Es ist Wahlkampf. Zur Mobilisierung von Wähler*innen hetzt die SVP gegen «Fremde». Die Partei tritt gegen Minderheiten. Das hat seit dreissig Jahren System. Ein Foto in den Medien zeigt Schweizer Soldaten beim Gebet. Es sind Muslime. Die SVP schiesst scharf: «Was kommt als Nächstes? Kinderehen, Scharia-Gerichte, Steinigungen?» Damit werden alle in diesem Land lebenden Muslim*innen getroffen, verletzt, ausgegrenzt. Die Schweiz sei ein christlich geprägtes Land, sagt der Parteipräsident Marco Chiesa, davon zeuge auch das Kreuz im Wappen. Die SVP lehne eine Ausweitung des Status anerkannter Landeskirchen auf andere Religionsgemeinschaften ab. So zeuselt die SVP, so produziert sie selber antimuslimischen Rassismus (und zeigt nebenbei, was sie vom Judentum hierzulande hält, dessen Gemeinschaften öffentlich-rechtlich anerkannt sind).
Nach kurzer medialer Empörung geht der Politbetrieb jeweils zum helvetischen Konkordanzalltag über. Marco Chiesa kocht im Fernsehen mit den anderen Parteipräsident*innen Älplermagronen. Wieso verlangt niemand vor laufenden Kameras von ihm eine Entschuldigung, bevor zusammen Kartoffeln geschält werden? In der Schweiz kennen sich halt alle gut. Man gewährt sich gerne den Bonus der Harmlosigkeit. Und viele von der SVP sind umgänglich, ja ganz nett.
Die Partei und ihre Mitglieder waren vor dem modernen Rechtspopulismus da. Die Hetze gegen Menschen mit Migrationsgeschichten, gegen Minderheiten war nicht immer zentraler Inhalt der SVP. Januar 1981, ich erinnere mich an einen öffentlichen Parteitag der SVP des Kantons Zürich zu den Jugendunruhen: «Krawall, mir händ gnueg!» Mit ein paar anderen Jugendlichen gelangte ich in den Saal, wir versuchten zu erklären, was uns auf die Strasse trieb. Der vierzigjährige Christoph Blocher forderte im Namen der «Arbeiter, Bauern, Angestellten, Gewerbetreibenden, Väter, Mütter, die in aller Bescheidenheit ihre Pflicht erfüllen», dass «Ordnung gemacht werde» bei den Chaoten. Sein Präsidium der Zürcher Kantonalsektion war die Grundlage für den Umbau der SVP. 1979 kam sie bei den nationalen Wahlen auf 11,6 Prozent der Stimmen, halb so viele wie je die SP, die FDP und die CVP. Zwanzig Jahre später hatte die SVP die anderen überholt. Auf das Feindbild Jugendbewegung folgte ein Sündenbock nach dem anderen: die UNO, die EU, die Menschenrechtsverpflichtungen, die politischen Eliten, die Medien, und, auf Personen gespielt, die Sozialhilfebezüger*innen, Kosovo-Albaner*innen, Fahrende, Straftäter*innen, Städter*innen. Und immer wieder: die Geflüchteten, die Zugewanderten, von den deutschen über die eritreischen bis zu den ukrainischen. 2023 kommt als offizielles SVP-Wahlkampfthema «Gender-Terror und Woke-Wahnsinn» hinzu. Andreas Glarner und Roger Köppel dürfen hauen und stechen, beim Gendertag in Stäfa, bei der Drag-Lesung in Zürich. Sie werden sekundiert von den Rechtsextremen der Jungen Tat. Sie brauchen Slogans, die auch von Republikanern in den USA oder vom russischen Präsidenten stammen könnten. Der Gegenangriff auf die Infragestellung der binären, heteronormativen Geschlechterordnung verfängt bis in die politische Mitte hinein.
Es kam auch in diesen Fällen nicht zum Showdown: keine politische Isolation der SVP. Die FDP biederte sich umgehend wieder für Listenverbindungen an. Die (bürgerlichen) Parteien setzen der Hetze nie definitive Grenzen. Schlimmer noch: Sie leisten der SVP Zuträgerinnendienste mit Aufwallungen zum Genderstern, mit Hasenfüssigkeit in der Europapolitik, mit Verschärfungen in der Asylpolitik. Keine*r warnt mehr wie früher der BDP-Präsident Martin Landolt: «Bis zu welchem Punkt muss eine Politik noch brauner werden, bis alle merken, dass sie stinkt?»
Ich plädiere für den Bau des schweizerischen Teilstücks einer globalen Brandmauer gegen Rechtspopulismus und Faschismus. Stellen wir Koalitionen mit der SVP systematisch in Frage! Auch dort, wo sie Tradition haben. Angefangen beim Bundesrat: Es muss über eine Zauberformel ohne SVP diskutiert werden. Ich möchte die Einbindung der SVP bis ganz unten grundsätzlich zur Diskussion stellen, auch dort, wo die Zusammenarbeit bestens funktioniert, auch dort, wo die Menschen nett sind, im Gemeinderat, in der Schulkommission, in der Kirchenpflege. Bedingungen für Kooperation müssen konkrete und öffentliche Distanzierungen von rechtspopulistischen, menschenverachtenden Positionen und Aktionen aus den eigenen Reihen sein. Distanzierung von Glarner und Köppel, aber auch – und das zeigt die Dimension der Aufgabe – von der Partei, wenn sie 2023 fordert: «Es kommen zu viele und die falschen Ausländer – keine Asylverfahren mehr in der Schweiz!»
Zugegeben, es wird nicht einfach, die Gewohnheit an die Konkordanz und die eigene Feigheit zu überwinden, Klartext zu reden, die Partei von den Menschen zu unterscheiden. Ich war kürzlich an einer Sitzung mit einem SVP-Regierungsrat. Er war kompetent, stellte die richtigen Fragen, hörte auf seine Mitarbeiter*innen und dankte für das konstruktive Gespräch. Ich fand ihn sympathisch und stellte keine weiteren, grundsätzlichen Fragen.●