NW Politisch handeln heisst etwas verändern wollen. Solches Handeln setzt Überzeugungen, setzt einen Glauben voraus. Woran glaubt ihr?
Ada Marra: Ich bin Christin, weil ich Sozialistin bin, und ich bin Sozialistin, weil ich Christin bin. Es gibt zwei Wege zum Sozialismus: den christlichen oder den marxistischen. Ich gehe beide: Meine Analyse der Gesellschaft ist marxistisch, und meine Werte sind christlich. Im Sozialismus finde ich christliche Werte wieder: Geschwisterlichkeit, Gemeinschaft und soziale Gerechtigkeit. Mein politisches Handeln dient dem Wohl prekarisierter Menschen. Das ist eine zentrale Vision des Christentums.
Cédric Wermuth: Für mich gibt es neben dem analytischen Weg zum Sozialismus zwei weitere: nämlich Wut und Hoffnung. Die Wut über Ungerechtigkeit und Unfreiheit braucht keine Begründung. Die Hoffnung zeigt sich im Glauben an das Potenzial der Menschlichkeit. Dieser Glaube verpflichtet zum Engagement. Wenn ich an dieser positiven Anthropologie nicht festhalten würde, hätte ich Motivationsschwierigkeiten.
Tamara Funiciello: Ich bin weniger aus einer Analyse als aus einer Notwendigkeit heraus zum Sozialismus gekommen. Der Sozialismus ist die einzige Möglichkeit, eine Mehrheit der Menschen aus ihrer jetzigen Situation zu befreien. Dazu kam eine Ablehnung dessen, was jetzt ist, und die Hoffnung darauf, dass es besser werden kann. Ich glaube an das Gute in den Menschen und daran, dass Menschen unabhängig von Hautfarbe, Geschlecht und sozialer Position nach einem guten Leben streben.
NW Glaube scheint etwas zu sein, was euch verbindet. Glaubt ihr an eine Welt jenseits des Kapitalismus, des Patriarchats und anderer Herrschaftsverhältnisse? Braucht es Glauben, um dem, was ist, etwas entgegenzusetzen?
CW Die Vorstellung einer anderen Welt hat natürlich etwas Transzendentes. Ich weiss nicht, ob ich das «Glauben» nennen würde. Immer wieder bin ich nicht sicher, ob sich diese andere Welt verwirklichen lässt. Aber ich bin überzeugt, dass es keine andere menschliche Art zu existieren gibt, als am Glauben an eine Alternative festzuhalten. Gerade in Anbetracht der Tatsache, dass beispielsweise eine Milliarde Menschen hungern, gibt es keine Position ausserhalb der Überzeugung, dass sich daran etwas ändern lässt. Daran zu glauben, hat sicherlich auch viel mit Zweifel zu tun: Zweifeln nicht an der Überzeugung an sich, aber an der historischen Machbarkeit.
AM Meine Ansichten dazu haben sich in meinem Leben oft verändert. Im Moment bin ich der etwas provokativen Überzeugung, dass man nicht christlich und gleichzeitig rechts sein kann. Die Kernwerte der politischen Rechten sind nicht kompatibel mit dem Christentum. Jesus hat ja nicht vertreten, dass du in erster Linie Geld machen und dabei deine Nächsten verrecken lassen sollst. Ich sage das, weil ich denke, dass sich anstelle des Wortes «Glauben» das Wort «Menschlichkeit» setzen lässt. Das ist die Hoffnung, an der wir in der gegenwärtigen Zeit festhalten können: dass Menschen sich nicht mehr als rechts, links, christlich, muslimisch, gläubig, nicht-gläubig behandeln, sondern als Menschen.
TF Das Wort «Glauben» hat ein schlechtes Image. Es wird assoziiert mit Gutmenschentum und mit Irrationalität. Als Linke sollten wir versuchen, die Vorurteile abzulegen und den Begriff stattdessen für uns zu nutzen. Wenn wir nicht an Veränderung glauben würden, wüsste ich nicht, warum wir morgens aufstehen sollten. Wir haben da auch eine Vorbildrolle, wenn wir diesen Glauben an Veränderung vorleben. Das kapitalistische System trichtert uns ja täglich ein, dass wir nicht an eine Alternative glauben sollen. Das fängt bei der Unternehmenssteuerreform an und geht bis zum gesamten Kapitalismus. Nicht an eine Alternative zu glauben, ist eine kleine Kapitulation.
