In den Jahrzehnten der neuen Weltordnung nach dem Mauerfall von 1989 war es ruhig geworden um Jeus als Identifikationsfigur für einen Gegenglauben gegen die Opferreligion des Kapitalismus. Seit ein paar Jahren hat er aber wieder an Präsenz gewonnen und wird öfters in künstlerisch-politischen Zusammenhängen inszeniert und neu interpretiert. Sein spannungsreiches, ja widersprüchliches Leben und vor allem sein Tod bieten dabei die schier unversiegbare Quelle für neue Lesarten. War Jesus Opfer seines eigenen religiösen Wahns, von Intrigen oder von Gewalt der römischen Besatzungsmacht? War sein Tod Teil eines göttlichen Heilsplans oder Folge seines konsequenten Einsatzes für die Armen und Machtlosen? Was auch immer die Antwort war, es ist nie gelungen ein Christentum zu etablieren, das die jesuanische Verbindung von Spiritualität und Aktion, Frömmigkeit und Zivilcourage, Vorbereitung fürs Jenseits und Einsatz fürs Diesseits ganz trennen konnte. Das heisst, wer immer Jesus «only for your heart» propagierte, musste wissen, dass andere mit ihm auch die Mächtigen vom Thron riefen, und wer immer mit Jesus «Selig die Armen, aber wehe den Reichen predigte», bekam zu hören, dass «keiner gut ist ausser Gott».
Das heisst, es gab nie eine ernsthafte Auseinandersetzung mit Jesus, die einen ganz für ihre Zwecke gereinigten Gottesmann präsentieren konnte. Das gilt für die Kirchen und ebenso für die Kunst. Letztere nimmt ihn gerne gerade wegen seiner Zweideutigkeit und Mehrfachkodierung unter Vertrag. So auch das neue Projekt Il nuovo vangelo beziehungsweise La rivolta della dignità des Theaterregisseurs und Autors Milo Rau. Dieses Projekt lotet wie viele andere vor ihm die Möglichkeiten der Figur Jesus aus, in der heutigen Zeit Gegenglaube, Gegenthese, Gegengewicht sein zu können zur herrschenden Kultur des Rassismus (Raus Jesus stammt aus Kamerun), des Zynismus (Raus Jesus ist Aktivist) und der langsamen Selbstzerstörung (Raus Jesus ist voller Hoffnung). Rau und sein Team haben sich dafür mit aufkeimenden Widerstandsbewegungen der ausgebeuteten illegalen Erntehelfer*innen in Süditalien verbündet und in den Barackenlagern um Matera herum mit den Flüchtlingen einen neuen Jesus und ein neues Evangelium als aktualisierte Verwirklichung des alten entwickelt.
Ich habe in diesem Projekt eine Art theologischen Beraterdienst versehen. Aus dieser Perspektive sind auch die nachfolgenden Überlegungen zu Aktualität und Mehrdeutigkeit der Figur Jesus zu verstehen. Die kurzen Texte beziehen sich auf Stichworte aus den vorbereitenden Diskussionen. Sie versuchen, die komplexe Persönlichkeit von Jesus, die von Sanftmut bis zuweilen unsympathischer Schroffheit, von Weisheit bis Ungeduld reicht, zu umkreisen. Sie sind theoretischer Natur und stellen keine direkten Umsetzungsideen für das Projekt dar.
In Pasolinis Film Das 1. Evangelium – Matthäus (Italien 1964) ist Jesus gleichzeitig der Softie und der bis ins Irrationale gesteigerte Eiferer: besänftigend und ängstigend. Ein Heros, der die Doppeldeutigkeit des Heiligen als Kippfigur zwischen Heilen und Einschüchtern verkörpert. Kann man sich diesen Jesus alt und geläutert vorstellen, ist sein Leben irgendwie auf Dauer gestellt? Braucht er nicht wesentlich die Verklärung der Flüchtigkeit und die Melancholie des Vergeblichen? Möchte man mit diesem Jesus unter einem Dach wohnen? Wohl kaum: Aber jederzeit könnte man mit ihm unter freiem Himmel frohlocken über die Kraft des Heiligen Geistes und seine Boten, die ziehenden Wolken.
