Solidarität: Keine Frage des Drinnen oder Draussen

Matthias Hui, Geneva Moser, 27. Mai 2019
Neue Wege 6.19

Müssen FeministInnen aus der römisch-katholischen Kirche austreten? Oder können Kirchen trotz allem Orte der Freiheit und gleicher Rechte für alle werden? Unterschiedliche Perspektiven lösen sich auf, wenn es um die Veränderung des grossen Ganzen geht.

Im November 2018 haben sechs bekannte Feministinnen aus der Schweiz, darunter Sie, Doris Strahm, entschieden, aus der römisch-katholischen Kirche auszutreten. Aus Protest gegen deren Frauenfeind­lichkeit haben Sie die Medienmitteilung «Wir gehen!» verfasst. Wieso haben Sie diesen Schritt gerade jetzt getan?

Doris Strahm: Die Frage – Gehen oder Bleiben – trage ich schon seit Beginn meiner Karriere als feministische Theologin in mir. Aus Solidarität mit engagierten Kolleginnen und Kollegen bin ich Teil der Kirche geblieben. Ich nahm mir zu Herzen, was die feministische Theologin Elisabeth Schüssler Fiorenza sagte: «Wir dürfen die Definitionsmacht, was katholisch ist, nicht den Männern überlassen.» Das versuchte ich dann auch in meiner über dreissigjährigen theologischen Arbeit: eine andere Theologie mitzuentwickeln, oder wie es die Befreiungstheologie und die Linke nannten, eine andere Welt zu schaffen. Es ging um das grosse Ganze.

Weshalb spielte die Frage des Austritts jetzt doch wieder eine Rolle?

DS: Am Schluss eines Gesprächs für das «Echo der Zeit» zu den Missbrauchsfällen, das ich als Vertreterin der IG Feministische Theologinnen führte, überrumpelte mich der Journalist mit der Frage, weshalb ich noch in der Kirche bleibe. Er traf ins Schwarze. Öffentlich zu sagen, ich sei Teil dieser Kirche, die ich so heftig kritisiere, ging nicht mehr. In letzter Zeit habe ich vermehrt mit nicht-religiösen feministischen Kreisen zusammengearbeitet. Wenn ich dort über Frauenrechte und Religion spreche und gleichzeitig sage, ich sei römisch-katholische Theologin, bin ich vor mir selber nicht mehr glaubwürdig. Und schliesslich die ersten Äusserungen von Papst Franziskus, des Hoffnungsträgers für viele! Sie zeigten mir: Es mag sein, dass er in manchen Fragen progressiv ist, aber bestimmt nicht in der Geschlechterfrage. Seine Aussage, Abtreibung sei wie ein Auftragsmord, war so nur noch der letzte Anstoss, zu gehen.

Viele kritische Theologinnen und Theologen, die entschieden haben, zu bleiben, haben auf diesen Austritt reagiert. Die Verfasserinnen des Texts «Eine Kirche umfassender Gleichwertigkeit», auch Sie, Monika Hungerbühler, sind nun zu einem Gespräch mit dem Basler Bischof und dem Generalvikar eingeladen worden. Sie schreiben am Schluss Ihres neuen Forderungspapiers «Wir haben es satt!», das Evangelium sei eine Lebensfreude, die Sie sich nicht nehmen lassen wollten.

Monika Hungerbühler: Dieses marode System der römisch-­katholischen Kirche nimmt mir die Freude am Evangelium immer wieder, gerade jetzt, wo fast täglich neue Machtmissbräuche ans Licht kommen und unendlichen Reformbedarf anzeigen. Ich kann nicht einfach weiterarbeiten. Ich will mich positionieren in Bezug auf die sechs Katholikinnen, die ausgetreten sind. Ihre Position ist auch meine, und doch habe ich den Entscheid zu gehen, so nicht getroffen.

Weshalb nicht?

