungsvertreter*innen und regierungstreue Künstler*innen geschieht. Dadurch soll auch die Bereitschaft, die Diasporasteuer zu bezahlen, gestärkt werden.

Andererseits entwickelten sich über die Jahre zahlreiche zivilgesellschaftliche Bewegungen, die sich gegen die Herrschaft Isaias Afewerkis richteten. Im Zuge des Arabischen Frühlings entstand in der Diaspora eine Gruppe namens «Arbi Harnet» (Freedom Friday), die sich bemühte, Menschen in Eritrea zum Widerstand zu motivieren. Einige Jahre später, im Sommer 2018, schloss Präsident Isaias völlig überraschend Frieden mit dem neuen äthiopischen Premierminister Abiy Ahmed. Nach dem Friedensabkommen wurden die Grenzen für einige Monate geöffnet. Es folgte aber keine weitere Implementierung des Friedensabkommens, Äthiopien erhielt auch keinen Zugang zu eritreischen Häfen. Dennoch entstand in der Diaspora eine Bewegung namens #Enough! (Tigrinya: #Yiakl!; arabisch: #Kifaya!), die in den sozialen Medien politische Reformen und vor allem eine Verkürzung des Nationaldienstes forderten, nachdem nun ja die äthiopische Bedrohung weggefallen schien. Später etablierte sich die Bewegung unter dem Namen «Global Yiakl» als politische Partei, die in zahlreichen demokratischen Ländern mit grösserer Diaspora aktiv ist.

Ein weiterer Einschnitt erfolgte bereits zwei Jahre später, denn 2020 kam es ebenso überraschend zu einem Krieg der äthiopischen Armee gegen die in Tigray regierende TPLF mit Unterstützung eritreischer Truppen. Hintergrund ist ein inneräthiopischer politischer Machtkampf: Von 1991 bis 2018 hatte die TPLF die äthiopische Föderalregierung dominiert; der neue Premierminister Abiy Ahmed strebte jedoch einen Bruch mit dem bisherigen Status quo an. Im Zuge des folgenden politischen Machtkampfes kam es zu einem verheerenden Bürgerkrieg in Tigray mit zahlreichen Massakern an der Zivilbevölkerung durch äthiopische und eritreische Soldaten.

Im November 2022 konnte der Krieg durch das Abkommen von Pretoria beendet werden. Eritrea war offiziell weder Kriegspartei noch Unterzeichner des Friedensabkommens, jedoch sind Massaker und Plünderungen durch die eritreische Armee in Tigray gut dokumentiert. In der Diaspora riefen diese Entwicklungen unterschiedliche Reaktionen hervor: Das Verhältnis zwischen Menschen aus Tigray und Eritrea ist historisch konfliktbehaftet und wurde durch den Grenzkrieg von 1998 bis 2000, der bis zu 100’000 Opfer forderte, nachhaltig belastet. Die TPLF (Tigrinya: «Woyane») blieb für viele ein Feindbild, sodass die regierungstreue eritreische Diaspora sowie auch einige PFDJ-Dissidenten den militärischen Einsatz in Tigray befürworteten. Der Regierungspropagandist und «Poet» Awel Said rief im Namen der Reg­ierung auf Festivals in Europa gar zum Völker­mord an Menschen aus Tigray auf.

Auf der anderen Seite solidarisierten sich Oppositionelle, vor allem Menschenrechtsaktivist*innen, mit der leidenden Zivilbevölkerung Tigrays. Eine weitere, rechtsnationalistische Bewegung setzt sich für eine Vereinigung des von ethnischen Tigrinya besiedelten eri­treischen Hochlandes mit Tigray ein, wobei Muslim*innen aus diesem Gebiet vertrieben werden sollen. Diese Tigray-Tigrinya oder «Agazian»-Bewegung (der Name bezieht sich auf die Ge’ez-Sprache als Vorläuferin der Tigrinya-Sprache) strebt die Etablierung eines christlich-orthodoxen Tigrinya-Staates an. Es ist davon auszugehen, dass sich die TPLF, die im Ausland über eine finanzstarke Diaspora verfügt, diese Bewegung zunutze macht, um Einfluss auf die eritreische Diaspora zu gewinnen und um die Organisationen der PFDJ zu schwächen, zum Beispiel indem Proteste gegen deren Festivals unterstützt werden.

