Einst Hilfswerke – jetzt NGOs

Markus Mugglin, 28. Februar 2020
Neue Wege 3.20

Nicht-Regierungsorganisationen (NGOs) mischen die Aussenpolitik und insbesondere die Aussen­wirtschaftspolitik der Schweiz neu auf. Der Wandel von Hilfswerken zu NGOs wurde längst eingeleitet, wirksam ist er seit kurzem.

Die NGOs würden massgeblich zur Umsetzung der Ziele der internationalen Zusammenarbeit beitragen, heisst es anerkennend in der von Aussenminister Ignazio Cassis bestellten Aussenpolitischen Vision Schweiz 2028. Mit ihnen gebe es eine «etablierte und wichtige Zusammenarbeit», die noch gestärkt werden könne.

Das tönt nach hoher Wertschätzung von quasi offizieller Seite. Doch ist dem wirklich so? Die Frage drängt sich auf, weil die NGOs als Organisationen gewürdigt werden, die umsetzen, was durch die Ziele der Internationalen Zusammenarbeit vorgegeben ist. Die Strategie der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (DEZA) bietet die Grundlage für ihr Wirken.

Diese Kooperation kommt in der Aussenpolitischen Vision Schweiz 2028, kurz Vision28, gut an. Doch sie spiegelt ein Verhältnis aus längst vergangenen Zeiten, als es das angelsächsische Kürzel NGO im deutschen Sprachraum noch gar nicht gegeben hat. Es ist das Verhältnis von Staat zu Hilfswerken im traditionellen Sinn. Der Staat gibt die Ziele vor, die Organisationen setzen sie in Projekten praktisch um.

Mit dem Kürzel NGO verbindet sich aber mehr als nur die Funktion des Umsetzens staatlich festgelegter Ziele. Die Hilfswerke haben sich über die Jahrzehnte politisiert. Sie haben erkannt, dass Armut mit noch so guter Projekt­arbeit allein nicht zu überwinden ist. Entwicklungshilfe verstehen sie nur noch als Teil der Antwort. Eine Kommission schweizerischer Entwicklungsorganisationen hat bereits 1975 im Bericht Entwicklungsland Welt – Entwicklungsland Schweiz eine stärkere Ausrichtung weg von karitativer Hilfe hin zu strukturellen und systemischen Fragen in den wirtschaftlichen Beziehungen der Schweiz zur Dritten Welt gefordert.

Von Hilfswerken zu NGO

Die Hilfswerke wandelten sich behutsam. Erste Kampagnen zielten auf höhere Entwicklungshilfebudgets. Später folgte eine Petition für die Entschuldung der armen Länder, die einen Neustart nach den verheerenden Folgen der ihnen von den reichen Industrieländern aufgedrängten Strukturanpassungsprogramme ermöglichen sollte. Man begann, sich in handels- und finanzpolitische Fragen einzumischen. Zu NGOs im heutigen Verständnis entwickelten sich die Hilfswerke um die Jahrtausendwende im Gefolge der wirtschaftlichen Globalisierung.

Zivilgesellschaftliche, staats- und regierungsunabhängige Organisationen wollen gemäss Weltbank-Definition durch ihre Aktivitäten «Leid mindern, die Interessen der Armen in der Öffentlichkeit vertreten, die Umwelt schützen, grundlegende soziale  Dienste leisten oder Aktionen für Entwicklungsvorhaben initiieren». NGOs ergreifen also Partei für die Schwachen und Schutzlosen. Charakteristisch ist für sie aber nicht nur, was sie tun, sondern wie sie es tun. Sie tragen ihre Anliegen mit spektakulären Aktionen und Kampagnen in die Öffentlichkeit. Sie decken skandalöse Praktiken grosser Konzerne auf, mobilisieren mit Petitionen, nutzen professionell die Möglichkeiten der neuen sozialen Medien. International vernetzt vertreten sie die Interessen von Globalisierungsverlierer*innen.