CW Im klassischen Marxismus gibt es allerdings nicht ohne Grund ein Utopieverbot. Im Glauben schwingt auch eine gewisse Selbstüberhöhung mit: zu wissen, wie die veränderte Gesellschaft aussehen soll. Der Schritt, mit diesem Wissen dann die Mittel zum Zweck zu legitimieren, ist klein. Glaube läuft immer Gefahr, kanonisiert zu werden. Historisch hat sich das als fatal erwiesen. Ich denke, die Utopie muss sich im Alltag bewähren.
AM Das Problem, dass du ansprichst, ist die Sakralisierung. Und dieses Problem gibt es ja nicht nur im Glauben, in der Religion. Die Texte, die Riten – all das ist nicht heilig. Wenn wir Glauben entsakralisieren, dann gibt es eine Kohärenz zwischen dem alltäglichen Handeln und der Utopie.
NW Inwiefern spielt denn institutionalisierte Religion eine Rolle in eurer Politik oder auch in eurer Biografie? Stellen wir die «Gretchenfrage»: Wie hast du’s mit der Religion?
CW Mein Vater ist katholischer Secondo, meine Mutter kommt aus einem sehr religiösen, reformierten Elternhaus. Sie war auch Katechetin und politisch engagiert. Als Kinder haben wir Plakate gegen Atomwaffentests gemalt und Flyer für Fairtrade-Bananen verteilt. Das hat dann zu einigen Clashs geführt, als ich so mit vierzehn, fünfzehn Jahren gemerkt habe, dass die Institution Kirche andere Dinge vertrat, als das, was meine Mutter in ihr sah. Danach habe ich die Kirche aus dem Blick verloren. Meine erste positive Wiederannäherung an die Kirche erlebte ich, als ich mich mit Flucht und Migration beschäftigt habe. Während in diesen Themen eine völlige politische Demobilisierung stattfand, begegnete mir in den Kirchgemeinden eine Mobilisierungskraft und eine einzigartige Verteidigung der Humanität. Heute im Parlament ist Religion für mich kaum präsent. Einzig: Der Kapitalismus ist natürlich auch ein Glaube. Das ist unzerstörbar religiös.
AM Für mich ist Religion sehr präsent in meiner alltäglichen Politik, auch wenn ich eine Trennung von Kirche und Staat vertrete. Im Kern geht es um Ethik, um ethisches Handeln. Ein roter Faden in meinem Leben ist die Überzeugung, dass die Verfassung und die Gesetze nicht die Menschen erziehen, sondern die Freiheit aller garantieren müssen. Ich glaube stark an den freien Willen. Das ist für mich das grosse Geschenk Gottes, uns die Freiheit zu lassen.
TF Ich bin in Süditalien aufgewachsen, und der Katholizismus war omnipräsent. Als die Nonnen im Kindergarten herausfanden, dass ich nicht getauft bin, musste gebetet werden. Meine Mutter ist eingefahren und hat gedroht, die Kirche niederzubrennen, sollte so etwas erneut vorkommen. Das war quasi eine Brandmarkung im katholischen Dörfchen von 450 Seelen – eine, die wir nicht so schnell wieder los wurden. Religionsunterricht in Italien hiess, katholische Gebete auswendig zu lernen. Meine Erfahrungen mit der katholischen Kirche waren nicht positiv. Diese negativen Gefühle sind geblieben, und wenn ich heute die Institution der Kirche beobachte, sehe ich viel Negatives. Da gibt es einen Unterschied zwischen der Institution und den sehr heterogenen Menschen an der Basis. Dort finde ich viele, die meine Werte teilen. Ich bin pragmatisch: Meine Berührungspunkte mit der Kirche sind Menschen, die in ähnlichen Bereichen kämpfen wie ich, sei es rund um Migration oder auch frauenpolitische Themen. Wenn plötzlich Vertreterinnen der Landeskirche am Vorbereitungstreffen für den Frauenstreik sind, wundere ich mich zwar, freue mich aber.
