Ob Nestlé, Novartis oder CS – schon nach den ersten Klicks auf die Webseiten erzählen die Schweizer Konzerne lang und breit und bunt von ihrer Führungsrolle hinsichtlich einwandfreier Geschäftsführung, ethischer Grundwerte oder der Verbesserung von Lebensqualität. Der wegen seiner Geschäftspraktiken umstrittene Rohstoffkonzern Glencore bietet gar seine Menschenrechtsrichtlinie zum Download an und liess Ende Juni 2018 aufhorchen, als er in seltener Offenheit Einblick in seine Zahlungsströme gewährte. Eine solche Transparenz wäre noch vor wenigen Jahren undenkbar gewesen. Die Beispiele zeigen, dass die Konzerne offensichtlich unter Druck geraten sind.
Doch aller schönen Worte und Bilder zum Trotz haben sich die multinationalen Firmen noch lange nicht vom Saulus zum Paulus gewandelt. Dafür reicht bereits ein Blick in Medienberichte der vergangenen Sommerwochen:
○ Der Schweizer Rohstoffhändler Trafigura verkauft giftigen Treibstoff nach Afrika. Sein «Dirty Diesel» hat dramatische Folgen für die Gesundheit der Menschen.
○ Aufgrund der Paradise Papers verlangen US-StaatsanwältInnen Dokumente von Glencore und ermitteln wegen Korruption.
○ Syngenta verkauft das lebensgefährliche Pestizid Paraquat in Entwicklungsländern, obwohl es in der Schweiz bereits seit 1989 nicht mehr zugelassen ist.
○ Die grossen Schweizer Schokoladenkonzerne wie Barry Callebaut, Nestlé oder Lindt&Sprüngli streiten weiterhin die systematische Kinderarbeit in den Kakaoplantagen Westafrikas ab.
○ Von Roger Federers neuem Kleider-Sponsor UNIQLO werden unmenschliche Arbeitsbedingungen, Massenentlassungen und ausstehende Löhne der Näherinnen in China und Indonesien bekannt.
Dank der internationalen Vernetzung von Hilfswerken und Medien werden solche Geschichten rasant rund um den Globus verbreitet. Und die Meldungen reissen nicht ab. Von Bio-Piraterie über unbezahlbare Medikamente bis zu den seltenen Metallen in der Smartphone-Produktion – kaum ein Lebensbereich ist nicht von entsprechenden Skandalen betroffen. Deshalb gehören Kenntnisse über das ausbeuterische Verhalten von Konzernen mittlerweile zum Allgemeinwissen. Auch das Bewusstsein für die Mitverantwortung von Schweizer Unternehmen ist gross.
Die erodierte Glaubwürdigkeit der Global Players schreit nach konstruktiven Lösungsansätzen. Doch Selbstverpflichtungen für soziale Verantwortung genügen nicht und bewirken oft nur eine kosmetische Änderung der Geschäftspolitik. Die Skandale kontrastieren arg mit den vielfarbigen Nachhaltigkeitsberichten der Unternehmen. Sie lassen daran zweifeln, dass sich die Unternehmen allein durch Imageschaden umstimmen lassen. Aktienkurse, Boni-Zahlungen und Profiterwartungen werden weiterhin stärker gewichtet.
So kommt es, dass die Konzernverantwortungsinitiative heute in eine Art Gewissenslücke springt und der kommerziellen Dynamik der globalisierten Wirtschaft die solidarischen Werte der internationalen Zivilgesellschaft entgegensetzt. Simpel und stringent formuliert es Felix Gmür, Bischof und Chef des römisch-katholischen Bistums Basel: «Ich sehe absolut keine Legitimation, monetären Gewinn über Gerechtigkeit zu stellen.» Diese moralische Erkenntnis lässt ein kleines Wunder geschehen: Die Konzernverantwortungsinitiative entfaltet grossen Druck auf die Profiteure der Wachstumswirtschaft und ihre Apostel. Vermutlich ist es mit dem ungestörten Geschäftemachen vorbei. Überall werden Fragen gestellt. Plötzlich gewinnen ethische Argumente an Boden.
Wie konnte diese «wirtschaftsfeindliche» Initiative dermassen Sympathien auslösen? Der Support reicht weit ins bürgerliche Lager hinein durch profilierte Leute wie Dick Marty, Klaus M. Leisinger oder EVP-Präsidentin Marianne Streiff. Besonders stark ist der Support durch kirchliche Kreise nicht nur rund um die Hilfswerke wie Brot für alle oder Fastenopfer, welche bereits die Lancierung der Initiative mit vorangetrieben haben. Neben den katholischen Bischöfen Felix Gmür und Markus Büchel und dem evangelisch-methodistischen Bischof Patrick Streiff stehen auch Dutzende von reformierten KirchenrätInnen oder ganze Landeskirchen wie Bern-Jura-Solothurn oder Schaffhausen hinter der Initiative. Besonders auffällig ist, dass sich sowohl pastoral aktive Personen wie staatskirchliche Vertreterinnen und Vertreter für die Initiative einsetzen. Die Webseite
www.kirchefuerkovi.ch verdeutlicht dies: Hier machen mit Cevi-Verbänden, der Heilsarmee oder dem Internationalen Blauen Kreuz und diversen katholischen Ordensgemeinschaften auch Organisationen mit, die sonst eher selten öffentlich für politische Ziele einstehen.