MH: Das hat auch biografische Gründe. Meine Herkunftsfamilie war sehr ökumenisch. Ich bin seit über dreissig Jahren in der römisch-katholischen Kirche tätig. Erstaunlich und schön: Mit meiner Haltung habe ich in der Kirche immer einen Platz gefunden, im Krankenhaus, in Pfarreien, als Leiterin der Basler Frauenstelle der römisch-katholischen Kirche, jetzt als Co-Leiterin der Offenen Kirche Elisabethen. Ich musste mich als Feministin nie verstecken. Ich kann mit meiner Arbeit das verfolgen, was ich als gutes Leben für alle bezeichne. Die Offene Kirche ist für mich ein Ort der Gastfreundschaft, interreligiös und postkonfessionell – so bezeichnen wir uns in einer Stadt, in der drei Viertel der Menschen nicht zu einer Landeskirche gehören. Hier halte ich einen Raum offen für Menschen, die den Platz in der Kirche mehr oder weniger verloren haben und dennoch gerne hierherkommen.

DS: Ich glaube auch, dass die Biografie und die berufliche Tätigkeit für unsere Haltung gegenüber der Kirche entscheidend sind. Ich arbeitete nie in der Kirche drin. Aber als eine, die die Freiheit hatte oder sie sich auch nahm, an der Uni zu forschen, Bücher zu schreiben, war ich immer mit euch verbunden, die ihr das Erforschte in eurer kirchlichen Arbeit umsetzt. Darüber haben wir ja oft diskutiert, Monika. Deshalb warst du die Erste, die erfuhr, dass ich gehe. Solange es Freiräume gibt, wäre ich die Letzte, die sagen würde: Geh jetzt! Du kannst dir auch nicht leisten, deine Anstellung zu verlieren. Und: Die Offene Kirche Elisabethen bleibt der Ort, wo ich mich religiös beheimatet fühle. Es gibt also verschiedene Wege. 

MH: Für mich sind die Freundschaft mit feministischen Theologinnen und ihre Inspiration enorm wichtig. Es ist schön, dass Leute mir sagen: Wenn es diesen Ort, wenn es dich nicht gäbe, wäre ich auch schon lange gegangen. Wir haben hier einen Geschmack davon, was möglich sein könnte. Ich fühle mich privilegiert. Und zugleich ist die Arbeit in der Kirche eine grosse Last. Ich könnte immer wieder in Tränen ausbrechen. Vieles schockiert und betrifft mich.

Esther Gisler, Sie sind reformierte Pfarrerin. Sie haben die Stellungnahmen Ihrer katholischen Kolleginnen aktiv mitverfolgt. Wo verorten Sie sich?

Esther Gisler: Ich bin ja auch einmal gegangen. Ich bin über den konfessionellen Jordan geschwommen. Bereits während des Studiums der katholischen Theologie fühlte ich mich wie im falschen Film. Ich verstand mich immer als hybride Theologin, studierte auch Ethnologie und Religionswissenschaften. In der Zeit des damaligen Bischofs Haas «für» das Bistum Chur zu studieren, war sehr konfliktiv und nicht wohltuend. Mit Macht wurde an den Universitäten verhindert, dass feministische Theologie längerfristig Fuss fassen konnte. Wir hatten die Idee, uns Haas entgegenzustellen und etwas bewirken zu können. Wir pilgerten bei der Weihe von Haas nach Chur und bildeten einen Menschenteppich, aber diese erzkonservativen Männer stiegen über uns drüber und ärgerten sich. Das war sehr emotional, und unsere grundsätzliche Frage blieb: Wollen wir überhaupt in diese Struktur rein? Können wir da etwas bewegen?

Ihre Antwort?

EG: Ich wollte in die Seelsorge und biss in den sauren Apfel. Aber nach dem Pastoralkurs verweigerte mir Haas die kirchliche Beauftragung. Ich kam dann doch noch zu einer Stelle. Aber obwohl ich bei einem als modern geltenden Priester relativen Freiraum erhielt, war auch dort alles patriarchal strukturiert. Der Pastoralassistent sagte mir, wo ich während des Gottesdiensts stehen dürfe. Ich hielt das nicht mehr aus. Wo war das Befreiende des Evangeliums? In einer Weiterbildung einige Jahre später ging eine Türe in Richtung reformiertes Pfarramt auf. Ich schwamm wieder los. Das Vikariat machte ich dann im selben Quartier, in dem ich zuvor auf katholischer Seite gearbeitet hatte.

Blicken Sie nun von aussen auf die Diskussion unter Katholikinnen? Oder sind deren Fragen auch Ihre?

