18. Dezember 2021

Wunder

Heilige Anarchistin

Judith Samson, 16. März 2023
Neue Wege 3.23

Dorothy Day war die Mitbegründerin der anarchistisch geprägten Catholic-Worker-Bewegung. Wird sie heiliggesprochen? Bereits im Jahr 2000 wurde ihr als erster Schritt von der römisch-­katholischen Kirche der Titel «Dienerin Gottes» verliehen. Ein kirchliches Gremium zur Unterstützung des Heiligsprechungsprozesses wurde gegründet. Und das für eine Anarchistin, die nicht mit Kritik an der Institution Kirche sparte – ein Paradoxon?

Weil schon zu ihren Lebzeiten ein gewisser Personenkult um sie entstand, erklärte ­Dorothy Day 1977 einem Journalisten, dass sie nicht als Heilige gesehen werden möchte: «So einfach will ich nicht abgeschrieben werden.» Denn sie war überzeugt: «Wenn du eine Heilige bist, dann musst du unpraktisch und utopisch sein und niemand muss dich weiter beachten.» Diese Sorge teilen heute die Gegner*innen der Heiligsprechung: Dorothy Day könnte auf ein Podest gehoben werden, eher um verehrt, denn um nachgeahmt zu werden.

Bevor wir tiefer in die Debatte um ihre Heilig­sprechung einsteigen, werfen wir erst einen Blick auf ihr Leben und die Catholic-­Worker-Bewegung. Geboren wurde ­Dorothy Day am 8. November 1897 in Brooklyn. Auch ihr Vater war Journalist, allerdings mit einer anderen politischen Ausrichtung als sie. Er, so schrieb sie in ihrer Autobiografie The Long Loneliness, mochte Whiskey, aber keine Ausländer*innen, Jüd*innen, Katholik*innen, Afroamerikaner*innen und Radikale. ­Religion spielte in ihrer Familie keine grosse Rolle. Aber als Kind fand sie auf dem Dachboden eine staubige Bibel und erinnerte sich an ein Gefühl der Heiligkeit, als sie sie las.

Armut und Protest

Mit ihren methodistischen Nachbarn ging sie eine Zeit lang regelmässig zur Kirche, wurde sehr fromm und liess sich in der Episkopalkirche taufen.

Schon als Zehnjährige las sie den französischen Schriftsteller Victor Hugo, den russischen Anarchisten Peter Kropotkin und den geistlichen Schriftsteller Thomas von Kempen aus dem 15. Jahrhundert. Am Ende ihrer Schulzeit lernte sie die Arbeiter*innenbewegung und die Sozialistische Partei kennen. Das wachsende Bewusstsein für Armut entfremdete sie von der Kirche, wo keine Kritik an den armutsverursachenden Verhältnissen angesagt war.

Nach einem abgebrochenen Studium der Geistes­wissenschaften begann sie für verschiedene sozialistische Zeitungen zu schreiben.

Im Frühling 1917 protestierte sie mit den Sufragetten vor dem Weissen Haus in ­Washington für das Frauenstimm- und wahlrecht und wurde festgenommen. Daraufhin gingen die Frauen in einen Hungerstreik, was ­Dorothy unter anderem deshalb durchhielt, weil sie die Psalmen betete. Aus Solidarität mit allen, die immer noch davon ausgeschlossen blieben, nahm sie selbst allerdings dieses Wahlrecht nie wahr.

«Die Geburt eines Kindes»

Während ihrer Arbeit als Krankenschwester im Ersten Weltkrieg lernte sie den Journalisten ­Lionel Moise kennen und wurde schwanger. Er riet ihr zu einer Abtreibung, weil er keine Familie gründen wollte. Dorothy beschrieb ihren inneren Konflikt und die traumatisch verlaufene Operation in ihrem Roman The Eleventh Virgin.

Schliesslich traf sie Forster Batterham, mit dem sie eine grosse Liebe zur Natur verband. Dass Forster zwar ihre politischen, nicht aber ihre Glaubensüberzeugungen teilte, führte aber bald zu Spannungen. Auch auf die Entdeckung, dass Dorothy von ihm schwanger war, reagierten die beiden ganz unterschiedlich: Sie war überglücklich, er bestürzt, wie man in diese Welt voller Gewalt und Elend ein Kind setzen könne. Als 1926 ihre Tochter Tamar geboren wurde, beschrieb sie das Glück der Geburt in einem ihrer bekanntesten und international veröffentlichten Artikel, Die Geburt eines Kindes. Gleichzeitig wurde sie so von Dankbarkeit erfüllt, dass für sie der Eintritt in die katholische Kirche eine folgerichtige Konsequenz war. Schweren Herzens beendete sie deshalb die Beziehung mit Forster, weil er als Anarchist die Ehe ablehnte, sie als Katholikin aber nicht unverheiratet mit ihm zusammen­leben wollte und konnte.