CW Mit dieser Argumentation habe ich zwei Probleme: Eine Trennung von Ideen- und Institutionsgeschichte finde ich nach zweitausend Jahren etwas schwierig. Zu sagen, es gäbe die reine Lehre und daneben die Institution, bei der zwar hunderttausende Menschen drauf gingen, beide hätten aber nichts miteinander zu tun … Das funktioniert ja auch für den Sozialismus nicht: unsere Geschichte zu erzählen, ohne den realexistierenden Sozialismus zu kritisieren. Das ist Teil unserer Geschichte. Das andere Problem ist die klassische Theodizee-Frage: Wenn es dieses Göttliche gibt, warum hungert dann eine Milliarde Menschen? Und wenn das Göttliche nicht allmächtig ist, warum brauchen wir es dann? Entweder gehört Gott vor Gericht, weil er das zulässt, oder er ist nicht göttlich.
AM Ich denke da an Jüdinnen und Juden, die aus den Konzentrationslagern kamen und an ihrem Glauben festhielten, trotz allem, was sie erlebt haben. Da frage ich mich: Wie ist das möglich? Darauf habe ich keine Antwort. Wir sind keine Marionetten Gottes, sondern haben einen freien Willen. Wir tragen eine Verantwortung. Wenn eine Milliarde Menschen hungern, dann aufgrund politischer Entscheidungen von uns hier. Da sind wir wieder beim ethisch guten Handeln.
TF Ich würde gerne nochmal auf die Frage des Glaubens zurückkommen. Ich glaube nicht an Gott, aber ich glaube an den Glauben der Menschen. Der Mensch ist ein spirituelles Wesen. In der Linken gibt es viele, die Glauben und Rationalität gegeneinander ausspielen. Ich glaube, das hilft uns nicht weiter.
CW Eine platte Religionskritik finde ich historisch auch überholt und zu kurz gedacht. Im realexistierenden Sozialismus hat die Idee, Religion per Dogma zu vertreiben, zu einer Reimportierung der Religion durch die Kanonisierung der Säulenheiligen geführt. Da trägst du dann auch die Bilder der alten Männer vor dir her … Wenn wir nach Brasilien schauen: 1980 gab es da zwei evangelikale Parlamentarier. Heute sind es hundert von fünfhundert. Hier hat der rasante Versuch, den Kapitalismus mit seiner Rationalität durchzusetzen, zu einer Reimportierung der Religion geführt. Das sehen wir in den USA, in Ungarn, in Polen … Es scheint ein anthropologisches Bedürfnis nach Transzendenz zu geben, und wir müssen uns fragen, wie wir damit umgehen. Etwas lustig finde ich das dann bei Menschen in meinem Umfeld, die sich für wahnsinnig aufgeklärt halten und abends in Yogakursen ihre innere Mitte suchen. Ich habe gar nichts dagegen, aber zu denken, das sei nicht religiös, ist absurd.
AM Hier kommen wir zu einem grundlegenden Punkt. Für mich genügt ein Parteiprogramm nicht, um die Welt zu verändern, gerade weil ihm eine andere Dimension fehlt. Wenn heute Menschen sich dem Extremismus zuwenden, zeigt das, dass wir etwas verpasst haben: nämlich das Aufzeigen einer Alternative. Wir sind nicht nur materialistische Wesen, die nur genug Geld oder einen sicheren Krippenplatz für unsere Kinder wollen. Wir wollen mehr. Linke Parteien müssen sich, gerade im Hinblick auf Brasilien, fragen: Was sind die «spirituellen» Werte, die wir vertreten, die wir als Alternative anbieten wollen?
TF Ich erkläre mir den Erfolg der Juso genau dadurch: dass es einen starken Glauben an Veränderung gibt. Tragisch finde ich, dass dieser Glaube beim Übertritt in die SP dann Schritt für Schritt demontiert wird. Es gibt wenig Resonanzraum, wo dieser Glaube im zermürbenden Alltagsgeschäft der Politik aufrechterhalten werden kann. Das nennt man dann erwachsen und vernünftig, dabei zerstört es die revolutionäre Kraft der Partei.