Proteste gegen Festivals für das Regime

Es gibt seit Jahrzehnten Pro-PFDJ-Regime-­Festivals in verschiedenen Städten Nordamerikas und Europas, die dem Fundraising und der Verbreitung der Regierungsideologie dienen. Ebenso gab es schon seit Jahren friedliche Proteste von Oppositionsgruppen gegen diese Festivals, wobei staatliche Behörden aufgefordert wurden, diese Propagandaveranstaltungen für ein diktatorisches Regime rechtlich zu unterbinden. Erstmals 2022 und weit ausgeprägter 2023 kam es dann in vielen Ländern, darunter Deutschland, der Schweiz, Norwegen, Schweden, Kanada und Israel, zu gewaltsamen Protesten gegen die Festivals. Eine neue Bewegung hatte sich unter dem Namen «Brigade N’Hamedu» zusammengefunden. Erstmals wurden überwiegend junge männliche Geflüchtete, die in den Jahren ab 2015 westliche Länder erreicht hatten, politisch mobilisiert und organisiert, die sich bislang mit ihren in Eritrea erlebten Erfahrungen von Repression und Gewalt nicht von den traditionellen Oppositionsparteien angesprochen fühlten. Der gewaltsame Protest gegen die Festivals führte in erster Linie zu Verletzten unter den lokalen Polizeikräften, die die Veranstaltungen sichern und Gewalt verhindern sollten. Eine politische Botschaft wird dabei allenfalls sehr konfus übermittelt. Vertreter der eritreischen Regierung präsentieren sich demzufolge als Opfer und beklagten einen Eingriff in die Versammlungsfreiheit, die ihnen in demokratischen Ländern zweifellos zustehe.

Die etablierten eritreischen Oppositions­bewegungen äusserten sich bislang eher unterstützend oder verständnisvoll für die Proteste der Brigade N’Hamedu, die als Symbol die blaue Flagge aus der Zeit der eritreischen Föderation mit Äthiopien verwenden und deren politischer Flügel auch unter dem Slogan «Blue Revolution» auftritt. Die Proteste erlangten aufgrund der teils massiven ausgeübten Gewalt auch die Aufmerksamkeit westlicher Medien. Verfolgt man allerdings Leser*innenkommentare zu diesen Ereignissen, wird schnell klar, dass die Proteste nicht als politisch motivierter Kampf gegen eine Diktatur wahrgenommen werden, sondern als sinnlose Gewalt «afrikanischer Gruppen» gegen die Ordnungskräfte. Es bleibt abzuwarten, wie sich die Bewegung weiter entwickeln wird.

Es ist einerseits verständlich, dass hoch traumatisierte Flüchtlinge, die unter Lebensgefahr aus Eritrea geflüchtet sind und sich unter grauenhaften Bedingungen durch die Sahara über libysche Internierungslager mit dem Boot nach Europa durchgekämpft haben, Festivals zu Ehren von Isaias Afewerki unerträglich finden. Daher ist es leicht, sie zu gewaltsamem Protest zu motivieren, der aber wohl kaum nachhaltig zu einer Schwächung der Regierung beitragen dürfte. Die regimetreuen Besucher*innen dieser Veranstaltungen haben ganz überwiegend eine europäische Staatsbürgerschaft, was sie nicht davon abhält, dem Diktator in ihrem Heimatland zu huldigen. Es wäre sinnvoll, in allen Ländern, wo Eritrea-Festivals veranstaltet werden, juristisch deren Legitimität zu überprüfen. Fakt ist, dass dort nicht nur ein Diktator verherrlicht wird, sondern dass auch Gelder für eine Regierung eingesammelt werden, die damit ihre aggressive Aussenpolitik und die Unterdrückung aller Menschen im Innern des Landes finanziert.

Religion im transnationalen Raum

Die gewaltsamen Protestaktionen des vergangenen Jahres sowie langjährige friedliche Proteste gegen das eritreische Regime sollten nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich weite Teile der etablierten Diaspora und die meisten im vergangenen Jahrzehnt aus ­Eritrea Geflüchteten nicht aktiv politisch für die eritreische Regierung oder für die Opposition engagieren. Dagegen lässt sich oft ein Rückzug in subnationale Räume beobachten: Es gibt zahlreiche Organisationen, die sich anhand ethnischer oder regionaler Kriterien organisieren, wie etwa die Lowlanders League, in der sich Menschen aus dem westlichen Tief­land zusammengefunden haben. Für viele Geflüchtete spielt Religion eine wichtigere Rolle als für die einstigen Flüchtlinge zur Zeit des Unabhängigkeitskampfes.

In Eritrea, wo etwa je die Hälfte der Bevölkerung dem Christentum und dem Islam angehört, ist die Religionsfreiheit stark eingeschränkt. So sind etwa evangelikale Kirchen und bestimmte islamische Denkschulen verboten, auch die legalen Kirchen und die muslimischen Institutionen werden von der Staatssicherheit überwacht. Religion stellt in den Augen der Führungselite eine Gefahr für die von ihr propagierte nationalistische Ideologie dar. Allerdings sind die eritreischen Bevölkerungsgruppen seit Jahrhunderten tief­religiös, sodass der Staat sie nicht verbieten kann. Im Militärtrainingscamp Sawa sind aber sowohl Bibel als auch Koran verboten, da hier die nationalistische Indoktrinierung erfolgen soll.