Dazu kam eine gefühlte Trennung vom aktiven Kampf für die Arbeiterrechte. Denn die katholische Kirche betonte Wohltätigkeit gegenüber den Armen, nicht aber ­soziale Gerechtigkeit, und so gab sie zunächst ihr politisches Engagement auf. Erst als sie Peter Maurin kennenlernte, konnte sie aus ihren zwei Leidenschaften, derjenigen für Gott und derjenigen für soziale Gerechtigkeit, eine Synthese bilden. Maurin verwirklichte seine «Ein-Mann-Revolution»1 ohne ­jeglichen Besitz. Er war davon überzeugt, dass die katholische Soziallehre die Essenz des Evangeliums darstelle. Als ausserordentlich belesener Pädagoge hatte er sie in kurze, sich wieder­holende Textformen gebracht, sogenannte Easy Essays. Er drängte Dorothy zur Herausgabe einer gemeinsamen Zeitung, in der diese Essays erscheinen sollten. Schliesslich willigte sie ein, aber veröffentlichte darin vor allem Artikel zu aktuellen sozialen und politischen Protesten, umrahmt von Zitaten aus päpstlichen Enzykliken und seinen Essays. In Anlehnung an den kommunistischen Daily Worker nannte sie die Zeitschrift Catholic Worker und verkaufte sie für einen Cent pro Stück.

Die Reaktion der Arbeiter*innen auf die Zeitung war allerdings ablehnend, im Gegensatz zu vielen Pfarreien, die positiv reagierten. So begannen langsam die Spenden zu fliessen.

Häuser der Gastfreundschaft

Im Juni 1933 wurden in der Zeitung drei Programmpunkte zur Umsetzung eines christlichen Kommunismus veröffentlicht: Gespräche am runden Tisch zur «Klärung der Gedanken», Häuser der Gastfreundschaft und landwirtschaftliche Universitäten zur Verbindung von körperlicher und geistiger Arbeit. Anstelle einer roten Revolution strebte Maurin nach einer grünen Revolution: Jede Gemeinschaft sollte ein Stück Land zur Selbstversorgung haben. Zu seinen Lebzeiten war die Umsetzung schwierig, aber später entstanden vor allem in den USA einige Catholic Worker Farms, von denen es heute noch etwa zwanzig weltweit gibt.

Eine Umsetzung des gastfreundschaftlichen Prinzips war auch die 1933 eröffnete Notunterkunft für Frauen in New York, nachdem Dorothys private Wohnung schon lange als Suppenküche, Kleiderkammer und Ort des Austauschs gedient hatte. Bald wurden an verschiedenen Orten in den USA Häuser der Gastfreundschaft eingerichtet, in denen Freiwillige Menschen, die aus unterschiedlichsten Gründen Unterstützung brauchten, aufnahmen. In Loaves and Fishes erzählt Dorothy, wie die Bewegung rund um die Zeitung wuchs: Junge Menschen schrieben, kochten, verkauften Zeitungen, unterstützten Streiks, betreuten Obdachlose und liessen den arbeitsamen Tag beim Singen des Stundengebets ausklingen.

Heute gibt es 139 Catholic-Worker-Gemeinschaften in den USA, zehn in Europa und vereinzelte verteilt über die ganze Welt. Inzwischen ist die Bewegung ökumenisch offen. In manchen Gemeinschaften gibt es mehrmals täglich Gebetszusammenkünfte, in einigen nur einmal am Tag. Manche leben mit Obdachlosen, andere mit Flüchtlingen. Allen gemeinsam ist immer noch die Herausgabe einer Zeitschrift oder eines Rundbriefs der jeweiligen Gemeinschaft. Verbindend ist auch das linke politische Engagement für Frieden und gegen Rassismus sowie gegen die kapitalistische Ausbeutung von Erde und Menschen. Für viele ist Dorothy Day, die selbst Kleider aus der Kleiderkammer trug und das gleiche Essen wie ihre Gäste ass, schon jetzt eine Heilige, die als Ikone die Gebetsräume schmückt.

Heiligenverehrung

Dorothy Day selbst verehrte viele Heilige und verwies immer wieder auf sie. Allerdings spielte es für sie keine Rolle, ob diese katholisch waren oder nicht. So gehörte Gandhi ebenso dazu wie Figuren aus Dostojewskis Romanen. Und so war es für sie auch selbstverständlich, im Eingangsbereich des ersten Hauses der Gastfreundschaft St. Joseph auf die eine Seite des Kreuzes die Jungfrau von Guadalupe zu stellen und auf die andere ein Bild von Che Guevara. Zu ihrer Lebenspraxis gehörte die tägliche Messe genauso wie Aktionen zivilen Ungehorsams, Suppekochen, Spendensammeln und Schreiben.

Zur katholischen Kirche hatte Day ein ambivalentes Verhältnis. Sie liebte sie als ­Kirche der Armen und auch wegen ihrer Heiligen und der Sakramente. Aber die Kirche als Institution empfand sie oft als «Skandal»: Im Laufe ihrer Geschichte sei sie oft so korrupt geworden, «dass es zum Himmel» schreie. Die Rolle der Bischöfe und Päpste sah sie sehr kritisch, weil sie sich vor allem um weltliche Macht und Geld gekümmert hätten.