Das kirchliche Engagement für die Initiative ist eine logische Folge der Arbeit der letzten Jahre. Brot für Alle und Fastenopfer haben massgeblich die Kampagne «Recht ohne Grenzen» mitgetragen, die 2011 mit einer von 135 000 Unterzeichnenden eingereichten Petition verbindliche gesetzliche Regeln für die Einhaltung von Menschenrechten und Umweltschutz durch im Ausland operierende Schweizer Unternehmen forderte. Weil sich Bundesrat und Parlament auf die Förderung der freiwilligen Verantwortung der Unternehmen beschränkt haben, wurde die Konzernverantwortungsinitiative lanciert. Zwei Studien von Brot für alle und Fastenopfer zeigten 2016 gravierende Menschenrechtsprobleme: Einerseits bei der Verantwortung von Schweizer Firmen beim Goldabbau in Burkina Faso. Andrerseits in einer Untersuchung der 200 grössten Schweizer Unternehmen, welche darauf hinwies, dass die meisten grossen Konzerne ihre Verantwortung in Bezug auf Menschenrechte nicht ernst nehmen. Die ökumenische Kampagne zur Fastenzeit 2016 befasste sich dann explizit mit der Thematik.
Otto Schäfer formulierte als Beauftragter für Theologie und Ethik des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes sechs Thesen, welche die Überzeugungen hinter dem politischen Vorstoss auf den Punkt bringen:
1. Wirtschaft ist auf Recht angewiesen. Der Raum der Wirtschaft muss auch der Raum des Rechts sein.
2. Menschenrechte sind vorstaatliches Recht und als solches ein Anspruch an jeden Staat und an jede zwischenstaatliche Kooperation.
3. Aus theologischer Sicht ist jeder Mensch ein Abbild Gottes. Dieser theologische Sinn von Menschenwürde und Menschenrechten verpflichtet die Kirchen in besonderer Weise.
4. Jede Kirche ist Teil der einen Kirche Jesu Christi weltweit. Wer Kirche über Grenzen hinaus ist, steht für Recht über Grenzen hinaus ein.
5. Rechtsstaatlichkeit ist keine Option neben anderen. Freiwillige Vereinbarungen sind daher eine grundsätzlich problematische Kompensation fehlender rechtsstaatlicher Verbindlichkeit.
6. Wirtschaftliche Akteure sind nicht verantwortlich für Menschenrechtsverletzungen, die von Dritten begangen werden. Sie sind aber im Sinne einer Sorgfaltspflicht verantwortlich, wenn sie gegen besseres Wissen oder ohne hinreichende Prüfung Menschenrechtsverletzungen zum eigenen Vorteil nutzen.
Doch zum Hintergrund der Initiative gehören nicht nur die Aktivitäten der letzten paar Jahre und die Vorgeschichte der endlosen Skandale. Fünfzig Jahre nach 1968 ist ein Hinweis auf die damaligen Visionen wohl angebracht. Der frische Wind wehte von vielen Seiten – voller Hoffnung wurden viele afrikanische Staaten unabhängig, die Dekolonisierung schritt voran, das Zweite Vatikanische Konzil öffnete die katholische Kirche, während an der Vollversammlung des Ökumenischen Rates von Uppsala sich ebenfalls zukunftsweisende Ideen kristallisierten. Der Begriff «Nachhaltigkeit» wurde erstmals über die Forstwirtschaft hinaus für ökologische Anforderungen verwendet. Die Kirchen bekräftigten den Willen, ihr eigenes Geld nicht mehr in Apartheid oder Waffenindustrie anlegen zu wollen. Als Folge wurde etwa die Entwicklungsgenossenschaft Oikocredit gegründet, die mittlerweile mit einer Bilanzsumme von 1,2 Milliarden Euro eines der weltweit wichtigsten Institute zur Refinanzierung von Mikrofinanz und Fairem Handel geworden ist. In der Schweiz wurde von kirchennahen Kreisen die Erklärung von Bern aus der Taufe gehoben, die sich heute als Public Eye effektvoll für globale Gerechtigkeit einsetzt und die Konzernverantwortungsinitiative aktiv mitträgt.
