Unternehmen brauchen Menschenrechte nicht gross zu respektieren. Das ist in vielen Kontexten brutale Realität. Auch Schweizer Konzerne nutzen in Ländern wie Peru oder Kongo «Freiräume», in denen Menschen keine Chance haben, zu ihrem Recht zu kommen. Der US-amerikanische Politikwissenschaftler John Ruggie stellte sein Berufsleben in den Dienst der Veränderung dieses unhaltbaren Zustands. Im September 2021 ist er gestorben. Als UNO-Sonderbeauftragter hatte er die Leitprinzipien zu Wirtschaft und Menschenrechten erarbeitet, die 2011 vom UNO-Menschenrechtsrat verabschiedet wurden.
Die Leitlinien besagen, dass Unternehmen ihre Tätigkeiten einer Sorgfaltsprüfung unterziehen müssen, um negativen Auswirkungen auf die Menschenrechte und die Umwelt entlang der ganzen Lieferkette vorzubeugen. Und sie sehen Unternehmen in der Pflicht, für dennoch verursachte Leiden und Schäden auch finanziell geradezustehen.
Eigentlich nichts als eine Selbstverständlichkeit. Genau dafür, für die Umsetzung von Ruggies Leitlinien im Schweizer Recht, stand die Konzernverantwortungsinitiative. Am 29. November 2020 sagten 50,7 Prozent Ja, aber die Initiative scheiterte am Ständemehr. Im Abstimmungskampf wurden Halbwahrheiten en gros aufgetischt, um die Zustimmung zur Selbstverständlichkeit zu verhindern. Alt Ständerat Dick Marty (FDP) vom Initiativkomitee sprach gar von Lügen, insbesondere von der in der Debatte entscheidenden Bundesrätin Karin Keller-Sutter.
Sie, KKS, lancierte im letzten Moment einen harmlosen, aber verfänglichen Gegenvorschlag. Ihr Argument: Die Schweiz würde sonst viel weiter gehen als andere Staaten. Übertriebene Menschenrechtsforderungen brächten die Unternehmen ins Hintertreffen. Der Gegenvorschlag sei international besser abgestimmt als die Initiative oder Alternativvorschläge aus dem Parlament. Sie musste wissen, dass dies nicht stimmte. John Ruggie sagte bereits im März 2018: «Die Schweiz wäre nicht allein, wenn sie in diesem Bereich fortschrittliche Veränderungen vornehmen würde; sie läuft sonst sogar Gefahr, zurückzufallen.»
Genau dies geschieht jetzt. Statt dass sie in Menschenrechtsfragen für einmal bei den Vorreiter*innen gewesen wäre und damit auch ihr Image der ewigen Profiteurin von globalen Ungleichheiten hätte zurechtrücken können, fällt die Schweiz zurück. Ein europäischer Staat um den andern – Frankreich, Deutschland, Norwegen, Niederlande und auch die EU als ganze – macht sich daran, der Konzernverantwortungsinitiative verwandte Regulierungen umzusetzen. Mit ihr – und nicht ohne – wäre die Schweiz bei den Leuten gewesen.
Auch die NZZ schreibt nun plötzlich, die Schweiz könne in Sachen Konzernverantwortung «bald in Zugzwang kommen», und mutmasst zu Recht, «dass der europäische Trend in Richtung deutlich verschärfter Regeln geht» (6. Mai 21). Ein häufiges Déjà-vu: Die Schweiz muss von aussen unter Druck geraten, damit sie in Fragen globaler Gerechtigkeit handelt. Früher oder später wird auch ein UNO-Abkommen zu Wirtschaft und Menschenrechten im Geist John Ruggies verlangen, was die Konzernverantwortungsinitiative forderte. So kehrt sie, die viele weltweit inspiriert hat, dann eben mit viel Verspätung von aussen wieder zurück.
Nicht mehr leicht zurückkehren wird das symbolische Kapital, das die Kirchenleitungen derzeit in Sachen Konzernverantwortungsinitiative verspielen. Endlich waren die Kirchen in einer politischen Debatte wieder einmal präsent, spürbar, streitbar. Mit der fachlichen Kompetenz ihrer Hilfswerke, mit kräftiger Basisnähe in den Gemeinden, mit einem überzeugenden ökumenischen Auftritt. Die Kirchen waren gar das Zünglein an der Waage, das die Abstimmung auf die Pro-Seite kippen liess. Aber statt dass sie nun selbstbewusst weiterhin für die pragmatische Selbstverständlichkeit und den internationalen Trend der menschenrechtlichen Verantwortung von Unternehmen geradestehen würden, ist das grosse Zetermordio ausgebrochen. Nicht wenige Kirchenleitungen sind vor dem bisschen Kritik von KKS, FDP, NZZ und Wirtschaftsverbänden eingebrochen. Dass deren Süppchen längst schon wieder am Erkalten ist und die ersten Abstimmungen über die Abschaffung von Kirchensteuern juristischer Personen problemlos überstanden sind, stoppt die Panikmaschine nicht. Verschiedene Kirchenleitungen vermeiden und verhindern derzeit mit Eifer das Aufkommen neuer politischer Debatten.
Dabei entscheidet sich für viele Menschen gerade daran die Glaubwürdigkeit der Kirchen: Sind sie eine unerschrockene Stimme der Menschenrechte, der Menschlichkeit, auch angesichts der Festung Europa? Richten sie sich verlässlich auf einen globalen, ökumenischen Horizont aus, auch in Fragen einer tödliche Ungerechtigkeit produzierenden Wirtschaft und der Klimakatastrophe?●
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.