EG: Absolut. Auch die reformierten Kirchen sind nicht der feministische Himmel. Ich habe allerdings Freiheit gewonnen. Und ich habe keine Angst mehr, das ist die Hauptsache. Keine Angst mehr, meine Theologie zu entwickeln, zu vermitteln, zu teilen. Ich habe keine Angst mehr, bei Vorgesetzten angeschwärzt zu werden oder eben, am falschen Ort zu stehen. Aber auch die reformierte Theologie ist im dogmatischen Bereich nach wie vor patriarchal. Feministische Theologie findet ausserhalb der Universitäten statt. In der Gemeinde benenne ich meine Position, das erzeugt Widerstand, aber auch gute Erfahrungen. Jetzt kann ich als Akteurin mitwirken und bin nicht mehr einfach Manövriermasse. Im Sitzungszimmer sitze ich unter dem Pfeife rauchenden Karl Barth. Ich halte das nicht mehr aus. Wieso kann man nicht auch Barths Partnerin Lollo dazu hängen? Oder die «Flüchtlingsmutter» Gertrud Kurz, die auch einen Bezug zu unserer Gemeinde hatte?

Damit wir Handlungsspielräume sehen, brauchen wir Hoffnung auf Veränderung. Das Positionspapier «Wir haben es satt!» spricht eine radikale Sprache. Aber für wie realistisch halten Sie es, dass sich tatsächlich etwas bewegt?

MH: Wir haben lange darum gerungen, ob wir fordern, wünschen oder bitten sollten. Wir fordern! Wir sind vom Generalvikar zum Gespräch eingeladen worden und haben uns entschieden, uns darauf einzulassen. Bereits anlässlich der kirchlichen Gleichstellungsinitiative, die 2014 in den beiden Basel mit über achtzig Prozent Ja-Stimmen angenommen wurde und deren Mitinitiantin ich war, sagte der Generalvikar, man müsse nach dem Zweiten Vatikanum über alles sprechen können. Ich muss unterscheiden, zwischen den Menschen und ihrem Amt, hinter dem sie sich verstecken und das sie gefangen hält. Interessant ist auch: Im Gegensatz zu unserem ersten Aufruf, für den wir innerhalb von wenigen Tagen die Unterstützung von dreihundert Theologinnen und Theologen erhalten haben, ist das jetzt bei «Wir haben es satt!» völlig anders. Wir sprechen konkret von einer anderen Kirche. Die Forderungen sind wohl vielen zu scharf.

Uns beeindruckt die Schönheit dieser Radikalität. Sie fordern etwa, dass die Kirche keine Männer mehr zu Diakonen und Priestern weiht, bis der Zugang zu diesen Ämtern auch Frauen offensteht.

MH: Ja, aber das schreckt offenbar auch ab. Wenn es schwarz auf weiss und ganz konkret wird, bekommen viele Angst. 

EG: Eben, die Angst …

Diese Angst ist etwas Strukturelles. Es geht um Angst vor der Macht, Angst vor Stellenverlust, Angst anzuecken.

MH: Die Angst ist die Hauptgegnerin eines Christenmenschen. Im Aufruf «Wir gehen!» haben wir Freiheit gespürt. Diesen evangelischen Geist spüre ich immer wieder, ob innerhalb oder ausserhalb der Kirche: Da brenne ich, da freue ich mich. Genau deshalb bin ich Theologin geworden, wegen Menschen, die diese Freiheit verbreiten. Das möchte ich umsetzen, ich bin Praktikerin. 

DS: Du bist nicht nur Praktikerin, du bist auch Seelsorgerin. Du erlebst Menschen vor Ort, für die deine befreienden Ideen ein Gewinn sind, Menschen, die du ermächtigen kannst. Du hast eine sinnvolle Aufgabe in der Kirche. Ich wollte an der Entwicklung einer befreienden Theologie mitarbeiten, Aufklärung betreiben. Meine Arbeit sind Vorträge, Bücher. Das ergibt andere Bindungen. Ich habe immer von aussen oder von der Grenze her auf diese Kirche geschaut. 