In den 70er Jahren begannen auch die Bananenfrauen rund um Ursula Brunner in Frauenfeld zu fragen, warum Bananen billiger seien als die lokalen Äpfel. Weltläden wurden gegründet, oft in Kirchgemeinden. Der Faire Handel setzte ein Zeichen gegen zügellosen freien Handel. Mit Pauken und Trompeten kam 1976 die direkte Auseinandersetzung mit den Multis auf die Traktandenliste. Im legendären Nestlé-Prozess in Bern klagte der Konzern wegen Ehrverletzung gegen die Arbeitsgruppe Dritte Welt. Die Gruppe hatte den Report Nestlé tötet Babys publiziert, der kritisierte, wie mittels aggressiver Werbung Mütter in Entwicklungsländern dazu verleitet wurden, Milchpulver und Flaschennahrung statt Muttermilch zu verwenden. Über die Risiken bei mangelnder Hygiene und verschmutztem Wasser hätte Nestlé die Frauen bewusst nicht aufgeklärt. Als Folge würden tausende von Kleinkindern erkranken und sterben. Zwar erhielten die Verantwortlichen um Rudolf H. Strahm symbolische Bussen, doch der Aufsehen erregende Prozess machte vor allem Nestlés Verschulden sichtbar. Er wird heute in Fachausbildungen als exemplarisches PR-Desaster thematisiert und beschädigt das Image des Konzerns bis heute.
So erklären nicht nur die anhaltenden Skandale die Wirkung der Konzernverantwortungsinitiative. Dahinter steckt auch die langjährige Erfahrung der Bewusstseinsarbeit. In den 1980er Jahren lancierten die Entwicklungsorganisationen erste Petitionen für die Erhöhung der Entwicklungshilfe oder einen Schuldenerlass für die ärmsten Entwicklungsländer. Das Handwerk der Mobilisierung wurde gelernt und geübt, organisatorisches Know-how aufgebaut und erprobt. Seit Jahrzehnten folgt eine Kampagne der andern. Die Konzernverantwortungsinitiative ist quasi die Frucht von jahrzehntelangen Recherchen, Konfrontationen und Kampagnen.
Doch nicht nur Skandalgeschichten und organisatorische Fähigkeiten bilden den Rückhalt der Initiative. Die zentrale Rolle spielt die inhaltliche Stossrichtung. Sie ist keine schweizerische Erfindung, spiegelt vielmehr die internationale Debatte. Die Kernelemente der Initiative mit Sorgfaltsprüfungspflicht, Berichterstattung und Haftung für die Verletzung von Menschenrechten und international anerkannten Umweltstandards, sind inspiriert von den UNO-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte, die der Menschenrechtsrat im Jahr 2011 gutgeheissen hat. Die Initiative – und auch der diskutierte Gegenvorschlag – will in der Schweiz umsetzen, was dem globalen Trend der Rechtssetzung entspricht. Es soll kein nationaler Sonderweg beschritten werden. Im Gegenteil. Die Schweiz würde einen Sonderweg einschlagen, wenn sie nicht willens wäre, den Unternehmen verbindliche Regeln zur Beachtung der Menschenrechte und der Umweltstandards aufzuerlegen.
Darauf hat auch der geistige Vater der UNO-Prinzipien, John Ruggie von der Harvard University, im März 2018 in einem Kommentar in der Handelszeitung aufmerksam gemacht: Wenn die Schweiz einen fortschrittlichen Wandel einleite, stehe sie damit nicht alleine da. Umgekehrt laufe sie «Gefahr, international ins Hintertreffen zu geraten». Darüber, dass der Bundesrat mit seinem Nein zur Initiative dieses Risiko eingehen wolle, hatte sich Ruggie in einem Brief ans Parlament «enttäuscht» gezeigt.
Der Vorwurf von Wirtschaftskreisen, die Initiative sei «Rechtsimperialismus», zielt ins Leere. Die Schweiz würde anderen Staaten nicht ihre Rechtsordnung aufzwingen, sie würde vielmehr umsetzen, was auch andere Länder in ähnlicher Form tun: Frankreich stellt mit seinem Loi de vigilance die Konzerne unter Beobachtung, Grossbritannien und Kalifornien schufen den Anti Slavery Act, die Niederlande planen ein Child Labour Due Diligence Law, Kanada setzte eine Ombudsperson ein, an die Klagen über Menschenrechtsverletzungen durch Unternehmen gerichtet werden können.
Die Geschichte der Auseinandersetzungen mit Konzernen macht deutlich, dass es für kirchliche Organisationen wie insbesondere Hilfswerke selbstverständlich geworden ist, zur Wirtschaft offen Gegenpositionen zu beziehen. Konkrete Kampagnen sind selbstverständlich geworden. Das schliesst Dialoge nicht aus. Noch Ende der 1980er Jahre verhandelten die hiesigen Kirchen mehr als drei Jahre lang ergebnislos mit Wirtschaftsvertretern über die Rolle der Schweizer Wirtschaft im Apartheidstaat Südafrika. Man setzte auf Argumente und hoffte, überzeugen zu können. Vergeblich. Man scheute die Konfrontation. Heute ist klar, dass sich Kooperation und Druck nicht ausschliessen. Wer etwas erreichen will, setzt vielmehr auf beides.
*1947, ist Journalist und Ökonom mit Schwerpunkt internationale Wirtschafts- und Entwicklungsfragen. Er arbeitete 25 Jahre lang für Radio SRF und wohnt in Marly FR.
*1958, ist PR-Berater und Leiter der Kommunikationsstelle der Katholischen Kirche Region Bern, sowie Präsident der entwicklungspolitischen Stiftung Cooperaxion. Er wohnt in Signau BE.