Um es vorwegzunehmen: Ich freue mich, dass Veränderung in die Landschaft der kirchlichen Hilfswerke gekommen ist und sich vieles zu bewegen scheint. Nicht, dass es in den letzten Jahren keine Veränderungen gegeben hätte – zumal es auch nicht der erste Fusionsversuch von Brot für alle und HEKS ist. Aber dieses Mal dürfte das Zusammengehen zustande kommen. Deshalb ist es nötig, sich Zeit zu nehmen und zu versuchen, eine Standortbestimmung vorzunehmen: Rückschau zu halten, woher wir kommen, zu klären, was heute ist, und daran zu arbeiten, wohin die Reise der Entwicklungszusammenarbeit, der humanitären Hilfe und der Entwicklungspolitik der Kirchen und ihrer Hilfswerke gehen soll. Mit diesem Beitrag möchte ich einige Anstösse für die dringend nötigen Auseinandersetzungen geben.
Meine Sicht auf die Rolle der Kirchen und ihrer Hilfswerke in der internationalen Zusammenarbeit ist stark geprägt von Erfahrungen, die ich erstmals in den achtziger Jahren in Lateinamerika gemacht hatte und die während der folgenden drei Jahrzehnte durch eine Vielzahl von Erlebnissen und Prozessen ergänzt und bereichert wurden. Nach meiner Lehre als Landwirt und dem anschliessenden Studium der Agrarwirtschaft hatte ich den dringenden Wunsch, etwas von der weiten Welt zu erleben. Die Umstände wollten es, dass ich eine Einladung von Samuel Ruiz, dem damaligen Bischof der Diözese San Cristóbal de las Casas im südmexikanischen Bundesstaat Chiapas, bekommen hatte. Er und seine Leute standen zu diesem Zeitpunkt im Rampenlicht der politischen Aufmerksamkeit: Chiapas war Zufluchtsort für zehntausende Menschen aus indigenen guatemaltekischen Dorfgemeinschaften. Sie wurden von der damaligen Militärregierung bedrängt und verfolgt. Über 100 000 Menschen fanden in den ebenfalls äusserst armen südmexikanischen Dorfgemeinschaften Schutz und Zuflucht. Die wesentlichste Kraft, die sich für den Schutz der Flüchtlinge aus Guatemala und für die Anliegen der Gastgemeinden eingesetzt hatte, war die katholische Kirche von San Cristóbal. Hauptverantwortlicher war Bischof Samuel Ruiz. Ich hatte Gelegenheit, die Situation und die Arbeit der Kirche und deren Pastoralequipen während eines halben Jahres kennenzulernen und darüber in der Schweiz zu berichten. Ruiz und mit ihm die gesamte Kirche in Südmexiko kamen wegen der dezidierten Solidarität mit den Schutzsuchenden aus Guatemala in arge Bedrängnis. Er hatte sich mit dieser Haltung starke Feinde geschaffen: das US-Aussenministerium während der Amtszeit von Ronald Reagan, das Druck machte, keine Migrant*innen aus Zentralamerika nach Mexiko und in die USA gelangen zu lassen, und die mexikanische Regierung, die die Flüchtlinge am liebsten in Lager gesteckt und vor der eigenen Bevölkerung isoliert hätte. Und schliesslich hatte Samuel Ruiz auch noch die einflussreichen Männer des Vatikans gegen sich. Die befreiungstheologische Praxis der südmexikanischen Kirche war den Mächtigen in Politik und Kirche ein Dorn im Auge.
Das Komitee zur Aufnahme der guatemaltekischen Flüchtlinge der Diözese San Cristobal wurde damals als Partner von HEKS gezielt unterstützt. Genau diese ländliche Bevölkerung Südmexikos, die sich in den achtziger Jahren mit den Flüchtlingen aus Guatemala solidarisiert hatte, sagte 1994 klar und deutlich nein zum nordamerikanischen Freihandelsvertrag NAFTA und setzte mit dem zapatistischen Aufstand ein Zeichen gegen ihre weitere Marginalisierung durch eine Forcierung des Freihandels. Die südmexikanische Kirche solidarisierte sich mit den Forderungen nach Gerechtigkeit und Menschenwürde für alle und setzte sich entschieden für das Zustandekommen einer Verhandlungslösung zwischen den Konfliktparteien der zapatistischen Befreiungsbewegung und der mexikanischen Regierung ein.
