Wir wollen, durch allerlei Erfahrungen dazu veranlasst, wieder von einer Sache reden, die ebenso einfach als wichtig ist, von einer Klippe, an welcher unsere Sache oft genug scheitert – weil wir selbst Schiffbruch leiden – von einer Aufgabe, die sich gross, und abwendbar und entscheidend vor uns hinstellt: wir müssen uns und damit unsere Sache, oder auch umgekehrt unsere Sache und damit uns selbst im Alltag bewähren. Wenn Einer ein Anhänger, vielleicht gar ein Vorkämpfer der Friedensbewegung ist, dann erwartet man von ihm Friedensgeist und Friedensart in all seinem Tun und Lassen. Falls man diese nicht findet, dann wird damit die Friedenssache zum Hohn.
Es ist sehr einfach zu sagen, und doch zittert die Hand, die einen solchen Satz niederschreibt. Denn wer von uns unterstünde sich wohl, zu behaupten, er erfülle den Anspruch dieses Satzes? Wer von uns unterstünde sich auch nur, den Versuch zu machen, ihm Genüge zu leisten? Wir stehen alle beschämt da und ich denke mir, derjenige unter uns, der am wenigsten Ursache dazu hätte, am allermeisten. Und endlich ist auch dies zu bedenken: Ist jener Anspruch der Andern nicht doch auch mit Ungerechtigkeit behaftet? Kann einer nicht ehrlich gegen Krieg und Gewalt sein, ohne dass er selbst ein Engel an Friedensgeist wäre?
Wenn Einer nicht mehr töten und töten lassen will, so erfordert das noch nicht, dass er eine Verkörperung aller Herrlichkeit der Bergpredigt sei, und wenn einer gegen die Gewalt kämpft, so kann er sehr wohl wissen, dass in ihm selbst der Dämon der Gewalt noch sehr mächtig ist, ja, vielleicht kämpft er gerade darum so eifrig, ja leidenschaftlich gegen ihn, wie ja wohl auch einer, der den Dämon der Trunksucht in sich mächtig fühlt, schärfer gegen den Alkoholismus streiten wird, als Einer, der seine Gefahr nie an sich selbst verspürt.
Kann nicht Einer durchaus ehrlich Sozialist sein, obschon er weiss, ja gerade weil er weiss, wie gross die Herrschaft des egoistischen Wesens auch über ihn selber ist? Und endlich: kann man nicht an Gott glauben und von Herzen ein Jünger Christi zu sein begehren, wissend, wie wenig Gott die beherrschende Macht unseres Lebens und wie wenig dieses eine Verherrlichung Christi ist? Kann man nicht trotzdem wissen, dass Gott lebt und dass Christus die Wahrheit ist?
Man kann eine Sache auf zweierlei Weise erfassen. Man kann sie von aussen her annehmen. Man ergreift sie dann bloss mit den Gedanken, weil sie vernünftig ist, man ergreift sie vielleicht auch mit einer gewissen Begeisterung, weil sie schön und gross ist. Man hat das Bedürfnis, eine solche Sache zu haben. Vielleicht auch – und das ist die ernsteste Form dieser Art – fühlt man sich durch das Gewissen verpflichtet, sich dieser Sache zuzuwenden. Das ist wohl besonders häufig der Fall mit der Jüngerschaft Christi. Man meint dann vielleicht sogar die Bergpredigt erfüllen zu müssen, weil sie nun einmal zum Christentum gehört. Aber in all diesen Fällen bleibt die Verbindung mit der Sache äusserlich. Sie ist zufällig, nicht notwendig; man könnte sich allfällig auch dem Gegenteil zuwenden. Es ist eine blosse Bekanntschaft oder höchstens Freundschaft, keine Ehe und innige Vermählung der Sache mit dem Wesen eines Menschen.
Die Sache wird nicht zu unserem Fleisch und Blut, sondern ist ein Stück Garderobe. Dann tritt ganz von selbst jene Trennung von Bekenntnis zu einer Sache und Alltag ein. Dann kann man der Friedensbewegung dienen wollen und aufs unfriedlichste streiten, sogar in der Friedensbewegung selbst; dann kann man Sozialist sein, mit dem blossen Kopfe oder mit der Leidenschaft des Willens, und ein selbstischer, ja brutaler Mensch; dann kann man ein Christ sein und ein Sklave aller Mächte der Welt, ja Schlimmeres. Ganz von selbst kommt es so; man merkt es nicht einmal. Oder dann müht man sich, jenes Muster der Idee, jene Gliederpuppe der Sache zu werden – umsonst, in jeder Beziehung umsonst!