Diese neuen nicht-staatlichen Akteur*innen nimmt die Vision28 auch wahr. Ihr Wirken würdigt sie aber nicht positiv, es scheint ihr eher Furcht zu bereiten. Sie würden «bereits seit geraumer Zeit die digitale Kommunikation (nutzen), um ihre Definitionsmacht über Themen und damit ihren politischen Einfluss zu steigern», heisst es. Völlig neue Instrumente im digitalen Politmarketing kämen ins Spiel, massenweise Versände von E-Mails an die Mitglieder des Parlaments, Unterschriftensammlungen, Crowd-Lobbying. Es sei eine für das EDA herausfordernde Entwicklung. Die von Aussenminister Ignazio Cassis berufenen Visionär*innen scheinen um die aussenpolitische Führungsverantwortung des Bundesrats zu fürchten. Es wird gewarnt, dass eine stärkere Berücksichtigung der innenpolitischen Meinungsbildung nicht dazu führen dürfe, dass diese «aus der Hand» gegeben werde (Vision28, S. 22).

Die Befürchtung ist nachvollziehbar. Denn die NGOs haben es in den letzten zehn Jahren geschafft, aussenwirtschaftlich höchst sensible Themen auf die aussenpolitische Agenda zu setzen: die Schweiz als weltweit führende Handelsplattform für Rohstoffe, als Standort von Raffinerien, die siebzig Prozent der weltweiten Goldproduktion verarbeiten, als Sitz für auffallend viele multinationale Konzerne, als Finanzplatz mit klimaschädlicher Wirkung. Der Bundesrat reagierte immer erst auf Druck und nur zögerlich statt vorausschauend. Eine nur schwer überblickbare Zahl von Berichten hat er verfasst mit vielen Empfehlungen und Erwartungen, welche die betroffenen Wirtschaftskreise freiwillig umsetzen sollten.

Auffallendstes Beispiel ist die Debatte über die Verpflichtung von Unternehmen auf Menschenrechte und Umweltstandards. Rund achtzig Organisationen hatten dazu 2016 die Konzernverantwortungsinitiative eingereicht, die inzwischen von rund 120 Organisationen mitgetragen wird. Darunter befinden sich mit Swissaid, Brot für alle, Fastenopfer, Helvetas, HEKS und Caritas die grossen traditionellen Hilfswerke.

Konzernverantwortung als Paradebeispiel

Die Kampagne über die Konzernverantwortung zeigt exemplarisch den Wandel von Hilfswerken zu NGOs auf. Vor allem seit dem Start der parlamentarischen Verfahren gibt sie den Takt an. Sie ist auf sozialen Medien und anderen Mobilisierungskanälen präsent. Sie lanciert Petitionen, betreibt Crowdfunding, lobbyiert, publiziert in hohem Rhythmus Recherchen über umwelt- oder gesundheitsschädliche Praktiken schweizerischer Konzerne in fernen Ländern, hat über die ganze Schweiz verbreitet Komitees gebildet, als ob der Abstimmungskampf bereits in Gang wäre. Im Vorfeld der Debatte im Ständerat hat sie in weniger als einer Woche weit über 50 000 Unterschriften gesammelt und so Druck auf die Räte ausgeübt.

Der Kampf um die Definitionsmacht schien schon fast gewonnen zu sein. National- und Ständerat übernahmen mit indirekten Gegenvorschlägen die Kernanliegen der Initiative. Unternehmen sollten mittels Sorgfaltsprüfungen die Beachtung von Menschenrechten und den Schutz der Umwelt sicherstellen sowie für verursachte Schäden haften. Eine Reihe von Präzisierungen haben den Geltungsbereich der Initiative geklärt und eingeschränkt.

Im allerletzten Moment kam es anders. Der Bundesrat mischte sich mit einer Minimalvariante ein, nachdem er mehr als zwei Jahre lang nur Nein gesagt hatte und glaubte, dem Druck der NGOs standhalten zu können. Jetzt sollten die Unternehmen über Menschenrechte und Umweltthemen berichten müssen sowie gewisse Abklärungen zur Herkunft der Güter machen, die sie verarbeiten. Wie sie es tun, wäre weitgehend ihnen überlassen.1 Der Ständerat schwenkte auf das Minimalprogramm des Bundesrates ein.

Worum es ging, machte der freisinnige Standesvertreter Thomas Hefti aus dem Kanton Glarus in der Wintersession 2019 klar: «Sehen Sie nur, was alles an den Häusern angeheftet ist! Sehen Sie nur, welche Post wir bekommen; sehen Sie nur, mit welch massiven Mitteln wir dazu gebracht werden sollen, dass wir entweder der Initiative oder dem Gegenvorschlag des Nationalrates zustimmen! Wir dürfen diesem Druck nicht nachgeben. Wir müssen diesem Druck standhalten.» Der freisinnige Ständerat rief – mit Erfolg – zum Widerstand auf gegen das bis in Wirtschaftskreise hinein breit abgestützte Anliegen, die grösseren Unternehmen auf die Einhaltung der Menschenrechte in ihren Geschäftspraktiken zu verpflichten.