CW Es gibt einen Grund, warum sich der Kapitalismus durchgesetzt hat. Ideologisch ist dieses System höchst effizient, ökonomisch interessanterweise überhaupt nicht. Eine Reihe von Bewegungen, darunter die linksreligiöse und die feministische, haben beispielsweise die Ressourcenfrage viel früher ernst genommen als die sozialdemokratische. Das muss man als historisches Faktum zur Kenntnis nehmen, dass aus diesen Bewegungen Themen kommen, die die klassische ArbeiterInnenbewegung verpasst hat.
AM Heute sind wir an einem unglaublichen Punkt der Manipulation von Positionen angelangt, wo ethische Fragen als Gefühlsduselei abgetan werden. Nehmen wir zum Beispiel das Rettungsschiff Aquarius. Wer sich für die Rettung Geflüchteter auf dem Mittelmeer einsetzt, ist ein Gutmensch, ist sentimental. Das wird dir als Schwäche ausgelegt. Dabei ist es schlicht menschlich, den anderen Menschen nicht einfach ertrinken zu lassen.
NW Es gibt also Gründe, sagt ihr, dass diese Fragen, die wir besprechen, auch in der SP stärker diskutiert werden sollten. Oft scheint es aber ein Tabu zu sein, über Religion zu sprechen. Was bewegt sich da gerade? Verändert sich da etwas?
AM Wir können nicht so tun, als wäre Religion für die Menschen nicht wichtig. Heute gibt es in der Gesellschaft geradezu eine religiöse Bulimie: tausend Angebote und Möglichkeiten. Das muss in die Politik einfliessen.
CW Während meiner Zeit bei den Juso haben wir ein Papier zu Religion und Politik veröffentlicht. Auch wenn man darin einiges kritisieren kann, haben wir damit eine Debatte angestossen. Durch das Aufkommen des antiislamischen Rassismus wurde über alles gesprochen, nur nicht über Religiosität. Diese Strategie ging nicht auf. Da sind wir heute in einem Lernprozess. Die Tagung «Die Rolle des Islam in der Schweiz» im Juni 2018 hat da ein meiner Meinung nach falsches Zeichen gesetzt. Das Papier zur Tagung begann mit der Aussage: Es gibt 400 000 Musliminnen und Muslime in der Schweiz. Niemand hat diese Menschen gefragt, ob sie so genannt werden wollen. Diese Kategorie gab es vor zwanzig Jahren in dieser Bedeutung in der Schweiz so nicht. Realpolitisch sehen wir, dass die Bedrohung der Demokratie eben gerade nicht vom Islam ausgeht, sondern von jenen, die sich fundamental auf «christliche Werte» berufen. Die Initiativen, die die Europäische Menschenrechtskonvention in Frage stellen, kommen von jenen, die sich als Kreuzritter der christlich-abendländischen Werte verstehen, nicht vom Islamischen Zentralrat. Wir versuchen eine Debatte rund um den Islam nachzuholen und damit die Debatte zu Religion und Politik zu lancieren. Das führt in die falsche Richtung. Allerdings habe ich keine Antwort, wie wir es sonst machen sollen.
TF Wir haben bei den Juso versucht, ein Positionspapier zu verfassen und hatten heftige Auseinandersetzungen. Ein Papier scheint mir nicht der richtige Weg zu sein. Die Medien würden sofort nach der Burkafrage suchen, als würde sich daran das Verhältnis von Religion und Politik zeigen. Es geht dann nur um den Islam, das finde ich falsch. Ich glaube, es geht darum, dass wir zuerst parteiintern eine Versöhnung mit diesem Thema anstreben. Das braucht Zeit.
CW Realpolitisch finde ich die Herangehensweise der Zürcher SP, von Regierungsrätin Jacqueline Fehr, überzeugend. Sie suchen Kooperationen und den Kontakt. Die Botschaft ist: Wir sind für euch alle da. Daraus ergeben sich dann Tätigkeiten wie die Seelsorge oder Gefängnisbesuche.