Viele Geflüchtete wenden sich daher auch religiösen Gemeinschaften zu, die sie vor allem ausserhalb Eritreas als politikfreien Raum jenseits des Einflusses des transnationalen Arms des Regimes erleben. So kann man unter den Geflüchteten sowohl strenggläubige Muslim*innen erleben als auch orthodoxe Christ*innen, die regelmässig Gottesdienste besuchen. Es ist allerdings der eritreischen Regierung gelungen, zahlreiche orthodoxe Kirchengemeinden mit regimetreuen Priestern zu unterwandern; Evidenz dafür gibt es zum Beispiel in Norwegen und in Deutschland. Regelmässig werden hohe Gebühren für Taufen oder Hochzeiten verlangt, die dann nach Eritrea an die Regierung abgeführt werden. Insgesamt ist davon auszugehen, dass das transnationale Überwachungssystem auch zivile Organisationen zu infiltrieren versucht, um die Kontrolle über die unterschiedlichen Diasporagruppen zu behalten.

Eindämmung transnationaler Repression?

Viele unterschiedliche Diasporagruppen, darunter politische Parteien sowie Menschenrechtsaktivist*innen, haben über Jahrzehnte vergeblich versucht, gegen das Regime in Asmara aktiv zu werden und gegen seine repressiven transnationalen Strukturen anzugehen. Von den Ländern, in denen sie sich dauerhaft niedergelassen haben, erhielten sie dabei wenig Unterstützung. Es scheint, dass die transnationalen Aktivitäten diktatorischer Regime und ihre Versuche, Regimegegner*innen selbst im Ausland einzuschüchtern, bisher von europäischen Regierungen kaum ernst genommen wurden. Diese tun bislang wenig, um demokratische Kräfte vor dem langen Arm von Diktaturen zu schützen. Dies führt im Fall der eritreischen Diaspora dazu, dass europäische Polizeikräfte die Besucher*innen von Festivals beschützen, die zu dem Zweck stattfinden, einem Diktator zu huldigen und Spenden für seine Staatskassen einzutreiben. Nur in wenigen Fällen wurden ­solche Veranstaltungen juristisch wegen Gewaltverherrlichung unterbunden. Die gewaltsamen Demonstrationen der Brigade N’Hamedu gegen diese Festivals und ihre Besucher*innen, die meist indirekt mit der Polizei ausgetragen wurden und zu vielen Verletzen vor allem bei den Sicherheitskräften führten, haben nicht oder nur begrenzt dazu beigetragen, dass die Öffentlichkeit sich mit der dahinterliegenden Problematik beschäftigt. Insbesondere sollten sich Politiker*innen der betroffenen Länder stärker mit dem Phänomen der transnationalen Repression beschäftigen und es sollte juristisch geklärt werden, inwieweit diktaturverherrlichende Veranstaltungen mit der demokratischen europäischen Rechtsordnung vereinbar sind. Dieser juristische Weg, begleitet von friedlichen Demonstrationen eines breiten Oppositionsbündnisses mit klaren politischen Forderungen und hoher Teilnehmendenzahl auch aus der europäischen Zivilgesellschaft, wäre langfristig wesentlich erfolgversprechender. Mit dem Aufbau demokratischer Strukturen durch die eritreische Opposition in der Diaspora kann eine Reform des eritreischen Staates unter Beteiligung aller Eritreer*innen im In- und Ausland vorbereitet werden.●

Literatur:

Nicole Hirt: «My parents told me to love my country»: positionalities of second-generation diaspora Eritreans in a transnational setting. 2023.

Nicole Hirt, Eden Mengis: Eritreer:innen in der Diaspora. Der Einfluss des eritreischen Regimes und regimetreue Strukturen in Deutschland. In: Randi Becker, P. W. Kranemann (Hrsg.): Endlich in Sicherheit? Bedrohung von Geflüchteten in Deutschland durch transnationale Netzwerke. Giessen 2022.

Nicole Hirt: Eritrea’s Chosen Trauma and the Legacy of the Martyrs: The Impact of Postmemory on Political Identity Formation of Second-Generation Diaspora Eritreans. In: Africa Spectrum 56 (2021) 1.

Nicole Hirt, Abdulkader Saleh Mohammad: Eritrea’s self-reliance narrative and the remittance paradox: Reflections on thirty years of retrogression. In: Remittances Review 6 (2021) 1, S. 21–39.

  • Nicole Hirt,

    *1963, ist promovierte Politikwissenschaftlerin mit Schwerpunkt Horn von Afrika. Sie beschäftigt sich seit drei Jahrzehnten mit dem politischen System Eritreas, mit seiner Diaspora und mit der transnationalen Repression des autoritären eri­treischen Regimes. Sie verbrachte zwischen 1995 und 2010 insgesamt fünf Jahre in Eritrea und unterrichtete u. a. an der Universität in Asmara. Sie ist Associate am GIGA Hamburg (German Institute for Global and Area Studies) und veröffentlichte zahlreiche Artikel zum Thema.