Die Schweiz ist ein Land, dem es nicht zuletzt deshalb so gut geht, weil es anderen weniger gut geht. Diese Tatsache zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des 20. Jahrhunderts mit seinen Kriegen, seinem Kolonialismus und dem Durchmarsch des globalen Kapitalismus. In der Politik gab es immer wieder Versuche, Gegengewichte zu setzen: Die Aufarbeitung der Rolle der Schweiz im Zweiten Weltkrieg, Ansätze einer Friedens- und Menschenrechtsaussenpolitik gehören dazu. Im 21. Jahrhundert muss auch die schweizerische Politik ihren Beitrag dazu leisten, globale Katastrophen abzuwenden, die Auswirkungen auf Schwächere sind längst da. Die Realität sieht im Moment anders aus: Der neue Aussenminister betreibt eine Aussenpolitik von «Switzerland first». Und das Parlament – unter Einschluss von Teilen der Linken – leistet sich eine Unternehmenssteuervorlage, die Konzerne weiterhin motiviert, massiv Geld aus dem Süden abfliessen zu lassen. Womit es der Schweiz weiterhin auch deshalb so gut gehen kann, weil es vielen im Kongo oder in Brasilien weniger gut geht.
Nur ansatzweise aufgearbeitet ist das Kapitel der schweizerischen Beziehungen zu Südafrika. Die Pfarrerin, Sekretärin der Südafrikamission und Anti-Apartheid-Aktivistin Vreni Schneider wurde in diesem Jahr 80 Jahre alt. Sie blendet in die Schweiz der letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts zurück: «SchweizerInnen, die schwärmten von Meer, Löwen, glücklich lächelnden schwarzen Kellnern und den freundlichen weissen Polizisten. Wenn ich zu Zeiten der Apartheid in Kirchgemeinden, Schulen, auf Diskussionspodien mit BesucherInnen aus Südafrika von den harten Realitäten im andern Südafrika berichtete, waren immer welche da, die gerade aus den Ferien zurück waren oder, noch besser, einen Cousin, einen Bruder oder eine Tante hatten, die sagen konnten, wie es wirklich war. Sie wussten es besser als die südafrikanischen ZeugInnen. Sie schwärmten von der einzigen wirklichen Demokratie in Afrika, auch wenn die Mehrheit des Volkes kein Wahlrecht hatte (die Schweiz galt ja auch als Demokratie, und die Hälfte des Volkes war nicht dabei).» Man fühlte sich verwandt: «Es gab in Stadt und Land eine weit verbreitete Sympathie für das weisse Südafrika, dem ähnlich kleinen Volk wie die Schweiz. Bewunderung für jene, die gegen die ‹kommunistische Gefahr› auf Abwehrposten standen. Das Ganze gemischt mit Rassismus: Die Schwarzen waren (noch) nicht reif; sie waren wie Kinder; sie brauchten Führung und Erziehung.»
Vreni Schneider erklärt, wie die Schweiz profitierte: «Die Grossbanken haben den Apartheidstaat finanziert, sich eine goldene Nase verdient und dann erst noch die ausstehenden Schulden zurückgefordert. Die Armeen und Geheimdienste Südafrikas und der Schweiz haben zusammengearbeitet. Schweizer Firmen haben Waffen und Chemikalien geliefert für den totalen Krieg gegen das Volk. Die Schweizer Regierung hat bis zuletzt normale Beziehungen zu einem Unrechtsregime aufrechterhalten und Sanktionen weitgehend vermieden.»
Noch heute glüht Vreni Schneiders Zorn. Ihr Zorn über die Rolle der Schweiz, insbesondere jene der Banken. Ihr tiefer Zorn über die weissen reformierten Kirchen in Südafrika, die «den Glauben für Apartheid missbrauchten – gegen Menschen statt für Menschen», wie sie sagt. Als der Schweizer Pfarrer Jean-François Bill im Gefängnis des Apartheidregimes sass, rief seine Frau Vreni Schneider an: Der ungebrochene Zorn ihres Mannes über die Apartheid mache ihr manchmal Angst. Vreni Schneider antwortete ihr: «Zorn heisst: Es arbeitet weiter in ihm. Er akzeptiert Ungerechtigkeit nicht. Aus Zorn kann Kraft entstehen. Zorn ist Motivation – nicht um dreinzuschlagen, sondern für eine radikale Veränderung.» Sie macht eine Unterscheidung: «Wut bleibt einfach bei mir.»