MH: Es ist das Patriarchat, das uns mit unseren verschiedenen Rollen teilen und trennen will. Mary Hunt bezeichnet Freundschaft als wichtige theologische Kategorie. Solidarität geht über alle Gräben hinweg. Ich bin Theologin, weil es mir wichtig ist, dass dieses Sehnen nach Gerechtigkeit Wort und Raum findet. 

EG: Die Ekklesia ist grösser als die Institutionen. 

DS: Als Elisabeth Schüssler Fiorenza von unserem Austritt erfuhr, schrieb sie: Ihr seid nur aus der Männerkirche und nicht aus der Ekklesia der Frauen ausgetreten. — Ich war nie in der Männerkirche zuhause, da bin ich nun auch formal weg. Aber in der Kirche, in der ich all die Jahre war, überkonfessionell, interkulturell, feministisch-befreiungstheologisch orientiert, da bin ich immer noch drin.

Das Befreiende ist demnach, die eigenen Identitäten und Orte selber zu definieren?

Doris Strahm: Ich habe immer deutlicher gemerkt, dass ich als römisch-katholische Theologin mit der Amtskirche identifiziert werde, auch wenn ich mich selbst nicht mit ihr identifiziere. Das wurde je länger, desto unerträglicher. Wenn der Papst heute wieder etwas Unsägliches sagt, regt mich das zwar immer noch auf, aber es ist anders. Ich kann nicht mehr mit seinen Äusserungen identifiziert werden. Das ist eine grosse innere Befreiung. 

Monika Hungerbühler: Wir hatten kürzlich einen Stand in Basel für das Elisabethenwerk des Katholischen Frauenbundes. Einige Passantinnen sagten, sie würden nicht spenden, weil die katholische Kirche für sie im Moment sehr unglaubwürdig sei. Das ist immer wieder eine Zerreissprobe: Wie kannst du Feministin sein und zugleich Angestellte der römisch-katholischen Kirche? Ich bin in diesem dualen System ja als Frau gleichberechtigt in der Landeskirche und gleichzeitig im römisch-katholischen Rechtsgebilde strukturell unsichtbar. 

Esther Gisler: Diese Situation generiert Leiden. Kürzlich hat eine SP-Regierungsrätin dieses duale System gelobt, als sei es das Ei des Kolumbus. Ich habe mich sehr geärgert. Wenn dieses System Diskriminierungen erlaubt, fühle ich mich vom Staat im Regen stehen gelassen. Diese Diskussion habt ihr in Basel ja mit der Gleichstellungsinitiative angestossen. 

MH: Ja, bei uns steht jetzt in der kirchlichen Verfassung, dass der Kirchenrat und die Sy­node die Frage der Geschlechterungerechtigkeit aufs Tapet bringen müssen. Es gibt aber bei meinen Kollegen kaum ein Bewusstsein dafür, aus evangelischen Gründen auf Macht zu verzichten. Dabei gibt es Vorbilder wie Franz von Assisi, der sich völlig entkleidet hat, auch von Macht. 

DS: Die Einsicht, dass es um Machtstrukturen geht, fehlt dem Klerus. Ich horchte schon auf, als Papst Franziskus im Zusammenhang mit den Missbrauchsfällen kürzlich von Klerikalismus sprach. Aber er meinte nicht das System zweier Stände. Er legte dem einzelnen Kleriker nahe, seine Macht nicht zu missbrauchen. So lässt sich dieses hierarchisch-autoritäre System nicht reformieren. Die Frauenfeindlichkeit ist die Basis dieser zölibatären Männerklerikerkirche; die Sexualmoral, der Ausschluss der Frauen hängen damit zusammen. Alles andere als eine sehr grundlegende «Reformation» ist Kosmetik.

Sie stehen alle auch in Beziehungen mit Menschen ausserhalb dieser Strukturen. Manche sehen die Kirche oder Religion insgesamt schlicht als Teil des patriarchalen Systems, das überwunden werden muss. Wie gehen Sie damit um? Wo ist da die gegenseitige Solidarität?

Esther Gisler: Das gute Leben für alle in der weltweiten Gesellschaft zu befördern, das kann für mich ein gemeinsamer Nenner sein.