Viele Kampagnen

Selbst wenn ein substanzieller Gegenvorschlag und danach die Initiative an der Urne scheitern sollten, markiert die Kampagne zur Konzernverantwortung mehr als jede andere die neue Mobilisierungskraft der NGOs. Sie ist dennoch nur eine unter vielen. Andere zielen auf die Transparenz im Rohstoffsektor und in der Gold-Wertschöpfungskette ab, auf nachhaltige Finanzanlagen und ökologische Standards für Handelsliberalisierungen, auf die Umsetzung der Agenda 2030 für die nachhaltigen Entwicklungsziele. Immer geht es letztlich um eine neue Orientierung der aussenwirtschaftlichen Beziehungen.

Die Debatte über die Schweiz als weltweit führender Rohstoffhandelsplatz begann im Herbst 2011 mit der Buchpublikation Rohstoff, das gefährlichste Geschäft der Schweiz. Die Branche hatte in nur etwas mehr als einem Jahrzehnt den Aufstieg der Schweiz zum weltweit führenden Rohstoff-Umschlagplatz geschafft. Die Öffentlichkeit hatte nicht wahrgenommen, was sich mit der Publikation durch Public Eye (damals noch Erklärung von Bern) geändert hat. Es folgten viele Skandalgeschichten. Der Bundesrat konnte nicht mehr länger wegschauen und schweigen.

Inzwischen anerkennt er, dass Transparenz in diesem korruptionsanfälligen Geschäft wichtig ist, und gab den Beitritt zur globalen Extractive Industry Transparency Initiative (EITI). Der Bundesrat will die rohstoffproduzierenden Unternehmen verpflichten, ihre Zahlungen an staatliche Unternehmen offenzulegen. Er verspricht, dereinst auch die Rohstoffhändler zu Transparenz anzuhalten, sollte sich dieser Standard international durchsetzen.

Dass die Schweiz als Land der «Goldwäsche» in Verruf kam, ist ebenfalls auf NGO-Kampagnen seit 2011 zurückzuführen. Sie machten menschenunwürdige Bedingungen in den Goldminen von Burkina Faso und Peru publik, legten die Widersprüche zwischen den in der Schweiz und in den Herkunftsländern verfügbaren Informationen über Goldlieferungen offen, leiteten ein juristisches Verfahren gegen eine Goldraffinerie ein. Der Bundesrat musste reagieren, um internationalen Imageschaden abzuwenden. Er gibt etwas mehr Einblick in den Goldumschlagplatz Schweiz. Raffinerien sollen die Herkunft des Goldes abklären; als Konzession an die Konzernverantwortungsinitiative will er die Unternehmen nach dem Vorbild der EU zu Sorgfaltsprüfungen in der Wertschöpfungskette anhalten.

Seit der Klimavereinbarung von Paris von Ende 2015 fordern NGOs konkrete Massnahmen für die Ausrichtung der Finanzflüsse auf eine treibhausgasarme Entwicklung. Ins Visier einer breit abgestützten Klimaallianz geriet insbesondere die Schweizerische Natio­nalbank (SNB), die stark in fossilen Energie­unternehmen investiert ist und abseits stand, als mehrere Zentralbanken Ende 2017 das Network for Greening the Financial System gegründet hatten.

Der Druck der NGOs hat einiges bewirkt. Selbst SVP-Bundesrat Ueli Maurer liess sich belehren, hat er doch im März 2019 nachhaltige Finanzen zur Chefsache erklärt. Kurz darauf sind die SNB und die Finanzmarktaufsicht dem Network for Greening the Financial System beigetreten, dem inzwischen 46 Zentralbanken und Aufsichtsbehörden angehören.

Noch sind es erst Worte. Die SNB ist noch nicht gewillt, ihre Devisenreserven von mehreren hundert Milliarden nachhaltig zu investieren, wie es das Netzwerk der Zentralbanken fordert. Mit welchen Massnahmen der Bundesrat den Finanzplatz zu nachhaltigen Anlagen bewegen will, ist noch offen.