Hat Jesus seinen Tod gesucht? Verstand er ihn gar wie Sokrates als letzte Lektion für seine Jünger? Er hat ihn nicht gesucht, aber in Kauf genommen, er hat das irdische Leben wie alle wirklich religiösen Menschen nicht als Selbstzweck gesehen, sondern als Auftrag zur Gottähnlichkeit. Wo er vom Willen des Vaters spricht, meint er diesen Auftrag, sich Gottes Ebenbild würdig zu erweisen.
Georges Casalis, ein französischer Befreiungstheologe, äusserte sich ganz ähnlich zu den Motiven der Résistance: «In der Zeit des Widerstands im Zweiten Weltkriegs lautete unsere Parole immer: Die Gründe, wofür wir leben, sind wichtiger als das Leben selbst». Auch in der widerständigen Kirche Deutschlands zitierten sie immer wieder Psalm 63.4: «Deine Güte ist besser denn Leben.» Auch der Schluss des Kommunistischen Manifest scheint direkt von diesem Pathos inspiriert zu sein: «Die Proletarier haben nichts zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.»
Die Bergpredigt bei Matthäus beziehungsweise die Feldrede bei Lukas ist vor allem ein Aufruf zur Feindesliebe, zur Heiligkeit einiger weniger, die sich quasi allein um die Gerechtigkeit der Welt sorgen müssen. Sie treibt jene jüdisch-christliche Haltung ins Äusserste, wo einerseits die Gesetze zwar das Zentrum der göttlichen Ordnung für die Menschen darstellen, letztlich aber immer nur dazu dienen können, gerade das Schlimmste zu verhindern. Und dass, wer andererseits die Welt wirklich bessern will, die Kraft zur Vergebung haben muss, die Kraft, das Böse an sich selber totlaufen zu lassen. Eine Kraft, die wiederum nur in bestimmten Situationen und immer nur wenigen gegeben ist. Die Bergpredigt stellt diese überfordernde Forderung, die aber Dank der Liebe als dem göttlichen Element im Menschen (als Kraft, die geben kann, ohne zurückzufordern) den Menschen möglich ist. Die überfordernde Forderung der Bergpredigt gilt aber stets nur als Ausnahme, die das Gesetz nicht ausser Kraft setzt. Sie darf gerade nicht als dauerhafte heroische Kompensationshandlung jenseits der Gesetze von einzelnen erwartet werden, ohne sie zu Opfern zu machen.
Eine «neue Bergpredigt» müsste diese Dimension zur Geltung bringen und vor allem den Widerstand Jesu gegen das Äquivalenzprinzip «Gleiches mit Gleichem zu vergelten» verdeutlichen. Solidarisch sein heisst daher, das zu tun, was nicht sowieso gefordert ist; heisst nicht primär Ausgleich, sondern heisst das kapitalistische Äquivalenzprinzip aufzubrechen; heisst heute, das, was in der Weltwirtschaft alle tun, oder das, was unter dem Konkurrenzprinzip alle tun, gerade nicht zu tun; kann also heissen, die ultimative Leistung in der Produktivität – die man auch als im Kapitalismus pervertierte überfordernde Forderung der Bergpredigt verstehen kann – wieder in Akten der Moral zu suchen; heisst für Schweizer Firmen, sich an höhere Standards zu halten als die anderen; für das schweizerische Asylwesen, sich zu mehr zu verpflichten als die EU leisten will; für Arbeitgeber*innen, sich nicht am Gesetzes-Minimum zu orientieren und so weiter.
Die Ethik des Teilens als sinnstiftende Geste zwischen Menschen, wie sie etwa im Abendmahl oder im Brotwunder erzählt wird, ist vergleichbar mit der sozialistischen Idee, dass das Teilen von Armut zugleich Luxus und Elend verhindert. Wo geteilt wird, bleiben zwar alle arm, aber niemand lebt in Luxus und niemand versinkt im Elend. Das Teilen in diesem Sinn schafft im Urchristentum die Gemeinde und später die Ekklesia, die ja nichts anderes als «Neue Ensembles» beziehungsweise unter den herrschenden Bedingungen im römischen Reich «unmögliche Kollektive» waren: Die Abendmahlsgesellschaft konstituiert sich im doppelten Zeichen, dass der Mensch Brot braucht, aber nicht nur Brot, sondern auch geistige Nahrung, Schönheit, Hoffnung und so weiter (passend dazu der sozialistische Slogan: «Brot und Rosen»). Es entsteht eine urchristliche, von Jesus gestiftete Mahlgemeinschaft, die ohne konkrete Umsturzabsicht die gängigen Werte ausser Kraft setzt, weil sie diese im Namen eines Grösseren geringachtet.