Nur der andere Weg führt zum Ziele. Die Sache muss uns von innen her ergreifen. Sie muss wir selbst werden, unser Schicksal, unser Leben, bis zu jener höchsten Form: «So lebe nun nicht mehr ich, sondern Christus lebet in mir!» Die Friedenssache muss bei uns aus einer Friedensnotwendigkeit kommen, die – trotz allem andern – wirklich in uns ist, der Sozialismus aus einer Gemeinschaftssehnsucht und einem Gemeinschaftsgewissen, die – trotz allem andern – wirklich in uns leben, das Bekenntnis zu Gott und Christus aus einem Verlangen nach Gott, einer Erkenntnis der Wahrheit Christi, die – trotz allem andern – wirklich in unserer Seele wohnen und sprechen: «Ich glaube, Herr, hilf meinem Unglauben», und: «Herr, du weisst alle Dinge, du weisst, dass ich dich lieb habe.» Wenn das so ist, dann geschieht wieder etwas von selbst: dann kommt aus dem, was wirklich in uns ist, von selbst etwas von Friedensgeist, von selbst etwas von Sozialismus des Lebens, von selbst etwas von Kraft der Weltüberwindung und etwas vom Licht Christi. Diesen Weg müssen wir gehen.
Es ist durchaus nötig, dass eine Sache in ihren Trägern durch den Alltag gerechtfertigt werde. Es darf nicht bei den Begeisterungen gehobener Stunden bleiben. Solche Sonntage und Hochzeiten der Seele haben auch ihr Recht, aber sie müssen im Werktag und Alltag aus Blüten zu Früchten werden. Wenn sie das nicht tun, waren sie dann echt? Schöne Zusammenkünfte, wo die Idee als edle Flamme aufloderte, die Sache in Verklärung dastand, der Zauber der Gemeinschaft (der von ihrem Segen und Wunder zu unterscheiden ist), die Seelen belebte, Anhörung tiefer und wahrer Reden, Versenkung in die Bibel, alles muss zu Alltag werden, sonst wird es zu Schein und Trug und auch ein Hohn der Andern. Auch die Sache selbst wird unglaubhaft, wenn man sie nicht lebt. Und zwar im Alltag.
Das ist eben das Schwerste. Aussergewöhnliche Dinge kann man in irgend einem Hochschwung des Gemütes tun, aber der Alltag: all die kleinen, unbedeutenden, langweiligen Dinge! Und doch: gerade der Alltag ist entscheidend. Es ist Gottes Ordnung: im Kleinsten erkennt man das Grösste, im Kleinsten muss das Grösste sich bewähren. «Was ihr an einem der Geringsten unter meinen Brüdern getan [oder nicht getan] habt, das habt ihr mir getan [oder nicht getan].» Friedensgesinnung, Sozialismus, Gottes- und Christusglaube sind erst als echt bewährt, wenn sie im Kleinsten sichtbar werden, wenn der Alltag sie zeigt. Dann erst werden sie zum Wunder. Dann preist man darob den Vater im Himmel. Dann wird das Gewissen der Menschen erregt, dann wird vielleicht ihr Widerspruch, aber auch die Freude an Gott in ihnen erweckt. Es ist, liebe Freunde, nötig, bitter nötig, entscheidend nötig, aber es ist auch möglich, in voller Wahrhaftigkeit, Lebendigkeit und Demut möglich, dass wir uns unter das Wort stellen: «An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen.» (Matth. 7,16)
Dieser Text ist eine gekürzte Version eines Artikels von Leonhard Ragaz, den er in den Neuen Wegen 11/1929 veröffentlich hat. In voller Länge nachzulesen im e-Periodica Archiv.
(1868-1945 in Zürich), war reformierter Theologe. 1906 gründete er die religiös-soziale Bewegung und die Zeitschrift Neue Wege mit. Er war Vordenker eines föderalistischen, genossenschaftlichen und pazifistischen Sozialismus in der Schweiz. Mit seiner Frau Clara Ragaz-Nadig (1874-1957) kämpfte er gegen den Militarismus und die Ungerechtigkeit seiner Zeit.