Vreni Schneiders Zorn richtete sich auch auf unberührte, neutrale Schweizer Kirchenleitende. Sie predigten und praktizierten billige Versöhnung. Sie liessen jene Frauen (und ein paar Männer) im Stich, die in Kirchgemeinden gegen die Apartheid und auch für Boykottmassnahmen aktiv wurden. Sie verhielten sich dem Reformierten Weltbund gegenüber unsolidarisch, der die Apartheid zum Bekenntnisfall erklärte. Vreni Schneider formuliert, was damals in Schweizer Kirchen hätte gesagt werden müssen: «Wir sind am Tod von Menschen, die in der Repressionszeit umgebracht wurden, mitschuldig. Wir haben nicht genügend auf euch gehört, euch als unsere Gäste beleidigt, als Lügner hingestellt. Wir sind mitschuldig der Unterlassung von Hilfe, der Feigheit, des Mitprofitierens am gehorteten Gold. Wir wollen uns an konkreter Wiedergutmachung beteiligen.»
Damit hielt sich die Theologin Vreni Schneider nicht einfach an den lieben Gott. Die Bibel spricht eben auch vom zornigen. Der Zorn Gottes, so sagen es die BibelwissenschaftlerInnen Thomas Staubli und Silvia Schroer, ist die Kehrseite seines Erbarmens. Sein Zorn ist der gerechte und notwendige Zorn auf die Rechtlosigkeit, die den Frieden gefährdet. Seine Unheilsdrohungen und sein Zorn drücken aus, dass er die Welt nicht vor die Hunde gehen lassen will.
Vreni Schneider liess sich in ihrem Leben immer wieder auf neue Situationen ein, auf Menschen. Sie lernte – «ich ging schon furchtbar gerne zur Schule» – und gab das Gelernte in professionell gestalteten Bildungsprozessen weiter. Wo sie auf Ungerechtigkeiten stiess, wurde sie zornig. Was ihr wiederum Ansporn war, noch mehr zu erfahren und zu lernen. 1968 wurde sie als erste reformierte Pfarrerin im Jura in den Jurakonflikt hineinkatapultiert. Dort bemühte sie sich darum, «dass sich die Menschen nicht hassten und demütigten, wie das immer wieder passierte – Menschen befürchteten Tote.» Sie lebte in einer deutschsprachigen Gemeinde in der französischsprachigen Schweiz und als reformierte Pfarrerin in einem katholisch geprägten Kontext. Und lernte.
Von 1981 an arbeitete sie im Missionshaus in Basel, sie wurde Teil der Kooperation Evangelischer Kirchen und Missionen KEM. Die KEM lebte die «theologische Vision von der Einheit von Kirche und Mission» (Hans Walter Huppenbauer: Aufbrechen und Verharren. Affoltern am Albis 2014). Das Experiment, ein grosser «Prozess des gemeinsamen Lernens, eine Hin- und Her-Bewegung», wie Vreni Schneider meint, wurde zum Absturz gebracht – Vreni Schneiders Trauer und Zorn darüber halten bis heute an. Sie erlebte und gestaltete damals globales Lernen: Im kirchlich-missionarischen Netzwerk CEVAA hatte sie auch mit Polynesien zu tun. Lokale Partnerkirchen leisteten Widerstand gegen die französischen Atomversuche. Vreni Schneider brachte das Mururoa-Atoll mit Kaiseraugst in Verbindung – tödliche Atomtechnologie. Sie organisierte einst eine kleine Demo auf dem Basler Marktplatz, an der ihre Gäste aus dem Süden polynesische Lieder anstimmten und PassantInnen begeisterten. «Aus dem Lernen voneinander wird Solidarität.»
Lernen und Zorn hatten für Vreni Schneider immer eine existenzielle und persönliche Dimension. Schon 1968 war ihr Simone de Beauvoir wichtig, sie besucht sie noch heute auf dem Friedhof in Paris. «Frausein und Mannsein ist nicht nur eine politische Sache, sondern es geht um unsere Beziehungen: Wie kann man lieb sein und gleichzeitig verlangen, dass man eine Person für sich ist und vielleicht anders denkt?» Vreni Schneider konnte an der Universität Bern eine Vorlesung zu Feministischer Theologie halten. Ich wollte zeigen, dass das eine Theologie ist, «die ich selber machen muss. Ich begann mit meiner Biografie und mit der Biografie der Studierenden.» Denn «jede Befreiungstheologie ist ja immer kontextuelle Theologie».
Vreni Schneider wurde auf ihrem Weg des Lernens und Lehrens zur feministischen Befreiungstheologin. An Demonstrationen herumstehen kann sie heute nicht mehr. Aber ihr Zorn hält sie lebendig. Ihr heiliger Zorn auf eine lauwarme Kirche. Ihr republikanischer Zorn auf eine gleichgültige, egoistische und auch immer noch patriarchale Schweiz.
*1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.