Jesus sagt in der Versuchungsgeschichte Mt 4.4: «Der Mensch lebt nicht vom Brot allein, sondern auch aus dem Wort». Dies steht in direktem Bezug zur Brotwunderszene in Mt 15.32, wo die Botschaft lautet: Der Mensch lebt nicht vom Wort allein, sondern er braucht auch Brot. Daran erinnert das Abendmahl, wo Wort und Brot, Vergeistigung und Verkörperung, Botschaft und Leib verschmelzen. Indem Jesus, der als obdachloser Wanderprediger seine berühmten Mahlgemeinschaften nur als Gast von anderen abhalten konnte, selber das Brot brach, brach er damit zugleich mit den herrschenden Sitten, die nur den Gastgebern das Brotbrechen erlaubten: Das heisst, der Gast legitimiert sich selber als ebenbürtig zum Hausherrn. Zu kritisieren wäre mit dieser Geste die Bezeichnung des Asylrechts als Gastrecht, ein Begriff, der anzeigt, dass man nicht vorhat, die Migrant*innen irgendwann als mit denselben Rechten ausgestattete Bürger*innen anzuerkennen.
Die Auferstehung des Gekreuzigten war nicht die Rückkehr irgendeines Toten oder eines halbgöttlichen Wesens in das Leben, wie es oft erdichtet wurde. Es handelte sich um die Behauptung, dass ein Mann, der gestern auf dem Schafott der Sklav*innen gestorben ist, als Sieger lebt und der Herr, der kyrios ist. In der römischen Sklavenhalter*innengesellschaft war diese törichte Uminterpretation, dass der Sklave durch den Glauben an die Auferstehung Herr über sein Schicksal sein kann, revolutionär. Und das Kreuz wurde vom Symbol des Martyriums der Sklav*innen zum Zeichen des Sieges.
Das Erfolgsgeheimnis der Bewegung der Ekklesia (Kirche) liegt in der Tatsache, dass sie sich kein bewusstes Ziel der Umwandlung der Gesellschaft gesteckt hat. Sie hat es aber verstanden, die Spielräume, die sich vor allem aus einem steigenden Bewusstsein der geistigen und politischen Krise in der römischen Spät-Antike ausbreitete, geschickt zu nutzen. Diese geistige Krise zeigte sich religiös in der Ausbreitung von Mysterienkulten, die sich vor allem ab dem zweiten Jahrhundert wachsender Beliebtheit erfreuten und anzeigten, dass die staatsnahen Kulte über keine sinnstiftende Botschaft mehr verfügten. Die politische Krise lässt sich in der zunehmenden Brüchigkeit der Sklavenhalter*innen-Ordnung ablesen, die durch Sklav*innenaufstände und Angst der Herren vor Aufständen gezeichnet war. Somit ist die urchristliche Bewegung sowohl universalistisch, das heisst offen und Heil ermöglichend für alle, als auch subversive Parallelgesellschaft, die die herrschende Ordnung durch Ignoranz und Orientierung auf andere Werte schwächt. Man versteht daher die Faszination für Freikirchen heute in Lateinamerika und Afrika unter den Armen nicht, wenn man nicht auch diese Dimension in Rechnung stellt. Sie bieten durch Verzicht auf Alkohol/Drogen, Sex vor der Ehe oder Gewalt in der Familie und durch strenge Ordnung im Chaos zum Teil tatsächlich ein anderes Leben als jenes, das für sie in den Slums vorgesehen ist.
*1970, ist Theologe, Dozent für Religionswissenschaft und Mitarbeiter für Theorie beim International Institute of Political Murder. Er war von 2008–2012 Redaktor bei Neue Wege.