AM Ohne offizielle Anerkennung der Religionsgemeinschaften ist das strukturelle Problem nicht gelöst: Da werden dann christliche Seelsorgerinnen und Seelsorger bezahlt und muslimische nicht. Die Anerkennung von Religionsgemeinschaften ist auch an gegenseitige Erwartungen gebunden. Das führt wieder zur Frage nach dem Platz von Religion in der Gesellschaft. Welche Rolle spielt Religion in unserer Vision des Staates? Und da ist eine antireligiöse Haltung vorherrschend, manchmal ja auch zu Recht, wenn wir an die Rolle der Frauen denken. Historisch ist der Staat auch der Gegenspieler einer elitären Kirche gewesen.
NW Wenn das Verhältnis von Religion und Politik also nicht primär in einem Positionspapier geklärt werden kann, wie kann die Debatte in der SP konstruktiv geführt werden? Und wo?
AM Ich glaube, diese Auseinandersetzung findet im konkreten Handeln statt. Beispielsweise hat die SP im Kanton Waadt eng mit den Kirchen zusammengearbeitet, als es um die Regularisierung von Asylsuchenden ging. Es gab eine enorme Bewegung von einzelnen Menschen und Kirchen. Das zeigt, dass konkrete Zusammenarbeit möglich ist und sich dort Grenzziehungen verschieben.
CW Auch bei der Konzernverantwortungsinitiative gibt es Berührungspunkte. Ich glaube auch, dass konkrete Kooperationen produktiv sind. Ich habe mir lange überlegt, ob ich einen Vorstoss zur Revision des Artikels 72 der Bundesverfassung machen soll, in dem es um das Verhältnis von Kirche und Staat geht. Die Regelung liegt ja bei den Kantonen. Wenn wir da eine Dimension der Diskriminierungsfreiheit einführten, würde es spannend. Aber wahrscheinlich ist diese Diskussion nicht konstruktiv zu führen. Wenn du zwei, drei Mal öffentlich Stellung zum Islam beziehst und dich dabei gegen die Positionen von Gerhard Pfister stellst, giltst du als Freund von Islamisten. Fragen zu Religion und Religionskritik können zurzeit nicht von der Partei kommen. Das gibt sofort ein mediales Geschrei. Es braucht eine intellektuelle, vielleicht akademische Auseinandersetzung.
TF Ich glaube, es braucht konkrete Praxen. Die Diskussion wird unten geführt, im Aktivismus, im konkreten Handeln. Dort werden auch Diskussionsräume geschaffen. Und ich glaube, wir brauchen ganz grundsätzlich mehr solche Räume, wo wir diskutieren können. Niederschwellig und auch nicht-akademisch.
AM Wir denken diesen Austausch jetzt etwas einseitig: Religiöse Themen sollen in die sozialistische Politik einfliessen. Als gläubige Politikerin wünsche ich mir das aber auch umgekehrt. Wir müssen auch in die Räume der Religionen gehen und dort unsere Politik hintragen, über Homosexualität sprechen, über Abtreibung, und so weiter.
NW Es braucht ebenfalls eine Gesprächskultur darüber, wie wir uns als sozialistische Menschen in unseren eigenen Religionsgemeinschaften verhalten. Wir benötigen dabei Räume, wo die eigene Biografie und die eigene Praxis eine Rolle spielen. Davon gibt es wenige. Christian Levrat sagte mehrmals: Religion ist Privatsache.
CW Diese Aussage hat ein kulturrelativistisches Moment. Das finde ich problematisch. Die Realität ist deutlich weiter als die Debatte, die wir etwas verklemmt führen. Für mich zum Beispiel war es eine Überraschung festzustellen, dass es an Gender-Studies-Lehrgängen Frauen gibt, die sich als Christinnen bezeichnen. Aber diese Entwicklung ist positiv.