HEKS unterstützte die Initiative für das Zustandekommen einer Verhandlungslösung. Samuel Ruiz wurde auf Vermittlung von HEKS vom damaligen Schweizer Bundesrat und Aussenminister Flavio Cotti empfangen. Südmexiko und Guatemala wurden in der Folge zu Schwerpunktregionen der Friedensförderung des schweizerischen Aussendepartements EDA. Samuel Ruiz berichtete in der Schweiz und im Rahmen der Ökumenischen Kampagne von Brot für alle / Fastenopfer über den Einsatz für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung und hinterliess in der Kirche Schweiz bis heute wahrnehmbare Spuren.
Ich habe also erfahren, welche wichtige Rollen und Aufgaben Kirchen übernehmen können. Ich empfand es immer als Privileg, mit Menschen im Ausland in Verbindung stehen zu können, die in ihrem Kontext klar und mutig agieren. Ich habe gelernt, dass wir nicht Kirche sein können, ohne klar und entschieden an der Seite jener zu stehen, die sich für Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung einsetzen. Ich verdanke es HEKS und den damaligen MitarbeiterInnen Tildy Hanhart, Barbara Schläpfer und Thomas Kugler, dass sie mir und andern Menschen in der Schweiz den Zugang zu Männern und Frauen wie Samuel Ruiz, Rigoberta Menchú, Julia Esquivel und vielen anderen im Umfeld der lateinamerikanischen Kirchen ermöglicht hatten.
HEKS und Brot für alle hatten über die Jahrzehnte Entscheidendes geleistet, um Brücken zu schlagen zwischen Menschen und deren Initiativen im Süden einerseits und den Kirchen und den für Frieden und Gerechtigkeit sensibilisierten Menschen auf der anderen Seite in der Schweiz.
Dass sich Rollen und Aufgaben der Institutionen HEKS und Brot für alle gegenseitig ergänzen können und sollen, ist keine Neuentdeckung der heutigen Stiftungsrät*innen der beiden Werke. Das oben erwähnte Beispiel macht ersichtlich, wie gut die Equipen von Brot für alle und HEKS über lange Jahre zusammengearbeitet und sich gegenseitig ergänzt hatten. HEKS unterstützt Initiativen und Projekten der Entwicklungszusammenarbeit und humanitären Hilfe. Brot für alle wurde in den sechziger Jahren gegründet mit dem Auftrag, Sensibilisierungs- und Bildungsarbeit zu leisten in Bezug auf Entwicklung, Gerechtigkeit und Menschenwürde. Zusammen mit der katholischen Schwesterorganisation Fastenopfer ist es Brot für alle gelungen, im Rahmen der gemeinsam initiierten und verantworteten Ökumenischen Kampagne wesentliche Anstösse aus dem Süden in die Schweizer Kirchen zu tragen. Die jährlichen Kampagnen haben Entscheidendes zur Gestaltung und Stärkung der Ökumene beigetragen. Hunderte von Gruppen und Komitees in Kirchgemeinden und Pfarreien engagieren sich Jahr für Jahr gemeinsam auf lokaler und regionaler Ebene, sei es mit Gottesdiensten, Suppentagen, Informationsveranstaltungen, Aktionen und Unterschriftensammlungen für politische Vorstösse der Hilfswerke oder mit der finanziellen Unterstützung der langjährigen Partnerorganisationen der Hilfswerke.
Doch im Verlauf der letzten rund fünfzehn Jahre kam Sand ins Getriebe der guten Zusammenarbeit. Er hat verschiedenste Namen und Ausdrucksformen: Sorge um Marktpositionierung und vermeintliche Sicherung einer Corporate Identity, Konkurrenz um sogenannte Anteile auf dem Spendenmarkt, fehlender Wille auf Leitungsebene zur Zusammenarbeit und Komplementarität, mangelndes Interesse von offiziellen kirchlichen Instanzen für eine gute Koordination zwischen den Werken der Evangelisch-reformierten Kirchen Schweiz, Schwächung mancher kantonaler Fachstellen für Ökumene, Mission und Entwicklungszusammenarbeit. Vieles, was im Lauf der Jahre und Jahrzehnte aufgebaut worden ist, wurde vernachlässigt oder aktiv geschwächt.