Heute ist innerhalb der Catholic-Worker-­Bewegung die Meinung zur Heiligsprechung Days geteilt. Einige, wie Robert Ellsberg, der in ihren letzten Lebensjahren mit ­Dorothy Day zusammengearbeitet hat, oder ihre ­Enkelin Martha Hennessy, unterstützen den Prozess und sind Mitglied im Gremium, dass den Heiligsprechungsprozess befördert. Sie hoffen, das Verfahren so beeinflussen zu können, dass es der angehenden Heiligen gerecht wird. Andere Catholic Workers wie Brian Terrell lehnen die Heiligsprechung ab, weil sie befürchten, dass durch diesen Prozess Dorothy Days kritische Arbeit «gezähmt» und von der kirchlichen Hierarchie instrumentalisiert wird. Wegen ihrer deutlichen Kritik an der ­institutionellen Verfasstheit der Kirche vermutet Terrell, dass Dorothy Day selbst eine Heiligsprechung abgelehnt hätte.2 Er ist auch deshalb dagegen, weil damit die für ihn grundsätzlich fragwürdige Form von Heiligsprechungsprozessen, die er als autoritär, patriarchal und frauenverachtend beschreibt, legitimiert würde. Dazu kommt, dass ein solcher Prozess viel Zeit und Geld kostet. Diese Ressourcen, so meinen die ­Kritiker*innen, würden im Sinne Dorothy Days besser den Armen zugutekommen. Der hochgradig institutionalisierte Prozess der Heiligsprechung von Dorothy Day befindet sich allerdings schon in der finalen Phase.3

Die Befürchtung der Instrumentalisierung Dorothy Days für konservative Zwecke erweist sich nicht als unbegründet. So kritisierte Erzbischof José Gómez von Los Angeles im November 2021 die sozialen Bewegungen als «Pseudo-­Religionen» und nannte Dorothy Day als Gegenbeispiel. Sie habe betont, dass soziale Veränderungen mit einem Wandel des eigenen Herzens begännen, was derzeit vor allem gefordert sei.4 Auch wenn es stimmt, dass kritische Selbstreflexion und die wöchentliche Beichte für Day essenziell waren, wird damit ihre revolutionäre Rolle als Advokatin zivilen Ungehorsams aus religiösen Gründen völlig untergraben.

Ähnlich verhält es sich mit der Frage der Abtreibung. Während sie persönlich Abtreibung ablehnte, veröffentlichte sie bewusst nie eine Stellungnahme dazu. Deswegen ist es deplatziert, sie jetzt für Anti-Abtreibungskampagnen einzunehmen, wie einige konservative Kirchenvertreter das in den vergangenen ­Jahren getan haben.5

Auch wird oft ein angeblicher Kontrast zwischen ihrem Leben vor und nach der Konversion konstruiert, der so nicht existiert. So verschwieg Kardinal Dolan aus New York, der den Heiligsprechungsprozess wirksam unterstützt, als am 8. Dezember 2021 die letzte Schachtel mit Archivmaterialien für den ­weiteren ­Prozess feierlich versiegelt wurde, dass ihr Einsatz für soziale Gerechtigkeit auch nach ihrer Konversion weiterging.6 Schon 2000 betonte ­Kardinal O’Connor, dass es wichtig sei, zwischen diesen beiden Phasen in ihrem Leben zu unterscheiden. In der späteren Phase habe sie sich deutlich von sozialistischen und kommunistischen Bewegungen distanziert. Ihr inspirierendes Charisma liegt aber gerade in der Kombination von tiefer Religiosität und politischem Einsatz, die aktueller ist denn je.●

  1. Monika Schumacher-Bauer: Genossin in Christus «Your fellow worker in Christ, D. D.». Eine ekklesiologische Studie zum Leben und Werk der amerikanischen Journalistin und Sozialaktivistin Dorothy Day (1897–1980). Zürich 2016, S. 40.

  2. Brian Terrell: As Dorothy Day’s sainthood cause ­advances, this Catholic worker won’t be celebrating. In: National Catholic Reporter, 7. Dezember 2021.

  3. aleteia.org/2021/12/08/dorothy-days-cause-for-­canonization-enters-final-phase/.

  4. archbishopgomez.org/blog/reflections-on-the-church-and-americas-new-religions.

  5. nytimes.com/2012/11/27/nyregion/sainthood-for-dorothy-day-has-unexpected-champion-in-­cardinal-timothy-dolan.html.

  6. americamagazine.org/faith/2021/12/16/dorothy-day-canonization-cause-dulle-242046.

  • Judith Samson,

    Judith Samson, *1977, ist Kulturwissenschaftlerin und hat gerade ihren Bundesfreiwilligendienst in der Catholic-Worker-Gemeinschaft Brot & Rosen in ­Hamburg begonnen. Kennengelernt hat sie die ­Bewegung durch ihre Mitarbeit bei der Dortmunder Suppen­küche Kana.