AM Es ist ein grosses Paradox, dass wir Menschen einerseits nicht essentialistisch auf ihre Religion reduzieren wollen und andererseits die Frage stellen müssen, wie wir gesellschaftlich mit Religion umgehen wollen. Als Partei sollten wir eigentlich nicht Religion «behandeln», sondern uns mit den Bürgerinnen und Bürgern und ihren Rechten auseinandersetzen. Da eine Sprache zu finden, die nicht essentialisiert, aber doch auf Diskriminierung und Minorisierung aufmerksam macht, ist komplex.
NW Zum Abschluss noch eine ganz andere Frage: Unser Gesprächsdatum ist nämlich ein besonderes … Die Kirche feiert Allerheiligen und Allerseelen. Sind Sterben und Tod gegenwärtig politischere Themen als vor einigen Jahren?
CW Religion bringt da eine entscheidende antimaterialistische Kritik ein. Ich bin beispielsweise bei der Sterbehilfe zweifelnder, als ich das vor einigen Jahren war. Grundsätzlich ist es ein Menschenrecht, zu entscheiden, ob du lebst oder nicht. Nur ist das eine völlig atomisierte Vorstellung des Individuums. Dort kritisch zu fragen, in welchen gesellschaftlichen Umständen eine solche Entscheidung gefällt wird, ist wichtig. Beispielsweise, wenn Menschen mit einem Nützlichkeitsbegriff argumentieren und sagen: «Ich will niemandem zur Last fallen.» Solche Kritik kommt häufig von kirchlicher Seite. Ich meine, der Tod hat auch eine politische Dimension.
TF Wenn wir schauen, wer in der Schweiz durch Suizid stirbt, zeigt sich schnell, wie politisch der Tod ist: Es sind queere Menschen und Männer, die unter dem Druck des Kapitalismus zerbrechen. Mich schockiert auch, wie in den Medien über Tote berichtet wird. Es gibt offensichtliche Unterschiede, welche Tode wichtig sind, und welche nicht. 218 Tote in Kabul sind dann beispielsweise eine kleine Randnotiz. Die einen sind Zahlen, die anderen Individuen. Im Sterben zeigen sich die sozialen Unterschiede.
CW Ja, wir haben inzwischen eine gesellschaftliche Logik, in der es nicht schlimm ist, wenn die Überflüssigen sterben. Mit «Überbevölkerung» ist ja auch immer der Kontinent Afrika gemeint, nicht etwa Europa. Es ist paradox: Während gesellschaftlich der Tod als legitimes Mittel der Politik toleriert wird, zeigt sich parallel dazu der Lebensschutz in absurder und überhöhter Weise. Wie die Debatten zu Abtreibung geführt werden, steht in völligem Kontrast zum Krieg gegen den Terror, wo dann der Tod einiger Pakistani als Kollateralschaden abgetan wird. Die Differenz zwischen wichtigen und unwichtigen Toten ist schockierend.
AM Politisch gesehen stellt die Phase direkt vor dem Tod brisante Fragen: Wie gehen wir beispielsweise als Gesellschaft mit der Pflege betagter Menschen um? Dann muss ich sagen: Wäre ich nicht Christin, der Tod wäre für mich unerträglich. Ich halte den Gedanken an den Tod nur aus, weil ich Christin bin und an ein Jenseits glaube. Nur so macht das Leben für mich Sinn. Aber der Tod kann politisch auch für eine überhöhte Hoffnung auf das Jenseits stehen, wenn wir beispielsweise an Märtyrer wie jene beim IS denken.
CW Da treffen sich der globale Kapitalismus und islamistische Fundamentalisten auf interessante Weise. Die einen verkörpern einen Nihilismus, in dem sie alles Transzendentale, die anderen, in dem sie alles Diesseitige verachten – und beides ist anti-human. Wir müssten uns gegen beide positionieren.●
○Tamara Funiciello, *1990, ist Präsidentin der JUSO Schweiz und Vizepräsidentin der SP Schweiz sowie Grossrätin im Kanton Bern.
tamarafuniciello.ch
○Ada Marra, *1973, ist SP-Nationalrätin aus dem Kanton Waadt und Vizepräsidentin der SP Schweiz. ada.marra@parl.ch
○Cédric Wermuth, *1986, ist SP-Nationalrat aus dem Kanton Aargau.
cedricwermuth.ch
*1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.