Doris Strahm: Seit einigen Jahren arbeite ich enger mit säkularen Feministinnen zusammen. Ich beobachte, dass das Interesse am Verhältnis «Frauenrechte, Religion und Macht» steigt und dabei auch unsere theologischen Positionen wahrgenommen werden. In der Debatte wird deutlicher: Nicht alles an Religion ist Frauenunterdrückung – und auch nicht alles in der säkularen Gesellschaft Gleichstellung. Häufig steht «der Islam» im Zentrum der feministischen Kritik. Das ist problematisch. Die Missbrauchsfälle in der katholischen Kirche verschieben nun diesen Fokus ein wenig. Auch beim weltweiten Anti-Genderismus müssen wir gemeinsam verstehen, wie die katholische Kirche, evangelikale Kreise und politische Kräfte im Kampf gegen Frauenrechte zusammenwirken. Säkulare Feministinnen und kritisch-religiöse Feministinnen brauchen einander, um Frauenrechte zu verteidigen. 

Monika Hungerbühler: Kürzlich rief mich eine junge Feministin und Gewerkschafterin an. Sie sagte, ich sei mit meinem Netzwerk wichtig im Hinblick auf den nationalen Frauenstreik. Heute hat sie mich wieder kontaktiert, um anzufragen, ob sie den feministischen Mitra-Basteltag, den ich mitorganisiere, auf dem Frauenstreikportal posten soll. Das Schaffen von Verbindungen mit allen Menschen guten Willens und die Pflege von Freundschaften ist eine wichtige feministische Strategie.

Dass das Trennende ein Instrument des Patriarchats ist, zeigt sich nicht nur im Hier und Jetzt, sondern auch in Bezug auf die Geschichte: Die Ansätze unserer Vorkämpferinnen gehen vergessen, verschwinden in der Schublade. Kürzlich ist an einer Sitzung sogar der Satz gefallen, die feministische Theologie sei gescheitert, sie habe versagt. Wie beurteilen Sie das?

DS: Die Hochblüte ist weg. Vieles ist Alltag geworden. Vieles hat sich ausdifferenziert, was ich wichtig finde, aber halt auch Power rausnimmt. Und: Ich gehöre noch zu einer Generation, in der viele religiös sozialisiert sind. Wir begehrten gegen etwas auf, was uns unterdrückt und klein gemacht hat. Für die Jüngeren gilt das weniger. Es braucht jetzt wohl eine andere Sprache, um das Erbe des Evangeliums zu formulieren. Ich hoffe, dass die feministische Bewegung in neuen Formen weitergeht. 

MH: Für mich ist es toll zu wissen, dass Feministinnen jetzt auch in leitenden Positionen sind, in Gemeinden, an der Universität. Zu den Frauengottesdiensten kamen früher mehr Leute, aber es gibt sie noch, und sie bleiben der einzige Ort, wo Gott nur weiblich benannt wird. Das Fernstudium Feministische Theologie oder die feministisch-theologische Sommerakademie in Berlin laufen weiter. Was die Kirche anbelangt: Meine unterdessen erwachsenen Kinder haben ausser durch mich keinen Bezug zur ihr. Aber sie sind politisch. Dass man Allianzen schmieden und zusammenhalten muss, damit die Welt überlebt, und dass man versucht, die guten Kräfte zu finden und die zerstörerischen zu benennen, ist ihnen sehr wichtig.

Bringt der Frauenstreik der feministischen Bewegung neuen Aufschwung? Beteiligen Sie sich daran?

Doris Strahm: Ich war 2018 an der grossen Gleichstellungsdemo in Bern und fühlte mich an frühere Zeiten erinnert. Das Gefühl von Verbundensein, egal, wo du herkommst, und miteinander lustvoll auf die Strasse gehen zu wollen, wächst.

Monika Hungerbühler: Ich bin in einer Gruppe aktiv, die sich seit Anfang 2019 Gedanken macht zu einem Frauenkirchenstreik am Wochenende nach dem Frauenstreik: «Frauen*KirchenStreik: Gleichberechtigung. Punkt. Amen.»

Esther Gisler: Einen grossen Aufbruch in den Kirchen sehe ich hingegen nicht, zivilgesellschaftlich schon. In meiner Kirchgemeinde fehlt die kritische Masse, um am Frauenstreik etwas anzureissen. Es gibt im deutschsprachigen Raum keinen Lehrstuhl für feministische Theologie. Diese lebt in Nischen, an der Basis, in den Köpfen von Pfarrerinnen. Aber insgesamt wurde sie abgewürgt, das ist meine Erfahrung.