Innenpolitik ist auch Aussenpolitik

Mit «Innenpolitik ist Aussenpolitik» tritt die Plattform Agenda 2030 dem von Aussenminister Ignazio Cassis mantraartig geäusserten Slogan «Aussenpolitik ist Innenpolitik» entgegen. Diese Umkehr ist den NGO-Kampagnen gemeinsam. Aussenpolitik soll nicht auf innenpolitisch angeblich Machbares zurückgestutzt werden. Die Schweiz soll sich stattdessen innenpolitisch verändern, bezogen auf die Agenda 2030 insbesondere ihren ökologischen Fussabdruck im Umfang von jetzt drei Planeten massiv verkleinern. Als Land, das gemessen an seiner Grösse andere Länder am stärksten belastet, ist es besonders gefordert, auf deren Anliegen Rücksicht zu nehmen.2

Die Schweiz sollte nicht zuwarten, bis sie unter Druck zu Änderungen gezwungen wird. Das ist eine Lehre aus dem Ende des Bankgeheimnisses. Denn beim Rohstoffhandel, beim Gold und bei den klimaschädlichen Wirkungen von Finanzanlagen und ihrem Verhalten weit über die planetarischen Grenzen hinaus befindet sich die Schweiz in einer vergleichbar exponierten Lage.

Ausgerechnet SVP-Bundesrat Ueli Maurer scheint sich als Finanzminister eindeutiger als Aussenminister Ignazio Cassis an neuen internationalen Standards zu orientieren. Er trieb die seit langem vom Ausland geforderte Unternehmenssteuerreform voran, bringt den Informationsaustausch mit vielen Ländern durchs Parlament, mischt sich koordiniert mit anderen Ländern in die von der OECD eingeleitete grosse Unternehmenssteuerreform ein, will den Finanzplatz nachhaltig positionieren. Zumindest in Finanzfragen will er international mithalten, statt der SVP-Doktrin der nationalen Abschottung zu folgen.

Aber auch er reagiert nur, statt zu agieren. Die NGOs möchten hingegen mit anderen Ländern vorangehen bei der konkreten Umsetzung internationaler Standards. Dafür mobilisieren sie und üben Druck aus. Noch vor dreissig Jahren setzten sie meist auf Gespräche und Argumente und mussten schmerzhaft erfahren, dass diese wenig bis nichts bringen. Exemplarisch stehen dafür die sogenannten Bankengespräche über das Verhältnis der Schweizer Banken zum Apartheid-Regime von Südafrika, an denen auch die kirchlichen Hilfswerke direkt beteiligt waren. Sie dauerten fast drei Jahre.

Die Hilfswerkvertreter*innen hatten gehofft, die stark in Südafrika engagierten Schweizer Banken zumindest zu einer Distanzierung inklusive Sanktionen gegenüber dem Regime bewegen zu können. Doch die Gespräche endeten ergebnislos. Das Vertrauen in Gespräche sei damals arg erschüttert worden, stellte rückblickend die im Auftrag der Kommission Justitia et Pax verfasste Studie über die Haltung der katholischen Kirche zu Südafri­ka fest. Der damalige Fastenopfer-Direktor fühlte sich «regelrecht betrogen» und äusserte sich «empört», weil die Bankenvertreter beim letzten Treffen das Zustandekommen des für das Apartheid-Regime äusserst wichtigen Umschuldungsabkommens verschwiegen hatten. «So kann es nicht weitergehen, sonst geben wir uns der Lächerlichkeit preis», folgerte er daraus.

Die Lektion wirkt bis heute nach. Gespräche allein bringen wenig. Mit Kampagnen und öffentlichem Druck lässt sich mehr erreichen. Der Wandel von Hilfswerken zu NGOs macht zumindest aussenpolitische Teilerfolge möglich.

Markus Mugglin: Konzerne unter Beobachtung.
Was NGO-Kampagnen bewirken können. Zürich 2016

  1. Markus Mugglin: Weihnachtsbescherung für Glencore? Infosperber.ch, 7. Dezember 2019, online unter:
    www.infosperber.ch/Wirtschaft/Weihnachtsbescherung-fur-Glencore

  2. Markus Mugglin: Schweiz belastet andere Länder am stärksten. Infosperber.ch, 16. Juli 2019, online unter: www.infosperber.ch/Artikel/Wirtschaft/Schweiz-­belastet-andere-Lander-am-starksten

  • Markus Mugglin,

    *1947, ist Journalist und Ökonom mit Schwerpunkt internationale Wirtschafts- und Entwicklungsfragen. Er arbeitete 25 Jahre lang für Radio SRF und wohnt in Marly FR.