Eine Entwicklung, die ich bis heute nicht verstehe, die aber zu einem Stolperstein für die Zukunft werden könnte, ist die zunehmende Entfremdung der kirchlichen Hilfswerke von ihren eigenen Wurzeln. Im Lauf der letzten Jahre habe ich aus Kirchgemeinden immer wieder gehört, dass auf ihre Anliegen mit Aussagen reagiert wurde wie: «Wir Hilfswerke sind nicht Teil der Kirche» oder «mit den Kirchen haben wir nichts zu tun». Solche Sprüche haben dem Selbstverständnis der Organisationen und den Mitarbeitenden zugesetzt.
Wie auch immer HEKS und Brot für alle fusionieren werden und welchen Namen das fusionierte Werk einmal haben soll: Wenn das Selbstverständnis darüber, was ein kirchliches Hilfswerk ausmacht, verloren geht, nützt auch ein fusioniertes Werk mit wohlklingendem Namen nichts. Hilfswerke, die wenig zur Stärkung der Solidarität zwischen den Menschen und zur Stärkung der Eigenständigkeit von Initiativen der lokalen Bevölkerung leisten, sondern vorwiegend um Marktanteile und um das eigene Überleben auf dem Spendenmarkt kämpfen, gibt es mehr als genug. Solche Organisationen sind überflüssig und für die Menschen in manchen Regionen der Welt eine Plage.
Die Fusion von HEKS und Brot für alle ist eine historische Gelegenheit, das Bündnis zwischen Kirchgemeinden und den Kantonalkirchen mit Partner*innen im Süden zu stärken. Wir, als Kirche Schweiz, haben die Chance, einen entscheidenden Beitrag zu leisten für mehr Gerechtigkeit, Frieden und die Bewahrung der Schöpfung. Wir verfügen über eine reiche, jahrzehntelange Erfahrung, über ausgezeichnete Beziehungen, über fachliche Ressourcen, mit denen wir einen bedeutenden Beitrag leisten können. Auch wenn wir das Ziel des Reiches Gottes auf Erden nie erreichen werden: Es geht darum, eine gemeinsame Vision zu haben und sich gemeinsam für diese Vision einzusetzen, hier und jetzt, mit all unseren Kräften und den uns zur Verfügung stehenden Ressourcen.
Wovon ich ebenfalls überzeugt bin: Begegnungen zu ermöglichen, ist in der internationalen Zusammenarbeit der Kirchen von zentraler Bedeutung. Wir erfahren es immer wieder von neuem: In der Flut von Nachrichten und Informationen geht uns jenes nahe, was in Beziehung steht zu Menschen, denen wir nahe sind. Die kirchlichen Hilfswerke sind der Radar der Kirchen auf internationaler Ebene und sollen mithelfen, ein Beziehungsnetz zu schaffen und zu vertiefen zwischen den Menschen hier und dort. Sie sind in der Lage, die Vernetzung zu unterstützen und zu fördern. Vernetzt sein mit Menschen in der Ferne ist nicht nur die Konkretisierung von Kirchesein, sondern auch die Grundlage für das politische Engagement auf mehr Gerechtigkeit hin. So stehen wir in Verbindung mit Menschen, deren Rechte missachtet und deren natürliche Ressourcen ausgebeutet werden. Es sind keine anonymen Menschen mehr, sondern unsere Geschwister. Allen wird dabei klar: Es geht um mehr als um die Finanzierung von Projekten. Weil die Not ein Gesicht und einen Namen bekommt, wird für viele auch selbstverständlich, sich für die nötigen Veränderungen auf politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Ebene einzusetzen – sei es in Bezug auf Konzernverantwortung, auf Waffenexport, auf Handelsbeziehungen oder auf die Regulierung der internationalen Finanzflüsse.
Die Fusion von HEKS und Brot für alle ist eine Chance. Es liegt an uns allen, uns einzubringen in die Neugestaltung dieses kostbaren und wichtigen Instruments im Einsatz für Gerechtigkeit und Frieden, ja, für das Reich Gottes.
*1958, Landwirt und Ing. Agr., wohnhaft in Wuppenau TG, betreute 1990 bis 2014 die Programme und Projekte des HEKS in Zentralamerika und Mexiko. 2005 bis 2007 war er zusätzlich Leiter der Lateinamerika/Afrika-Abteilung von HEKS. 2015 bis 2018 war er zuständig für das Landesprogramm des HEKS in Äthiopien. Seit 2015 betreut er das Themendossier «Recht auf Wasser» und ab Januar 2020 das Mandat «Zusammenarbeit mit Kirchen in der Schweiz». Ehrenamtlich ist er Mitbegründer und Präsident der Menschenrechtsorganisation Peace Watch Switzerland.