Neben dem Frauenstreik zeugt die Klimastreikbewegung von neuen Aufbrüchen. Was bedeutet dies für eure theologische Arbeit, für eure Lebensgeschichte? Geht es vielleicht dringender um Systemwandel als um Veränderung der Kirchen?

Doris Strahm: Für mich war der Ökofeminismus immer wichtig, gerade auch jener von lateinamerikanischen Theologinnen. In Vorträgen und Büchern versuchte ich, ökofeministische Theologie hier zu verbreiten, aber das wurde kaum rezipiert. Jetzt ist der Nährboden dafür da. Im Interreligiösen Think-Tank verfassten wir gerade ein Papier zu «Schöpfung und Ökologie» und wollen damit Grundlagen liefern zu einem Thema, das alle Religionsgemeinschaften verbindet. Ich spüre die Aufbruchsstimmung auch in der Frauenbewegung. Mit der #MeToo-Debatte ist gesamtgesellschaftlich etwas aufgebrochen. Der Kampf gegen Gewalt gegen Frauen ist ein Riesenthema. Das habe ich auch erlebt, als ich in Bolivien war. Wir dürfen nicht aufgeben und das weltweite Netzwerk nicht aus den Augen verlieren. 

Esther Gisler: Ja, an so vielen Orten weltweit setzen sich Frauen für ganz basale Bedürfnisse ein: Recht auf Land, Recht auf Frieden, Recht auf Freiheit von Gewalt. Das motiviert mich, ich versuche, solidarisch zu sein und mir die Frage zu stellen, wo der Ort ist, wo ich etwas bewegen kann. 

Monika Hungerbühler: Wir haben hier an der Offenen Kirche Elisabethen Projekte mit Geflüchteten. Wir wollen politisch dranbleiben und uns ganz real um Menschen kümmern. Ich habe für die Zukunft zwei Bilder aus der Bibel: Die hartnäckige Witwe aus Lukas 1, die für Gerechtigkeit kämpft. Da sehe ich die breiten Koalitionen im Frauenstreik vor mir. Das andere Bild ist die Frau aus Lukas 15, die die Drachme wiedergefunden hat und mit ihren Nachbarinnen feiert. Wir sollten unsere Kraft sehen und unsere Solidarität stärken, gemeinsam das Leben feiern.●

○Doris Strahm, *1953, ist promovierte feministische Theologin und Publizistin, Mitgründerin der feministisch-theologischen Zeitschrift FAMA, der IG Feministische Theologinnen und des Interreligiösen Think-Tank. 1999–2008 war sie Präsidentin des cfd.
doris-strahm.ch
feministische-theologinnen.ch
interrelthinktank.ch

○Monika Hungerbühler, *1959, ist als röm.-kath. Theologin und Seelsorgerin seit 2009 Leiterin der Offenen Kirche Elisabethen in Basel, zuvor war sie Leiterin der Frauenstelle der röm.-kath. Kirche Basel-Stadt und Spitalseelsorgerin. Sie war Mitgründerin der feministisch-theologischen Zeitschrift FAMA. 
monika-hungerbuehler.ch
offenekirche.ch

○Esther Gisler Fischer, *1968, arbeitet als Pfarrerin in Zürich-Seebach. Seit dem Studium der Theologie, Ethnologie und Religionswissenschaften beschäftigt sie sich mit kontextuellen Theologien aus Frauensicht, der Rolle von Frauen in religiösen und kulturellen Traditionen und Konzepten vom «guten Leben». Sie ist Mitglied der Redaktion Neue Wege.
contextus.ch

  • Matthias Hui,

    *1962, ist Co-Redaktionsleiter der Neuen Wege, Theologe und Vorstandsmitglied der Schweizerischen Menschenrechtsinstitution SMRI.

  • Geneva Moser,

    *1988, studierte literarisches Schreiben, Geschlechterforschung und Philosophie an der Kunsthochschule Bern und der Universität Basel. Sie ist Tanztherapeutin, schreibt freiberuflich und ist Co-Leitung der Neue Wege-Redaktion.